BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Ludwig Rellstab

1799 - 1860

 

Die Dampfschiffahrt auf dem Rhein

Eine Jeremiade

 

1836

 

Textgrundlage:

Empfindsame Reisen,

Zweites Bändchen

von Ludwig Rellstab

Leipzig: F. A. Brockhaus 1836

Faksimile: Google

Digitale Version: Irmgard Bock

 

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Die Dmpfschiffahrt auf dem Rhein.

Eine Jeremiade.

 

 

O wenn ich doch der Welt ihre Thorheit, ihren Unsinn, ihre Raserei begreiflich machen könnte! Aber hier sitze ich, eine männliche Kassandra, Namens Ludwig Rellstab, und habe die Wahrheit allein verschluckt, und prophezeihe, daß mir die Adern am Halse blau anschwellen, aber Niemand glaubt, und am Ende ich selbst nicht. Die Welt freut sich über die Vervollkommnung durch die Dampfschifffahrt, und hofft auf die durch die Eisenbahnen! Ueber diese will ich später noch speciell jammern und meine Jeremias-Cantate anstimmen, hier aber schon etwas im Allgemeinen!

Seht Ihr denn nicht, Europäer, Amerikaner, Asiaten – denn Ihr alle seid betheiligt – wie abscheulich die Erde erst sein wird, wenn die Eisenbahnen überall quer hindurch und etwa die 5400 Meilen um den Aequator laufen, und die Dampfschiffe über den Ocean kreuzen, wie durstige Schwalben über einen Teich? – Ich meines Theils kann mir nichts Gräßlicheres vorstellen, als diese Erdenhölle, und kommt es dahin, so ist mir's klar, daß diese Zeit die wahre Frucht des Sündenfalles, die vollständige Vertreibung aus dem Paradiese ist.

Schalle laut mein Klagelied Jeremiä! -

Schon eine Chaussée ist ein Gräuel. Das Rasseln, Toben, der Staub wären noch zu ertragen; aber dieser ewige, von Judas Ischarioth ge­stachelte Verkehr der Geldgier, die ihr Nutzen und Industrie nennt, dieses Verwandeln der einsam hehren Natur in eine vertrackte Renn­sbahn für Pöbel, Ochsen, Pferde, Esel, dieses polypenartige Ausdehnen der Chaussée-Arme, um alles nach der Hauptstadt, auf ihren Markt voll Getöse und Sünde zu ziehen das, o Menschengeschlecht, ist der Erb­fluch, der auf den Chausséen ruht.

Schalle lauter, mein Klagehymnus, schalle Fortissime!

O, wie habe ich oft Johannes von Müller um seinen Wohnort in Bern beneidet, da er schreibt: „Eine Viertelstunde von Bern ist es schon ganz wild.“

Dieser Glückliche! Nur 1250 Schritt – so viel thut man in einer Viertelstunde – brauchte er zu gehen, um von der Berner Sipp- und Gevatterschaft, von dem Patrizier-Kehricht und dem hohen Raths-Plunder, von dem Landammann-, Venner-, Heimlicher- und anderm Gerümpel, von der staubigen Polterkammer-Trödelwaare der Kaffee- und Thee-Clubbs, mit und ohne Reifröcke, erlöst zu sein, und auszuruhen an der heiligen Brust der Natur, beschirmt von dem Fittige der Einsamkeit, erhoben durch das hehre Antlitz der Felsen, Wälder und Ströme!

Welch eine Wollust, keines Menschenfußes Spur mehr zu erblicken – ich sähe oft lieber die des berüchtigten Pferdefußes, – und vollends nichts von Menschenhand, von dieser vorwitzigen, kleinkrämerhaften Hand, mit der er die Natur behandwerkt!

Und seht Ihr denn nicht, Christen, Juden, Mohammedaner, Heiden – denn über Euch Alle erstreckt sich das drohende Unheil daß dieses Glück der beschaulichen Einsamkeit ganz aufhört, wenn erst Dampfschiffe und Eisenbahnen ihr verderbliches Netz über den ganzen Erdball gewebt haben? – Schon jest, wenn ich von Berlin aus nur bis in eine tröstende erquickende Natureinsamkeit (eine erhabene Wildniß ist nirgends mehr zu finden) spazieren gehen will, brauche ich zwei Stunden, und dann ist's doch immer nur so eine Art von plattirter Einsamkeit, der man nicht scharf zu Leibe gehen muß, weil man sonst gleich wieder auf das ordinäre Grundmetall stößt. Man darf zum Beispiel nicht laut schreien, ja nur niesen, so dringt der Schall bis ans Ende der Wildniß, und irgend ein Naseweis ruft aus der wirbelnden Staubwolke des Verkehrs heraus: „Prosit, Herr Bruder!“

Verwünscht! – Und doch ist Berlin ein Himmel gegen eine Höllenstadt wie London, wo ich nicht eher auf einen einsamen Fleck komme, auf welchem noch ein Büschel wild gewachsenen Mooses oder Farrenkrauts zu treffen ist, als bis ich mit der Schnellpost bis in die Hochlande gereist bin. Es sei denn, daß irgend ein englischer Lord, der eine urbar gemachte Gegend zum Wüstmachen angekauft hat, mir gestatte, mich in seinem seit zehn und mehr Jahren frisch angepflanzten Urwald von fünfhundert Schritten Länge und Breite zu begeben, und dort eine volle Stunde einsam zu sein, so lange die Predigt dauert.

