BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Germaine de Staël

1766 -1817

 

Über Deutschland

 

Dritter Theil. I. Abtheilung.

 

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Vierzehntes Capitel.

 

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Von dem Moralprincip in der neuen

deutschen Philosophie.

 

Die idealistische Philosophie zweckt ihrer Natur nach auf Widerlegung derjenigen Moral ab, [157] welche auf besonderen oder National-Vortheil gegründet ist; sie giebt nicht zu, daß das zeitliche Glück der Zweck unseres Daseyns sey, und indem sie alles auf das Leben des Gemüths zurückführt, bezieht sie unsere Handlungen und unsere Gedanken auf die Uebung der Willenskraft und der Tugend. Die Werke Kants, deren Gegenstand die Moral ist, haben wenigstens einen eben so großen Ruf, wie die, welche er über die Metaphysik geschrieben hat.

Zwei verschiedene Neigungen, sagt er, offenbaren sich im Menschen: der persönliche Eigennutz, welcher aus dem Sinnenreiz herstammt, und die allgemeine Gerechtigkeit, welche auf seinen Verhältnissen mit dem menschlichen Geschlechte und mit der Gottheit beruht. Zwischen diesen beiden Bewegungen entscheidet das Gewissen. Mit diesem verhält es sich, wie mit der Minerva, welche der Waage den Ausschlag gab, wenn die Stimmen im Areopagus getheilt waren. Haben die am meisten entgegensetzten Meinungen nicht Thatsachen zur Stütze? Würde das Für und Wider nicht gleich wahr seyn, wenn das Gewissen nicht die höchste Gewißheit in sich schlösse?

Zwischen den sichtbaren und beinahe gleichen Argumenten, welche die Umstände zu Gunsten des Guten und des Bösen darbieten, in die Mitte gestellt, hat der Mensch, um sich entscheiden zu können, vom Himmel das Gefühl der Pflicht empfangen. Kant sucht zu beweisen, daß dies Gefühl die nothwendige Bedingung unseres moralischen Wesens sey; die Wahrheit, welche allen denen vorhergegangen ist, deren Erkenntniß man durch das Leben erwirbt. Läßt es sich läugnen, daß das Gewissen unendlich mehr Würde habe, wenn man es [158] als eine angeborne Macht, als wenn man es wie eine durch Erfahrung und Gewohnheit, gleich den übrigen, erworbene Fähigkeit betrachtet? Und gerade hierin übt die idealistische Metaphysik einen großen Einfluß auf das moralische Verhalten des Menschen aus; sie schreibt dieselbe Urkraft dem Begriff von Pflicht, wie dem Begriff von Raum und Zeit bei, und betrachtet beide als unserer Natur inhärirend. Weder über das Eine noch über das Andere gestattet sie einen Zweifel.

Jede Achtung vor sich selbst und vor Anderen muß auf den Verhältnissen gegründet seyn, welche zwischen den Handlungen und dem Pflichtgesetz Statt finden. Und dies Gesetz hat nichts mit dem Bedürfnisse nach Wohlseyn zu schaffen; ja es muß dieses Bedürfnis sogar nicht selten bekämpfen. Kant geht noch weiter; denn er behauptet, der Tugend erste Wirkung sey, einen edlen Schmerz durch die Opfer zu verursachen, welche sie fordert.

Die Bestimmung des Menschen auf dieser Erde ist nicht die Glückseligkeit, sondern die Vervollkommnung. Vergeblich würde man sich die kindische Spielerei gestatten, daß Vervollkommnung Glückseligkeit sey; denn wir fühlen sehr deutlich den Unterschied zwischen Genüssen und Opfern, und wenn die Sprache dieselben Wörter zur Bezeichnung so ungleicher Begriffe gebrauchen wollte: so würde sich der gesunde Menschenverstand dadurch nicht täuschen lassen.

