BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Erster Theil. I. Abtheilung.

 

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Zwanzigstes Capitel.

 

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Das Fest zu Interlaken.

 

Dem germanischen Character ist ein großer Theil der Tugenden zuzuschreiben, die man in der deutschen Schweiz antrift. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, daß sich in der Schweiz der Gemeingeist, der Patriotismus, die Volkskraft, die Einigung in Meinungen und Gesinnungen mehr entwickelt hat, als in Deutschland. Andererseits erregt aber die Kleinheit des Staats, und die Armuth des Landes den Aufflug des Genies auf keine Weise. In der Schweiz findet man weit weniger Gelehrte und Denker, als im nördlichen Deutschland, wo das lockerer gewordene politische Band der edeln Schwärmerei des Geistes, den dreisten Systemen des Genies, die der Wirklichkeit nicht fröhnen, freieren Aufschwung gewährt. Die Schweizer sind kein poetisches Volk, und es nimmt uns mit Recht Wunder, daß der entzückende Anblick ihres Landes ihre Einbildungskraft nicht höher entflammt. Dennoch ist ein religiöses und freies Volk immer für eine Art von Enthusiasmus empfänglich, der von den gröberen Beschäftigungen des Lebens nie ganz erstickt werden kann. Ließe sich im geringsten daran zweifeln, so würde jeder Zweifel vor dem Hirtenfeste verschwinden müssen, welches im vorigen Jahre, mitten unter den Seen, zum Andenken des Stifters von Bern gefeiert wurde. [153]

Die Stadt Bern verdient, mehr als je, die Achtung und die Aufmerksamkeit der Reisenden; es scheint, als habe sie seit ihren letzten Unglücksfällen ihre vorigen Tugenden mit neuer Kraft wieder erlangt, als habe sie, nach dem Verluste ihrer Schätze, ihre Wohlthätigkeit gegen Hülfsbedürftige verdoppelt. Ihre Armenanstalten sind vielleicht die vollkommensten in Europa; das Krankenhospital ist das schönste, das einzig prächtige Gebäude der Stadt. Ueber dem Haupteingange stehen die Worte: CHRISTO IN PAVPERIBVS (Christo in den Armen). Diese Inschrift ist die allererhabenste, die ich kenne. Hat es uns die christliche Religion nicht gelehrt, daß Christus auf die Welt gekommen sey für die, welche leiden? Und wer von uns, in diesem oder jenem Zeitraum seines Lebens, ist nicht einer von den Armen an Glück, an Hoffnung, einer von den Unglücklichen, denen man im Namen Gottes beistehen soll?

Alles, in der Stadt und im Canton Bern, trägt das Gepräge einer ernsten ruhigen Ordnung, einer würdigen väterlichen Regierung. Aus jedem Gegenstand, der uns vor die Augen tritt, blickt Rechtlichkeit und Tugend hervor; mitten unter zweimalhunderttausend Menschen, die man Edelleute, Bürger oder Bauern nennt, die aber alle dem Vaterlande mit gleichem Sinne ergeben sind, glaubt man, wie im Schooße einer Familie zu leben.

Um dem Feste zu Interlaken beizuwohnen, mußte ich mich auf einem der Seen einschiffen, in welchem sich die Schönheiten der Natur spiegeln, und die am Fuße der Alpen sich gesammelt zu haben scheinen, um ihre entzückenden Ansichten zu vervielfältigen. Ein stürmisches Wetter raubte uns die bestimmte Ansicht der Berge; mit den Wolken zusammenfließend, waren ihre Massen noch schauderhafter. Das Gewitter war im Anrücken, und obschon [154] ein Gefühl des Schreckens sich meiner Seele bemeisterte, liebte ich dennoch den Blitzstrahl des Himmels, der den Hochmuth der Menschen zu Schanden macht. Wir ruhten einige Augenblicke in einer Art von Grotte aus, ehe wir es wagten, über einen Theil des Thuner Sees, der von unzugänglichen Felsen eingefaßt ist, zu setzen. An solcher Stelle war's, wo Wilhelm Tell den Schlünden trotzte, und sich an Klippen fest klammerte, um seinen Tyrannen zu entfliehen. Jetzt unterschieden wir im Hintergrunde den Berg, der den Namen der Jungfrau führt, weil noch kein Fuß eines Reisenden ihren Gipfel erklimmte; die Jungfrau ist nicht so hoch als der Montblanc, und gleichwohl zollt man ihr mehr Ehrfurcht, weil sie unzugänglich ist.