Jetzt laßt nur die Dampfschifffahrt und die Eisenbahnen erst in Gang kommen, und Ihr werdet sehen, wie bald die ganze Erde, von den Eiswüsten des Lenastromes bis in die glühenden Sandmeere Afrikas, von den Steppen Asiens bis zu denen von Orinoko, von den Rennthiermelkereien der Lappen bis zu den Bivouaks der Hottentotten, so mit Cultur lackirt ist, daß ihr sie in Nürnberg auf den Markt bringen könntet.

Wer dann einen einsamen Spaziergang machen will, dem bleibt nichts übrig, als ein halb Loth Pulver und zwei Loth Blei zu nehmen, und sich damit in die Einsamkeit des Weltraums hinauf zu sprengen – und das habe ich wahrlich vor, wenn ich den Jammer erlebe.

Schalle laut, lauter, am lautesten, du mein Jeremias-Rabengekrächze!

Den Vorschmack von dieser künftigen Hölle habe ich erfahren, und will Euch eine Beschreibung davon geben. Ihr genießt etwas davon, wenn Ihr eine Dampfschifffahrt auf dem Rheine macht. Im wahren Tollheitsschwindel freut sich das Volk darüber! Es jubelt, daß es von Mannheim bis Köln in einem Tage fahren, und dabei schlafen kann. Also je schneller, je besser! So wollte ich doch, daß ich Euch, falls Ihr eine Vergnügungsreise machen wolltet, aus einer Kanone bis ans Ziel schießen könnte, so daß Ihr in neunzehn Minuten von Berlin nach Wien flöget, und den Doppel-Vortheil hättet, nicht nur unter Weges nichts zu sehen und zu genießen, sondern am Ort der Ankunft vollends nichts.

Und dennoch ist die Reise eigentlich immer noch langsam, da sie bis zur Sonne doch 21 Jahre dauerte! -

Läugnen will ich's nicht, daß der Schwindel des Neuerungsgeistes auch mich gepackt hatte, und ich vor drei Jahren ganz erfüllt von der Wonne der Dampfschifffahrt auf dem Rheine war, wie Ihr im ersten Bändchen dieser empfindsamen Reisen lesen könnt, was drei Jahre früher geschrieben und gereist ist. Jetzt aber bin ich zur Erkenntniß gekommen, denn das Uebel ist seitdem gewachsen, und die artige Eidechse, mit der ich spielte, ist zum Krokodill, das mich fressen will, aufgedunsen.

Ich will nicht einmal in einem Tage von Mannheim nach Köln fahren, sondern in Absäßen, weil ich zu Mainz und Bonn einmal essen und schlafen möchte. Ich denke das ist eine wahre Brautfahrt an Schönheit und Annehmlichkeit; aber hört.

Schalle lauter u. s. w.

Wir sitzen zu Mannheim im Schützenhof am Tisch. – Um zwei Uhr geht das Dampfschiff ab – Hm! Es schlägt ein Viertel, und noch ist das Rindfleisch nicht servirt. Ein Dutzend Tischgäste macht die Fahrt mit. Alle sehen von Minute zu Minute nach der Stubenuhr, die im Speisesaale steht, und dann nach ihrer eignen Taschenuhr. Sie schlucken ungekaute Bissen hinunter, um nur rasch fertig zu werden. Sie essen mit der Angst eines armen Sünders, der zur Hinrichtung abgeführt werden soll, und zu spät zu kommen fürchtet. Zum Teufel! Halb zwei Uhr, noch kein Gemüse herumgegeben. Wir werden hungrig ins Schiff steigen müssen! Endlich kommen die Kellner mit den Schüsseln. In der Angst, von Fisch, Mehlspeisen und Braten nichts zu erwischen, häufen die Reisenwollenden (hätte doch der Deutsche ein brauchbares Participium futuri statt der Dampfschiffe) wahre Heuschober von Gemüse auf ihre Teller, und bedecken sie mit Coteletten, Würstchen und dergleichen mehr wie ein Urgebirge mit Granittrümmern!

„Meine Herren!“ tönt plötzlich eine laute Stimme von der Thür her, „meine Herren und Herrschaften, es ist die höchste Zeit!“ Es ist der Hausknecht mit dem Karren, der das Gepäck nach dem Dampfschiffe fährt. Vor Schrecken bleiben sämmtliche ganze Gebisse in den halben Coteletten stecken, zwanzig Stühle scharren und knarren zugleich, es entsteht ein Aufruhr, ein Durcheinanderrennen, als sei eine Feuers­brunst ausgebrochen; jeder fragt, lärmt, schreit: „Meine Rechnung! Was bin ich schuldig! Zwei Couverts und eine Flasche! Wo ist mein Koffer! Kellner, auf meinem Zimmer liegen noch die Mäntel! Sind meine Sachen schon eingepackt? – O, mein Gott! meine Rechnung! – Wo geht's hinunter? – Ich gehe voran, vergessen Sie meinen Mantelsack nicht!“ –

Ein Schwarm von Reisenden drängt sich um den Wirth, um die Kellner, um den Hausknecht. Jeder will zuerst bezahlen, zuerst nach seinem Gepäck sehen! man drängt sich darnach wie über die Brücke der Beresina. „daß ich tausend Zungen hätte“, intonirt der Wirth, „um Allen zugleich zu antworten!“ Aber zuvor tausend Ohren, um Alle zu hören, Theuerster, wäre zweckmäßiger! Endlich packt der Hausknecht die Gabel des Karren, wuchtet sie empor, und ruft: „Vorwärts!„ Durch diesen Staatsstreich macht er allen Reclamationen auf der Stelle ein Ende, und überläßt es denen, die ihre Mantelsäcke noch nicht in den Schlund seines Fuhrwerks geworfen haben, sie selbst ans Schiff zu schleppen.

