BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Clemens Brentano

1778 - 1842

 

Gedichte 1820 - 1833

 

1829

Neuedition von Friedrich Spees «Güldenem Tugendbuch».

In dem von Melchior Diepenbrock herausgegebenen Almanach

«Geistlichen Blumenstrauß aus spanischen und deutschen Dichter-Gärten»

erscheinen anonym Gedichte von Brentano und Luise Hensel.

 

_______________________________________________________________________

 

 

 

Fibelsuschen.

(Dieses Ereignis hat sich im vorigen Jahr

in Schottland zugetragen)

 

 

Einundzwanzig kleine Mädchen

Drängen sich auf schmalen Bänken,

In der Mitt auf seinem Stuhle

Hält der Meister ihnen Schule

Lehrt sie beten, lesen, denken.

 

Aber heute darf er schenken

Ihnen stillen Fleiß zu lohnen,

Was dazu an milden Gaben

Fromme Leut gespendet haben,

Deren viel im Städtchen wohnen.

 

Sind es kleine Ehrenkronen

Bunte Bänder? Seidne Tücher?

Kuchen, Zuckerwerk und Pflaumen?

Nichts für Eitelkeit und Gaumen?

Zwanzig neue Fibelbücher.

 

Schöne goldne Fibelbücher,

Durch und durch zum Wohlgefallen,

Prangend auf dem Deckelschilde

Mit des Jesuskindes Bilde,

Wie es lehrt in Tempels Hallen.

 

Meisters Hand verteilt sie allen

Zwanzigen und nur das eine

Kleine Mädchen in der Ecken

Wagt die Hand nicht vorzustrecken

Kriegt von allen Fibeln keine.

 

Was damit der Meister meine!

Vorbedachten strengen Willen?

Prüfung, Strafe für Vergehen?

Ob er sie nur übersehen?

Quält Susannchen sich im stillen.

 

Aber wer soll ihr's enthüllen,

Denn sie schweigt, bis Glöcklein klinget,

Kinderchen in dichten Haufen

Trippelnd aus der Türe laufen,

Jede froh nach Hause springet,

 

Jubelnd ihre Fibel bringet,

Denket keine an Susannen,

Sah es niemand, wie vor Schmerzen

Im zerrissnen Kinderherzen

Ihre heißen Tränen rannen.

 

Fragt auch Mutter nicht, von wannen

Ihr das stumme Leid gekommen,

Vielgeplagt von andern Sorgen.

Keine Klage heut und morgen

Von Susannchen wird vernommen.

 

Ferne sitzt sie bang beklommen,

Wenn die andern neu beflissen

Lesend schöne Bücher halten,

Blättert sie in ihrem alten,

Das ist schmutzig und zerrissen.

 

Lieber Nachbar wir vermissen

Süßchen schon seit vielen Stunden –

Frau, ich hab eu'r Kind gesehen

Früh zum Gartenbrunnen gehen,

Später war sie dort verschwunden.

 

Nichts am Brunnen wird gefunden,

Als ihr Hut, die Fibel drinnen,

Mit dem Blatt, worauf geschrieben,

Wie ein Traum sie hat getrieben

Zu verzweifelndem Beginnen.

 

Gestern träumte meinen Sinnen

Daß mich Vater an den Haaren

Zog empor aus Brunnentiefe,

Daß ich dann im Sarge schliefe

Hochgetragen auf der Bahren.

 

Kinder weißgeschmückt in Paaren

Folgend Klagelieder sangen

Alle mit dem neuen Buche

Meines auf dem Sargestuche

Sah ich neu und golden prangen.

 

In Erfüllung ists gegangen,

Vater steigt zum Brunnen nieder,

Findets liebe Kind und bebend

An dem blonden Haar es hebend

Bringet er's als Leiche wieder.

 

Als sie nun die starren Glieder

Unter Jammers stillem Weinen

Eingefaßt von Blumenketten

In dem kleinen Sarge betten,

Kommen weißgeschmückt die Kleinen.

 

Zum Geleit sich zu vereinen,

Alle mit dem neuen Buche,

Wallen sie gereiht in Paaren,

Folgen mit Gesang der Bahren,

Schauen nach dem Fibelbuche,

 

Das auf schwarzem Sargestuche

Golden strahlt, zum Wohlgefallen

Prangend auf dem Deckelschilde

Mit des Jesuskindes Bilde,

Wie es lehrt in Tempels Hallen.

 

Entstanden 1829 (Boëtius 1985)

 

 

*

 

Ein armer Tor lebt ausgeschlossen

Draus vor der Stadt bei einem Baum.

Er dient den Reisenden zum Possen,

Nickt für die trockne Rinde kaum.

 

Doch von der Sonne Steigen, Neigen,

Bis zu der Sonne Niedergang

Schwingt er sich an den Palmenzweigen

Mit ewig heiligem Gesang. –

 

Er singet nur die beiden Worte

Ave Maria fort und fort,

Aus seines Mundes frommer Pforte,

Kam niemals noch ein andres Wort.

 

Und als er endlich ausgeschwungen,

Am Abend bei dem Palmbaum lag,

Hat er schon sterbend noch gesungen

Ave Maria bis zum Tag.

 

Es nahten sich des Weges Boten,

Erstaunt, weil sich der Tor nicht schwang,

Und scharrten bald den armen Toten

Am Baume ein ohn' Sang und Klang.

 

Ein Schwätzer, der ihn oft verlachte

Reist eine Zeit nachher vorbei,

Und naht dem Baume stolz und dachte,

Was half sein Schwingen und Geschrei.

 

Da spielt ein Wehen in den Zweigen

Auf jedem Blatt der Schwätzer sieht

Ave Maria steigen, neigen

Mit goldner Schrift des Toren Lied.

 

Es fasset ihn das Liebeswunder,

Er kündet es der ganzen Welt,

Und macht zum Gruß viel Herzen munter,

Und hat viel Schwätzen eingestellt.

 

Nach unsers Heilands wahren Worten

Selig die Armen in dem Geist

Der arme Tor, der selig worden

Der selige Solinus heißt. –

 

Nach der Erlösung seufzt und ringet

Mit uns sich alle Kreatur –

Nur wer treu wie Solinus singet,

Der löst die Fesseln der Natur.

 

O Seligkeit der beiden Worte

Ave Maria fort und fort,

Erlösend tönst du im Akkorde

Gott, Mensch, im fleischgewordnen Wort.

 

Entstanden 1829 (Kemp 1978)