Wir kamen zu Unterseen an, und das Geräusch der Aar, die in Wasserfällen um diese kleine Stadt sich ergießt, stimmte die Seele zu schwärmerischen Eindrücken. Die große Menge der zuströmenden Fremden fand in den reinlichen, aber ländlichen Häusern der Gegend ihr Unterkommen. Es war pikant, junge elegante Pariser mit einemmale in die Schweizerthäler wie durch Zauber versetzt zu sehen; da hörten sie nichts, als das Geräusch der Waldströme, sahen nichts, als die himmelhohen Berge, und versuchten, ob sie an diesen einsamen Oertern Langeweile genug einsammlen könnten, um mit verdoppeltem Vergnügen wieder in die große Welt zurück zu eilen.

Es ist oft die Rede von einem Liede gewesen, welches mit Alp-Hörnern geblasen wird und auf die Schweizersoldaten einen so tiefen Eindruck macht, daß sie, sobald sie es hören, ihre Regimenter verlassen, und vom Heimweh ergriffen, in das Vaterland zurückkehren. Es läßt sich die Wirkung des Liedes denken, wenn es vom Wiederhall der Berge [155] begleitet wird; aber das Lied ist auch nur gemacht, um fernher zu schallen; von nahem erregt es kein angenehmes Gefühl. Würde es von italienischen Stimmen gesungen, so könnte, dünkt mich, die Einbildungskraft dadurch völlig berauscht werden; vielleicht aber würde auch dieses Vergnügen auf Gedanken bringen, die mit der Einfalt des Landes im Gegensatz stünden. Man würde vielleicht Künste, Poesie, Liebe dorthin wünschen, und doch muß man es verstehen, sich daselbst an der Ruhe und dem Landleben genügen zu lassen.

Am Vorabende des Festes zündete man Feuer auf den Bergen an. Mit diesen Feuern gaben sich vorzeiten die Befreier der Schweiz das Wahrzeichen ihrer heiligen Verschwörung. Die Feuer auf den Berggipfeln glichen dem Monde, wenn er hinter Gebirgen hervortritt und sich zugleich brennend und friedlich zeigt. Es war, als hätten sich neue Gestirne eingefunden, um dem rührendsten Schauspiele, welches unsere Erde noch aufstellen kann, beizuwohnen. Eines dieser flammenden Zeichen schien an dem Himmel selbst zu glänzen und von dort die Ruinen des Schlosses Unspunnen zu überstrahlen, das Besitzthum Berthols, des Stifters von Bern, zu dessen Ehren und Andenken das Fest angestellt wurde. Tiefe Finsterniß umgab diesen lichtvollen Punkt, und die Berge, die während der Nacht großen Gespenstern glichen, standen da wie die Riesenschatten der Todten, die man feiern wollte.

Am Tage des Festes war das Wetter mild, aber nebelig; die Natur mußte mit der Rührung aller Herzen zusammenstimmen. Der zu den Spielen abgesteckte Bezirk ist mit Hügeln umgeben, die mit Bäumen bewachsen sind, und unabsehbare Berge umkränzen die Hügel. Alle Zuschauer, wohl sechstausend an der Zahl, setzten sich auf die Abhänge der Hügel, und die abwechselnden Farben ihrer [156] Gewänder glichen von fern den bunten Blumenmatten in der Ebene. So lachend dieser das Fest verkündende Anblick war, so sehr schienen, wenn die Blicke höher stiegen, überragende Felsen, wie das Schicksal, die Menschen mitten im Vergnügen zu bedrohen. Giebt es aber unter allen Seelenfreuden eine, die rein genug sey, dem Geschicke selbst ungetrübt unter die Augen treten zu können, so war es jene.

Als alle Zuschauer versammelt und voll Erwartung waren, hörte man von fern den feierlichen Aufzug kommen, diesen wahrhaft feierlichen Aufzug, weil er dem heiligen Dienste der Vergangenheit gewidmet war. Er wurde von einer lieblichen Musik begleitet; an der Spitze der Landleute gingen ihre Obrigkeiten; die jungen Bäuerinnen waren im alten, mahlerischen Costum ihrer Cantone gekleidet; voraus getragen wurden die Hellebarden und Panniere jedes Thals, und die Träger waren Männer in grauen Haaren, völlig so gekleidet, wie man es vor fünfhundert Jahren, wie man es bei der Verschwörung auf dem Rütli war. Eine tiefe Rührung bemächtigte sich der Seele, beim Anblick dieser friedlichen Banner, von Greisen getragen. Die alte Zeit wurde durch Männer dargestellt, die in Betracht unserer so alt, in Betracht der Jahrhunderte so jung waren. Die ruhige Zuversicht, die aus ihnen strahlte, war die reine Folge ihrer Biederkeit. Mitten im frohen Feste füllten sich unsere Augen mit Thränen, wie an jenen zugleich glücklichen und gemüthtrüben Tagen, wo wir die Wiedergenesung derer feiern, die wir lieben.