Er ist taub gegen jeden Angstruf, der hinter ihm herschallt; „Halt, Hausknecht, wartet doch, hier ist noch ein Koffer!“ Umsonst, das Rad seines Karrens ist das Rad des Schicksals, es rollt unaufhaltsam fort, und er, der Schicksalsgott marschirt im Sturmschritt hinterdrein; wirklich im Sturmschritt, denn das Terrain senkt sich nach dem Rheine zu, und der Karren folgt dem beschleunigenden Gesetz der Schwere. Die Caravane der Reisenden keucht, ächzt, tobt und flucht hinterdrein; sie läuft sich außer Athem, aber sie muß wohl, denn der Satan von Hausknecht wendet jeden Augenblick um eine Ecke, und wer ihn nicht ganz aus dem Gesichte verlieren will, muß ihm dicht an der Ferse bleiben. Die Mittagssonne brennt herab; die hellen Häuser, das weiße Straßenpflaster lassen den Sonnenstrahl blendend und mit verdreifachter Hitze zurückprallen. Mannheim gleicht einem Ofen mit weißglühendem Eisen gefüllt. Die Bleikammern sind Eiskeller dagegen. Der lechzende, schwerathmende Schwarm, der dem Triumphwagen des Hausknechts folgt, wird immer länger und tröpfelt merklich ab nach hinten zu.

Unglückliche, die etwas vergessen haben, bilden die Arriergarde und keuchen so nach, als säße ihnen der Feind im Rücken, während er doch vor ihnen agirt. Ja, behielte man nur Athem, man würde gewiß vor Jubel außer sich sein über diese Wonne und laut singen:

„Welche Lust gewährt das Reisen!“

Da ist der Rhein! Endlich! dem Himmel sey Dank! Da liegt noch das Dampfschiff. Es ist noch nicht fort. „Te laudent Coeli et terra!

Geduld, nur noch kein Tedeum angestimmt! Habt Ihr denn schon Billets gelöst? Und wenn Ihr diese habt, habt Ihr schon Platz auf dem rauchenden Ungeheuer? Und habt Ihr diesen, habt Ihr dann auch Euer Gepäck wieder? -

Diese drei Fragen werden jetzt in lebhafter, aber nicht blos mündlicher, sondern viel mehr körperlicher Debatte verhandelt werden.

Zur Linken steht ein kleines Häuschen. Es ist das Comptoir. Nimmermehr! Es muß ein Bäckerladen, ein Brotscharren sein, und eine Hungersnoth am Rhein wie 1817, sonst könnte die Thür nicht so belagert werden! Wahrlich! die Leute stürmen die Barake – nur um ihr Geld los zu werden. Wer ein Paar tüchtige Widder (Arietes) in seinen Ellenbogen besigt, der mag es wagen, hier Bresche zu legen. Ich rücke an wie ein Sturmbalken. Holla! He! Zwei Karten nach Mainz! – Doch wehe! Mit mir zugleich schreien hundert Stimmen: „Nach Mainz! Nach Coblenz! Nach Worms! Nach Cöln!“ – Die Kassirer haben eine Seele von Eis und Marmor. Alles zerreißt sich um sie her; sie bleiben kaltblütig und langen mechanisch phlegmatisch einen Zettel nach dem andern hinaus! Drei Mal arbeite ich mich bis an den Zahltisch; drei Mal werde ich von der Fluth zurückgeworfen. Jener Unglückliche hat sein Geld hingelegt, bevor er die Karte zwischen den Fingern fühlte. Eine Sturmfluth schleudert ihn plötzlich weit ab, und ein anderer, ein Hay- oder Wallfisch, oder sonstiger Kaper schnappt seine Karte weg! Allarm! Geschrei! Wuth! Jetzt wankt auch die Festigkeit der Commissarien! Ihr Gedächtniß trügt sie. „How much ein Plätz bis Mentz?“ fragt ein Engländer. „Zwölf Thaler!“ Er bezahlt bis Cöln. – Ein Andrer, der nach Cöln will, zahlt drei Thaler und jubelt still. – Endlich lächelt mir das Glück. Ich werde mein Geld los, lasse die paar Zwanziger, die ich heraus bekommen soll, willig im Stich, und rette mich aus dem Kampfgetümmel!

„Welche Lust gewährt das Reisen!“

stimme ich jetzt selbst an, da ich wieder freie Luft athme. –

Man läßt mich nun auf der schmalen Brücke passiren, die nach dem Dampfschiffe übergebaut ist. – Wo nehmen wir nun am besten Platz? – Wo ist unser Gepäck? Dies sind jetzt die Pole, um die die Existenz des Dampfschiffreisenden sich dreht.