Nur allzu oft hat man gesagt: die menschliche Natur strebe nach Glückseligkeit. Dies ist ihr unwillkührlicher Instinkt. Aber ihr überlegter Instinkt ist die Tugend. Indem der Schöpfer dem Menschen sehr wenig Einfluß auf seine Glückseligkeit und [159] dafür unzählige Vervollkommnungsmittel gab, war unstreitig seine Absicht nicht, daß der Gegenstand unseres Lebens ein beinahe unerreichbarer Zweck seyn sollte. Widme alle deine Kräfte dem Bestreben glücklich zu seyn, mäßige deinen Charakter, wenn du kannst, also, daß du jene unbestimmten Verlangen, welche durch nichts befriedigt werden können, ganz und gar nicht empfindest; und trotz allen diesen Veranstaltungen der Selbstheit wirst du krank werden, dein Vermögen einbüssen, den Kerker zum Aufenthalt bekommen, und so wird das ganze Gebäude deiner Bemühungen durch dich selbst über den Haufen fallen.

Hierauf antwortet man: „Ich werde so vorsichtig seyn, mir keine Feinde zu machen.“ – Gut, du wirst dir keine großmüthigen Unvorsichtigkeiten vorzuwerfen haben; aber man hat bisweilen die am wenigsten Muthigen verfolgt gesehen. – „Ich werde mein Vermögen zusammenhalten, dadurch, daß ich es aufs beste bewirthschafte.“ – Ich glaube es; allein es giebt allgemeine Unfälle, welche selbst Solche nicht verschonen, die den Grundsatz haben, sich nicht für Andere in Gefahr zu bringen, und Krankheit und Zufälle aller Art verfügen über unser Schicksal gegen unseren Willen. Wie könnte demnach der Zweck unserer moralischen Freiheit das Glück dieses kurzen Lebens seyn, welches Zufall, Leiden, Krankheit und der Tod außer unserer Macht bringen? Nicht so verhält es sich mit der Vervollkommnung. Jeder Tag, jede Stunde, jede Minute kann dazu beitragen. Alle glücklichen und unglücklichen Ereignisse dienen derselben, und, welches auch unsere Lage auf Erden sey, dies Werk hängt lediglich von uns ab. [160]

Kants und Fichte's Moral hat sehr viel Aehnlichkeit mit der der Stoiker. Indeß gestanden die Stoiker den natürlichen Eigenschaften eine größere Herrschaft zu; man findet den römischen Stolz in der Art und Weise, über den Menschen zu urtheilen, wieder. Die Kantianer glauben an das nothwendige und fortdauernde Streben des Willens gegen die bösen Neigungen; sie dulden keine Ausnahmen in dem Gehorsam gegen die Pflicht, und verwerfen alle Entschuldigungen, welche jene Ausnahmen unterstützen wollen.

Kants Meinung über die Wahrhaftigkeit ist ein Beispiel davon. Mit Recht betrachtet er sie als die Grundlage der ganzen Moral. Als der Sohn Gottes sich den Logos oder das Wort nannte: so wollte er vielleicht auch in der Sprache die bewundernswürdige Fähigkeit, das Gedachte zu offenbaren, ehren. Kant hat die Achtung für die Wahrheit so weit getrieben, daß er keinen Verrath an derselben gestatten wollte, selbst dann nicht, wenn ein Bösewicht nach dem Aufenthalte unseres von ihm verfolgten Freundes in unserem Hause frägt. Er behauptet, man müsse sich unter keinerlei Umständen erlauben, was nicht als allgemeines Gesetz aufgestellt werden könne. Aber er vergißt bei dieser Gelegenheit, daß man es zu einem allgemeinen Gesetze erheben könnte, die Wahrheit nur einer anderen Tugend auszuopfern; denn sobald der persönliche Vortheil aus dem Spiele ist: so sind die Sophismen nicht mehr zu fürchten, und das Gewissen spricht über alles mit Billigkeit.