Endlich begannen die Spiele, und die Männer der Gebirge und die Männer des Thals entwickelten sehenswürdige Fertigkeiten und Kräfte, indem sie ungeheure Lasten hoben, oder mit einander rangen. Ehedem machten körperliche Kräfte die Nationen [157] kriegerischer; heut zu Tage, wo Tactik und Geschütz den Sieg entsch[ei]den, sieht man in Leibes-Uebungen nur ländliche Spiele. Das Land wird von kräftigen Männern besser gebaut; aber den Krieg führt man nur mit Hülfe der Mannszucht und der Ueberzahl, und selbst die Bewegungen der Seele haben weniger Herrschaft über das menschliche Schicksal, seitdem die Einzelnen in den Massen verschwunden sind, seitdem das Menschengeschlecht wie die leblose Natur, von den Gesetzen der Mechanik geleitet zu werden scheint.

Nachdem die Spiele ihre Endschaft erreicht, und der gute Amtmann des Orts den Siegern die Preise ausgetheilt hatte, wurde unter Gezelten ein ländliches Mahl eingenommen, und man sang Lieder dem ruhigen Glücke der Schweizer zu Ehren. Während des Mahls wurden hölzerne Becher mit Wein herumgegeben, worauf Wilhelm Tell und die drei Stifter des Schweizerbundes geschnitzt waren. Es wurden mit frommer Begeisterung die Gesundheiten auf die Ruhe, die Ordnung, die Unabhängigkeit ausgebracht; der Patriotismus des Glücks drückte sich mit einer Herzlichkeit aus, die alle Gemüther durchdrang.

 

Es schmückt die Wiese sich, wie sonst, mit Blumenkränzen;

Es grünen Berg und Hain;

Wie könnte unser Herz, bei der Natur im Lenzen,

Kalt, leer und müßig seyn?  1)

 

Nein wahrlich, das Herz war nicht leer, es entfaltete sich mit Zuversicht in dieser schönen Gegend, in Gegenwart der ehrwürdigen Männer, voll [158] reiner Empfindungen und Gefühle. Eine arme Landschaft, von beschränktem Raume, ohne Luxus, ohne Glanz, ohne Macht, wird von ihren Bewohnern geliebt, wie ein Freund, der seine Tugenden im Schatten verbirgt, und sie alle dem Glücke derer weiht, die ihn lieben. Seit fünf Jahrhunderten dauert der Wohlstand der Schweiz; seit fünf Jahrhunderten zählt man mehr weise Generationen, als große Männer darin. Es giebt für die Ausnahme keinen Raum, wenn das Ganze so glücklich ist. Sollte man nicht glauben, die Ahnherren der Nation walten und regieren noch in ihrer Mitte? so sehr werden sie noch immer von ihr geachtet, nachgeahmt und immer wieder erneuert.

Die Sitteneinfalt, die Anhänglichkeit an die alten Gebräuche, die Weisheit und Einförmigkeit in der Lebensart, bringen uns der Vergangenheit näher, und rücken die Zukunft an uns heran. Eine immer gleichlautende Geschichte ist wie ein Augenblick, der aus mehreren Jahrhunderten besteht.

Das Leben fließt in den Thälern der Schweiz dahin, wie die Flüsse, die sie durchströmen; es sind immer neue Wellen, aber ihr Lauf ist immer derselbe; möge er nie unterbrocken werden! Möge dasselbe Fest oft am Fuße derselben Berge wiederholt werden! Der Fremdling staunt sie an, diese Berge, wie ein Wunder der Natur. Der Schweizer liebt sie, wie eine Zuflucht, wo die Obrigkeiten und die Väter für das Wohl der Bürger und Kinder Sorge tragen.

 

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1) Worte des Schluß-Chors, aus einem Liede voller Talent und Grazie, welches zu diesem Feste gedichtet worden war. Die Verfasserin ist Mad. Harmes, unter dem Namen von Berlepsch allgemein und rühmlich in Deutschland bekannt.