Trostlos werfen wir unsre Blicke umher, denn jedes Fleckchen, wo sich's noch gemächlich sitzen ließe, ist schon besetzt, nur dicht bei der Hölle, wo die Dampfröhre glüht und der Ruß uns in fünf Minuten völlig schwarz einpudert, sind noch einige Sitze frei; – allein da mag der Teufel sitzen, lieber will ich stehend von Mannheim bis Mainz reisen. Noch habe ich die Hoffnung, mir aus Koffern und Mänteln eine Reiseottomane zu bereiten. Aber wie diese erreichen? Himmel, erbarme dich! Alle Hausknechte Mannheims haben ihre Karren auf einen Haufen umgestülpt, und Koffer, Felleisen, Mantelsäcke, Tornister, Reisesäcke, Vorrathsbeutel, Nachtsäcke, Pompadours, Mäntel, Enveloppen, Sürtouts, Pelze, Reiseshawls, Mützen, Mappen, Körbe, Stöcke, Regenschirme, Brabanter Hemden, Phantasiekittel, Reise-Coats, Fußsäcke, Schlafröcke, Pfeifen, Hutfutterale liegen übereinander, als sei hier die Beute Trojas oder Karthagos aufgehäuft. Eine schwarze, fluchende, tobende, arbeitende, wirthschaftende Corona von Reisenden, Männern, Frauen, Dienern, Schiffsleuten, drängt sich um den Gerümpel-Chimborasso; und Jeder kehrt das unterste zu oberst, um seinen Bettel von Reisehabseligkeiten heraus zu rupfen. Jener furiose Engländer stürzt sieben Koffer übereinander, daß die Deckel aufspringen, um seine Nachtmütze zu retten, ein windiger Franzose ruft dreißigmat in einem Athemzuge morbleu! und hängt sich endlich den besten Mantel um, weil er seine schabige, lumpige, blaue Blouse nicht sogleich vorfindet. Die Herren verlangen ihr Gepäck von den Hausknechten, diese ihr Trinkgeld von den Herren; die Matrosen rennen Alles über den Haufen; Zank, Geschrei, die Glocke läutet zur Abfahrt, die Maschine ruckt an, das Schiff fängt an zu dröhnen und zu zittern; vom Lande wollen noch einige Verspätete hinein, vom Schiff noch einige Packenträger, Hausknechte oder begleitende Freunde zurück; am Eingang ein Gedränge wie am Thore des griechischen Lagers, als Hektor es stürmend aufsprengt; Halt, Halloh, Stop! Boy! Haarup! Geschwind! Hier! Plas da! Donnerwetter! – So schmetterte Angst-, Schlacht- und Commandoruf durcheinander. – Endlich brausen die Räder, die Schaufeln peitschen den Strom, das Schiff bewegt sich vorwärts. Plötzlich theilt ein Wehgeschrei die Lüfte, und alles fliegt nach einer Seite. Ein verspäteter Hausknecht, der nicht mehr zurück konnte und einen zu kühnen Sprung wagte, ist in den Rhein gestürzt! Hilf Himmel! Rettung! Zwei Secunden später Jubel und Gelächter, denn der Schelm kann vortrefflich schwimmen, er taucht auf, ruft Halloh, wirft seine Mütze aus dem Wasser in die Luft, und plätschert unter dem Gelächter und Zuruf der Menge bis an den nächsten Fischerkahn, wo man ihn wie einen nassen Pudel aus dem Wasser zieht. Das frische Bad am heißen Augusttage hat ihm behagt. – Ist das aber ein aliquoter Theil einer Jeremiade? – Nur Geduld, es geht gleich wieder los; solch ein Intermezzo brauche ich, um Euch die Nerven durch die Leiden nicht abzustumpfen, meine Theuren!

Dem Himmel sei Dank. Nun wird doch endlich Ruhe werden, nun wird man Athem schöpfen und sich an der Landschaft weiden können. – Das Glück hat uns unglaublich wohl gewollt. Wir haben unvermuthet noch einen prächtigen schattigen Platz, wo die Luft erfrischend fächelt und der rußige Dampf abwärts geweht wird, erwischt. Zwei Narren von Engländern verließen ihn in eben dem Augenblicke, als das Schiff abfahren wollte, und setzten sich gegenüber mitten in den Rußregen und die Gluth hinein! Allein was ist das? O Himmel! Das Schiff dreht sich rundum! Beim Anlegen hat es sich gewandt, und nun wendet es sich zurück. O betrogener, empfindsamer Reisender! Jetzt kommt's heraus, wer der Narr ist! Nicht die schifffahrtskundigen Briten, sondern Du, Du, sehr großer Thor! Im Schatten saßest Du fünf Minuten, um jetzt, als das Schiff sich gewendet hat, in der brennendsten Sonnengluth zu sitzen, und Dir den Rußdampf über Kopf und Kleider schütten zu lassen! Also deshalb wurden diese Plätze frei! Du warst noch nicht gewitzigt genug für die Dampfschifffahrt! –

Es ist nicht auszuhalten! Man versengt in dem Sonnenstrahl, die Bank brennt an, Pech und Theer ringsum schmelzen und dampfen, und der Luftzug trifft uns nur, um uns die Gluth der Maschine zuzuführen.