Kants Theorie in der Moral ist streng, und bisweilen trocken, weil sie die Empfindsamkeit ausschließt. Er betrachtet dieselbe als einen Reflex der [161] Sinnenwirkung, und als nothwendig zu den Leidenschaften führend, in welchen immer Selbstheit ist; eben deswegen verwirft er diese Empfindsamkeit als Führer, und stellt die Moral unter die Obhut unveränderlicher Principien. Nichts kann strenger seyn, als diese Lehre; aber dies ist eine Strenge, welche selbst dann rührt, wenn die Bewegungen des Herzens ihr verdächtig sind, und sie alle ohne Ausnahme zu verbannen sucht: wie strenge auch ein Moralist seyn möge, sobald er sich an das Gewissen wendet, kann er immer darauf rechnen, uns zu rühren. Wer zu dem Menschen sagt: „Finde alles in dir selbst,“ regt immer im Gemüthe etwas Großes auf, das mit der Empfindsamkeit selbst, deren Aufopferung er verlangt, in Verbindung steht. Indem man Kants Philosophie studirt, müssen Gefühl und Empfindsamkeit sehr wohl unterschieden werden; das erstere läßt er als einen Richter über philosophische Wahrheiten zu, die letztere betrachtet er als etwas, das dem Gewissen unterthan seyn müsse. Gefühl und Gewissen werden in seinen Schriften oft als Synonyme gebraucht; aber die Empfindsamkeit nähert sich der Sphäre der Rührungen, und folglich der Leidenschaften, die daraus entstehen.

Man wird nicht müde, diejenigen Schriften Kants zu bewundern, in welchen das oberste Pflichtgesetz geheiligt ist. Welche ächte Wärme, welche seelenvolle Beredsamkeit über einen Gegenstand, wo es gewöhnlich nur auf Beschränkung und Unterdrückung ankommt! Man fühlt sich durchdrungen von der tiefsten Hochachtung für die Strenge eines philosophischen Greises, welcher der unsichtbaren Macht der Tugend unterthan ist, einer Tugend, deren Reich das Gewissen ist, die keine andere Waffe [162] kennt, als die Reue, und keine andere Schätze zu vertheilen hat, als die innern Genüsse des Gemüths; Genüsse, zu welchen man nicht einmal durch die Hoffnung antreiben kann, weil man sie erst dann begreift, wenn man sie empfunden hat.

Unter den deutschen Philosophen haben Männer von nicht geringerer Tugendliebe als Kant, zugleich aber Solche, die sich vermöge ihrer Neigungen der Religion mehr näherten, dem religiösen Gefühl den Ursprung des Sittengesetzes zugeschrieben. Dies Gefühl kann nicht zur Natur derjenigen gehören, die zur Leidenschaft werden können. Seneka hat die Ruhe und die Tiefe desselben geschildert, als er sagte: „Gott wohnt in der Brust des tugendhaften Mannes; zwar weiß ich nicht, welch ein Gott, aber es wohnt ein Gott darin.“

Kant hat behauptet, es störe die uneigennützige Reinheit der Moral, wenn man den Handlungen die Aussicht auf ein künftiges Leben zum Endzweck gebe. Mehrere deutsche Schriftsteller haben ihn in dieser Hinsicht vollkommen widerlegt; und in Wahrheit, die himmlische Unsterblichkeit hat nichts gemein mit den Strafen und Belohnungen, welche man auf dieser Erde begreift; das Gefühl, welches uns zur Unsterblichkeit hinleitet, ist eben so uneigennützig, als das, wodurch wir bewogen werden, unser Glück in der Aufopferung für Anderer Glück zu finden. Denn der erste Genuß der religiösen Glückseligkeit ist die Verleugnung unserer selbst; sie entfernt also nothwendig jede Art von Selbstheit.