Aber wo unterkommen! Alles ist gedrängt voll. Alle Sessel, die man sämmtlich aus dem untern Raume heraufgebracht hat, sind besetzt; jeder Koffer, die Decks der Cajütten, sogar die Plätze auf und in den Wagen, die sich auf dem Schiffe befinden. Wir müssen unser Gepäck heraussuchen und davon einen Sitz machen. Aber wo es finden? Es war zusammengebunden; wenn ich nur den Zipfel meines Mantels sehe, so ist es entdeckt. – Dort! Nein, es ist ein anderer Mantel. – Hier – nein, – dort unter dem riesenhaften Koffer. – Wieder nichts. Was Teufel! Traue ich meinen Augen! Der dicke Engländer dort, der so breit auf dem Koffer sitzt – hat er nicht Deinen Mantel zum Pfühl gewählt? Wahrhaftig! „Goddam Sir!You are a rascal!“ – „Do you speak English, Sir?“ – So wollte ich, daß der Blitz Euch erschlüge. Das ist mein Mantel, Mylord!“ – Jetzt versteht er mich; er erhebt sich phlegmatisch, nimmt meinen Mantel, wirft mir ihn zu wie einen Bettelsack, und setzt sich wieder, ohne ein Wort zu sagen. –

Sapperment! Wäre nur ein englischer Lohnbedienter auf dem Schiffe, ich miethete mir den Kerl, und er sollte Dich, breiter, weinglühender, grober Insulaner nach einer deutschen Vorschrift englisch aushunzen, Du raggamuffin! – Aber damit sind meine englischen Schimpfworte zu Ende, und ich spreche sie noch dazu so aus, daß das Beefsteak sie am Ende für Schmeicheleien hält.

Nun ich habe wenigstens den Mantel. Da ist auch der Reisesack; meine Frau behilft sich schon damit. Ich mache ihr einen Sitz davon. – Noch eine halbe Stunde stöbre ich auf dem Deck, im Raume, unter der Segeltuchdecke, überall umher, habe endlich den Bagagepark in Ordnung, und wir richten uns damit ein, so gut es geht. Doch da läutet die Glocke, und wir sind zu Worms, ohne daß ich von der ganzen Landschaft nur einen Baumstamm, geschweige das blaue Hardtgebirge und die Bergstraße mit ihren weit leuchtenden Schlössern und Dörfern gesehen hätte.

In Worms zweiter Aufzug des Mannheimer Spektakelstücks. Doch ich bin schon eingespielter, und halte mich so leidlich bis Mainz, wo wir halb im Dunklen eintreffen.

Aha! Jetzt sieht man doch die Vortheile der Dampfschifffahrt! Also das Alles sind neue Gasthöfe? Jenes prächtige Hôtel d'Angleterre, jenes noch prächtigere Hôtel de la Hollande, dort der Mainzer Hof, – alle am Quai, und nun noch die großen Gasthäuser in der Stadt! –

Jetzt kann der von Glück sagen, der auf seinem Gepäck sitzt; denn kaum werden die Schaufeln des Rades eingezogen, so fällt ein Harpyienschwarm von Schiffsleuten und Reisenden über den Scherbenberg der Nacht- und Mantelsäcke her, und trägt ihn ab. Am Ufer, an der Holzbrücke, wo wir anlegen, harrt schon ein schwarzes Corps von Packträgern, das mit unbezwinglicher Kampfbegier die Reisenden anfällt. „Nach dem Hôtel d'Angleterre! Nach dem Hof von Holland! Nach dem kaiserlichen Hof!“ schallt der Ruf durcheinander, und jeder Schreier bekundet dadurch, daß er ein Abgesandter einer der genannten Mächte ist, und die Pflicht hat, mit diplomatischer Geschicklichkeit die Reisenden dahin zu führen.

Es glückt mir, einen Platz für mein Reisegepäck auf dem Rücken eines Ambassadeurs des Hôtel d'Angleterre zu erwischen; ein Packetbeiwagen mit Koffern und Felleisen fährt nebenher, die Caravane sezt sich in Bewegung. Ein prächtiges Hotel! Säulengänge, alles aufs glänzendste beleuchtet, sechs Kellner an der Thür! Wahrlich, auch nicht zu viel für wenigstens dreißig Reisende, die mit einem Male vom Dampfschiffe anrücken. Mir ein Zimmer vorn heraus! Mir zwei Zimmer! Ein Zimmer mit zwei Betten! Kann ich hier logiren, Oberkellner? Haben Sie Platz für eine Familie von fünf Personen!“ So debouchiren die Fragen plötzlich aus Nord, West und Süd, aus allen Strichen der Windrose, und der Kellner dreht sich wirklich als wehe der Wind von allen Seiten zugleich, wie ein umspringender Geigenwirbel herum!“

„Drei Zimmer – mehr sind im ganzen Hause nicht leer!“ dringt er endlich mit seinem Ruf durch das Mühlradsgebrause der Fragen hindurch.

Für mich! Für mich! Ich habe zuerst bestellt! Mir die Zimmer, Marsch hinauf! – Zwanzig Parteien sehen sich in Sturmschritt, um die drei Kasematten zu erobern, die hinten hinaus im 27sten Stockwerk, eine Viertelelle unterm Schornstein liegen. Ich kehre um. Meine Fußbotenpost will aber erst bezahlt sein, und kann den Cours nach einem andern Gasthofe nicht machen. Thut nichts, es ist gleich ein anderer breiter Mainzer Rücken vorgefahren, der meine Habseligkeiten aufladet, und damit nach dem Hôtel hollandais segelt. Es ist keine zweihundert Schritt weit, also der Casus läßt sich ertragen. – Doch was sehe ich! Eine brausende Menschenwelle fluthet uns entgegen, – lauter abgewiesene Gäste aus dem holländischen und dem Mainzer Hofe. Alles überfüllt, die alte Königin von Neapel mit ihrer ganzen Dienerschaft hat dort genistet, für uns hommes sans aveu keine Dachluke frei! „Peste, diable!