Was man auch thun möge, man muß darauf zurückkommen, daß man anerkennt, die Religion sey das Fundament der Moral; nur der fühlbare und wirkliche Gegenstand in unserm Innern kann [163] unsere Blicke von äußerlichen Gegenständen abwenden. Wenn das Mitleid nicht erhabene Rührungen verursachte, wer würde selbst die allergemeinsten Freuden der kalten Würde der Vernunft aufopfern? Die innere Geschichte des Menschen muß man mit der Religion oder mit der Sinnenrührung beginnen; denn nur die eine und die andere sind lebendig. Die auf den persönlichen Eigennutz gegründete Moral würde eben so evident seyn, wie eine mathematische Wahrheit, und doch nicht mehr Herrschaft über die Leidenschaften ausüben, welche alle Berechnungen unter die Füße treten; nur ein Gefühl kann über ein Gefühl triumphiren, und die gewaltsame Natur nur durch die exaltirte beherrscht werden. In solchen Fällen hat die Vernunft große Aehnlichkeit mit Lafontaine's Schulmeister; keiner hört ihn, und alle schreien um Hülfe.

Jacobi hat, wie ich in der Zergliederung seiner Werke zeigen werde, die Argumente bestritten, deren sich Kant bedient, um das religiöse Gefühl nicht als Grundlage der Moral zu gestatten. Er glaubt im Gegentheil, die Gottheit offenbare sich jedem Menschen insbesondere, wie sie sich dem menschlichen Geschlecht offenbart habe; nemlich, wenn Gebete und Werke das Herz vorbereitet haben, die Gottheit zu begreifen. Ein anderer Philosoph behauptet: die Unsterblichkeit beginne schon auf Erden für den, welcher den Geschmack nach ewigen Dingen in sich selbst wahrnimmt, und darnach strebt. Noch ein Anderer, daß die Natur dem Menschen den Willen Gottes verkündigt, und daß im Universum eine seufzende und eingekerkerte Stimme sey, welche ihn auffordert, die Welt und sich selbst durch Bekämpfung des Princips des Bösen [164] unter allen seinen verderblichen Gestalten zu befreien. Diese verschiedenen Systeme hängen mit der Einbildungskraft jedes Schriftstellers zusammen, und werden von solchen angenommen, die mit ihm sympathisiren. Allein die allgemeine Richtung dieser Meinungen ist immer dieselbe; nemlich die Seele von dem Einfluß äußerlicher Gegenstände zu befreien , die Herrschaft über uns in uns selbst zu gründen, dieser Herrschaft die Pflicht zum Gesetz und ein anderes Leben zur Hoffnung zu geben.

Unstreitig haben alle wahre Christen zu allen Zeiten dieselbe Lehre gepredigt. Was die neue deutsche Schule unterscheidet, ist, daß sie mit allen diesen Gefühlen, die nur das Erbtheil der Einfältigen und Unwissenden seyn sollten, die höchste Philosophie und die positivsten Kenntnisse vereinigt. Das stolze Jahrhundert hatte uns gesagt, das Raisonnement und die Wissenschaften zerstörten alle Aussichten der Einbildungskraft, alle Schrecken des Gewissens, allen Glauben des Herzens, und man erröthete über die Hälfte seines Wesens, welches für schwach und wahnsinnig erklärt war. Da aber kamen die Männer, welche durch anhaltendes Denken die Theorie aller natürlichen Eindrücke gefunden haben, und weit entfernt, dieselben ersticken zu wollen, haben sie uns zur Entdeckung der edlen Quelle verholfen, aus welcher sie sprudeln. Die deutschen Moralisten haben das Gefühl und den Enthusiasmus von der Geringschätzung einer tyrannischen Vernunft befreiet, welche alles, was sie zerstört hatte, als ihre Reichthümer betrachtete, und den Menschen und die Natur auf das Bette des Procrustes legte, um von beiden wegzuschneiden, was die materialistische Philosophie nicht fassen konnte.