„Welche Lust gewährt das Reisen!“

Wohin nun? – Nach den drei Reichskronen. – Ach, die sind längst bankerutt! Nach dem kaiserlichen Hof denn, dem ältesten Gasthause der Stadt Mainz!

Leser, wenn Ihr so den unermeßlichen Glückstreffer zieht, den ich gezogen, der ich nach einem Trab von einer Stunde durch die kothigen Gaffen der alten, aber, gleich den Damen, durch das Alter nicht schönen Stadt Mainz, drei Treppen hinauf noch ein Hinterzimmerchen im kaiserlichen Hofe erhaschte, weil es schon Tags zuvor, ohne daß ich's wußte, durch einen Freund bestellt war – wenn Ihr, sage ich, jemals ein solches Reise-großes-Loos gewinnt, dann jubelt, wie ich, über die Herrlichkeit der Dampfschifffahrt auf dem Rheine, die alle diese Bequemlichkeiten mit sich führt. –

 

 

Andern Morgens bei schönstem Sonnenlicht fahren wir weiter.

Leser, Hörer, oder wie ich Euch benenne, denen meine Jeremiade erklingt, Ihr dürftet vielleicht glauben, das menschliche Dampfschifffahrts-Vergnügungs-Getümmel-Elend sei gestern in Mannheim auf dem Gipfel gewesen! Wie irrt Ihr Euch! Wie gleicht Ihr ganz mir, der ich's auch glaubte.

In Mainz verdreifachte sich der Jammer. Zu Mannheim war es nur Ney's Uebergang über den Dniepr, den wir aufführten, zu Mainz wurde die Beresina in Scene gesetzt. Ihr schlaft noch süß:

 

„Da zerret an der Glocke Strängen

Der Aufruf, daß sie heulend schallt,

Zum Dampfschiff wogt und tobt das Drängen,

Wälzt sich das Volk mit Sturmsgewalt.“ –

 

Ich zerre gleichfalls an der Glocke nach dem Kellner, der mich zu wecken vergessen, oder dessen Weckruf ich überhört! Aber welche Stimme dringt auch bis in eine Dachkammer drei Treppen hoch!

Im Hause stolpert schon einer über den andern, der Hausknecht mit den Stiefeln über den Besen der Hausmagd, diese über den Kellner, der mit dem Kaffee wie besessen die Treppen auf und abspringt, und Tassen und Theelöffel durchs ganze Haus säet. – Wir fahren in die Kleider, als ob es unter uns brennte; in der Hast ziehe ich die Hosen verkehrt an Verwettertes Mißgeschick der Eile! Jetzt läutet die Dampfschiffglocke zum zweiten Male! Das Dritte Mal ist, wenn ich's im Gasthofe höre, meine Todtenglocke, denn gleich nach dem dritten Läuten schaufelt das Ungethüm davon. – Ich würge mich beinahe mit der Halsbinde, und stecke den vergessenen Vatermörder voll Wuth zerknittert in die Tasche; ich habe nicht Zeit, Rock und Weste zuzuknöpfen, und kämme mich erst, indem ich die Treppe hinabspringe.

Eben fährt das Packetboot des Hausknechts, sein zweirädriger Bagagekarren, nach dem Rheinufer ab. – Meine Rechnung! Hier! Es ist die von Nr. 3, und ich habe in Nr. 333, glaube ich, gewohnt; sie ist doppelt so hoch als die meinige, aber es thut nichts, denn ich bin in Gefahr, einen gróBern Verlust bei der Dampfschifffahrts-Compagnie zu machen.

Endlich bin ich auf dem Wege. Meine Begleiterin habe ich schon, da sie nicht so laufend fliegen kann wie ich, mit dem Bagagewagen abgehen lassen. Der Morgen ist so schön kühl! Aber ich habe nichts davon, denn ich glühe bereits durch und durch vor körperlicher und geistiger Eile. Der Hausknecht und sein Phaeton sind schon verschwunden! Zwar kenne ich die Gassen nicht genau, aber doch ungefähr, und ich darf ja nur immer, wie der Wagen, bergab laufen, so muß ich endlich an das Flußbett des Rheines kommen.

Halt, was ist das! Weder rechts noch links ein Ausweg! O peste! Ein cul de sac! Linksum! – Gott sei Dank, da sehe ich noch einen Trupp, der sich zur großen Armee begibt; es ist der Hausknecht eines andern Gasthofes nebst einem Dutzend Fremden. Da läutet's zum dritten Male! Das ist das Sauve qui peut! – Jetzt stößt das Fahrzeug vom Lande! Wir laufen wie Meleager und Atalanta! Aber der Hausknecht bleibt in seinem phlegmatischen Andante-Takt, und accelerirt sein Tempo auch nicht um einen halben Grad des Metronoms. – Es ist noch Zeit genug, meine Herrschaften, ruft er uns nach, und hat Recht. Denn als wir das Ufer erreichen, ist sogar der enge Eingang zum Dampfschiffe noch gesperrt für die Reisenden, und nur ihre fahrende Habe wird admittirt.

Himmel, welche Berge von Gepäck!

Allerdings, denn die Königin von Neapel mit ihrer ganzen Suite fährt mit!

Viel Ehre! Aber, ich bin so illegal es zu gestehen, wenig Zuwachs an Vergnügen; sie wird uns den Raum sehr verengen.

Dafür wird auch die Admiralitätsflagge aufgehißt.

Viel Ehre, aber, ich wiederhole es, wenig Zuwachs an Vergnügen!

Die Eingangsschleuse wird aufgezogen. schwarze Menschenfluth bricht herein. Bald sind Deck und Cajütten überfüllt. Diesmal war ich gewitzigter. Ich hatte auf der Erhöhung der Cajütte inmitten des Schiffes einen guten Platz erwischt, wo Schatten, Luft und Aussicht zu haben waren; die letzten aber nur, bis sich eine Mauer von Stehenden, Unseligen für sich und mich, um mich herzieht, und mich absperrt wie das chinesische Reich.

Also das sind die wundervollen Rheingegenden? Diese breiten Rücken von Engländern, Holländern und Franzosen sollen mir statt der Bergrücken gelten, und diese Hüte, Filze und Kappen auf harten Schädeln statt der Burgen, Schlösser, Landhäuser und Kapellen auf den steilen Felsen? – Ein herrlicher Tausch! Gott segne die Erfindung der Dampfschiffahrt! – Ich saß mit meiner armen Begleiterin, die den Rhein noch nicht kannte, ungefähr da wie jener Mann bei der Krönung Napoleon's, der auf ein Faß gestiegen war, um Alles aufs herrlichste zu sehen, aber gerade in dem Moment mit dem Boden einbrach, als der Zug aus der nächsten Querstraße um die Ecke biegen sollte. –

„Biberich! Seht da, Biberich! Das freundliche Biberich!“ ertönte es rings um mich her.

Ich sah nichts als etwas grüne Bergspitzen und Himmelsblau zwischen verschiedenen Reisehüten durchblicken.

Elfeld! Wie allerliebst gelegen! – Ja! hinter dem schottischen Reisemantel eines Engländers! –

Der Johannisberg! Da ist der Johannisberg! Wo? Jener grüne Rücken mit dem weißen glänzenden Schlosse!

Ich sah auch einen grünen Rücken, aber mit einem weißen Filz darauf; beides gehörte einem dicken Holländer, der wie eingerammt vor mir stand.

Mein Herr!

Myn heer? 

Erlauben Sie mir wohl einmal Ihren Arm?

As ye beleeft Mynheer, ja well!  

Bitte ergebenst! Haben Sie nur die Güte, den Ellenbogen zu krümmen und die Faust in die Seite zu stemmen, damit Ihr Arm eine Oese bildet. Meine Frau, die eine Rheinreise macht, um die schönen Gegenden kennen zu lernen, wünscht gern den Johannisberg zu sehen.

Der Mann war gutmüthig wie alle Holländer; er krümmte seinen Arm zu einem recht geräumigen Fenster, und wir konnten durch dasselbe einen Theil des Johannisberges recht reizend liegen sehen.

„Die Rochuskapelle! Die Rochuskapelle! Ei, wie schön liegt sie! Welch eine herrliche Aussicht muß dort oben sein!“

Ich schlug geschwind das Rheinpanorama von Delkeskamp auf und zeigte meiner Frau die Rochuskapelle. Siehst Du, wie schön sie liegt? Hier kurz vor Bingen!

Sehr schön, sprach sie betrübt. –

Wir kamen nun ans Binger Loch. Sollten wir scheitern, so wollten wir doch wenigstens wissen wo. Deshalb sprach ich: „Laß uns unsre Sitze hier im Dampfschiffs-Parlament aufgeben, und als freie Menschen, die aber (wie insgemein) nicht wissen, wo sie ihr Haupt hinlegen sollen, noch etwas anderes hinsetzen, das Reich des Dampfschiffes durchwandern.“

Ich durchbrach die Mauer, welche die englisch-französisch-holländisch-deutsche Quadrupelalliance um uns gezogen hatte. Noch viel früher war aber schon mein Platz occupirt worden, denn ich hatte mich noch nicht zwölf Zoll darüber erhoben, als schon der Holländer, dem wir den Johannisberg verdankten, Arrest darauf legte. (Wie schön könnte ich hier, sänge ich nicht eine Jeremiade, mit den Worten Platz, Wechsel, Arrest, Platzwechsel, Wechselplatz, Wechselarrest, spielen!) Die Landschaft wurde nun genossen wie eine neue Oper, oder ein Auftreten der Sonntage, d. h. im Gedränge, stehend, mit accidentellen Zugaben von Rippenstößen u. dgl. m.

Wir schossen wie ein Pfeil zwischen Bingen und Rüdesheim hindurch. wie herrlich liegt Schloß Rheinstein! Wo? Wo? Hier dicht vor uns! Nein, jest ist's schon zu spät, jegt liegt es über uns! Jest hinter uns – jekt ist's verschwunden! Ehe ich den Hals nach diesen Commandowörtern gedreht · hatte, waren sie immer schon falsch!, wie ge= nießt man eine schöne Gegend auf dem Dampfschiffe! Und ging es uns besser mit Falkenstein, Stahleck, Rheineck, mit der Katze und Maus, und wie die Felsennester alle heißen? Als ich mir Bingen erst recht betrachten wollte, war ich schon in Caub, und während ich die Rheinpfalz ein wenig beschaute, schrie es hinter mir schon: der Lurley, der Lurleyfels. Ich wollte die Lore Ley, diese berühmte Fey und Rhein-Armida sehen, das Echo am Lurley hören, allein bevor ich dazu kam, war ich schon in St. Goar! So hat denn die Dampfschifffahrt wenigstens das Gute, daß sie die Gefahren, welche Lore Ley dem Schiffer bringt, aufhebt. Denn man könnte sich eben so gut beim Wettereiten in eine am Wege stehende Schöne verlieben, als jetzt in die Zauberjungfrau.

So viel Schlösser, Städte, Flecken, Dörfer, Landhäuser am Rhein, so viel Stoßseufzer richtet ein Dampfschiffreisender zum Himmel, über alle die schönen Punkte, die er nicht sieht. Ich schätze die Zahl nach Delkeskamp's Panorama mäßig und rund ab auf 999, von Bingen bis Bonn. Da man in sieben Stunden dahin fährt, so kommen auf jede Stunde ja noch nicht einmal 150, also nicht viel mehr als zwei in der Minute, sowohl Schlösser und Orte, als Seufzer; das läßt sich doch noch aushalten.

Es erquickt einen Reisenden daher nichts mehr, als die Nachricht, daß zu Tische gegangen werden soll; denn Hunger bleibt die letzte wohlthuende Empfindung, die den Menschen durch lange Leiden begleitet, falls er nämlich etwas zu essen spürt.

Doch, hätte ich bisher nur Lobpsalter angestimmt, jetzt müßten sie in die Molltonarten und Dissonanzen der Jeremiade ausweichen. Denn stellt es Euch vor, Leser, was daraus entstehen muß, wenn die Masse von Reisenden, die auf Verdeck und Cajütte nicht Raum hatten, plötzlich in der letztern allein untergebracht werden, und dabei noch essen soll. Die Gesellschaft wird zuerst aus der Cajütte hinaus und die Treppe hinauf geworfen, damit gedeckt werden kann, dann stürzt sie von selbst wieder hinunter und hinein. Unten sitzt jeder, diese kleine Lizenz ist gestattet, halb auf seines Nachbars Schooß und meißelt ihm mit seinem rechten Ellenbogen die linken Rippen aus, oder polirt ihm das Herz; allgemeines Halbrechts oder Halblinks heißt das Commandowort beim Essen. Wehe dem, den sein Schicksal in eine Ecke führte, von der er nicht aufstehen kann! Denn daß er nichts zu essen oder zu trinken bekommt, falls der Teller nicht so weit reicht, oder seine Vorsitzer dem Kellner die Flaschen und Schoppen wegkapern, bevor sie in den Fond der Cajütte gelangen, ist das geringste Uebel. Allein er sitzt bei gelinder russischer Badhitze von 45 Grad und athmet die frische Luft, die ihm funfzig transspirirende Tischgäste und ein Dutzend dampfender Schüsseln bei dieser Temperatur bereiten, recht behaglich ein. Wenn er vor dem Braten noch nicht erstickt ist, so kann er mit Cäsar's Glück prahlen. Denn ein Fenster wird nicht geöffnet, weil die kalte Zugluft von 22 bis 25 Grad Reaumur, die von draußen hereinkäme, einem Polarwinde zu vergleichen wäre, für den hektisch-rheumatischen Zustand einiger Fräulein und Brunnengäste aus Wiesbaden. Inzwischen fängt man kurz vor Andernach an zu essen; über die Suppe versäumt man dieses; über das Rindfleisch die schönen Basaltfelsen dahinter bis Schloß Hammerstein; beim Gemüse passiren die prächtigen vulkanischen Formen draußen vorbei; mit dem Braten drinnen wird drauBen das Siebengebirge aufgetragen; kurz ein hungriger Reisender giebt den schönsten Theil der Rheinfahrt für eine Mahlzeit weg. Er hat sich's hundert Thaler kosten lassen bis an den Rhein, und hundert zurück; den Rhein selbst verhandelt er für einen Gulden, oder vielmehr für etliche baare Victualien. – Steht man vom Dessert auf, so kommt man gerade noch zu rechter Zeit aufs Deck, um Bonn dicht vor sich, das Siebengebirg und den Drachenfels weit hinter sich zu sehen. –

Doch, Gott sei gelobt! Ich bin in Bonn! –

Nach so viel Leiden, o welche Freuden! Das Dampfschiff legt an; ich fühle Land unter meinen Füßen. Ich kann drei Schritte vor mich sehen und gehen, ohne mich in den Reisecoats dicker Engländer, in den blauen Hemden belgischer oder französischer Windbeutel zu verwickeln. Ich kann mich an das Ufer stellen, auf den alten Zoll, und den prächtig daherziehenden majestätischen Rhein mit seinen grünen Bergen, steilen Felsen und alten Schlössern verweilend betrachten, ohne daß er mir wie von einem eiligen Guckkastenmanne so rasch vor den Augen vorbeigezogen wird, daß ich mich immer erst am nächsten Bilde darauf besinne, was ich auf dem vorigen gesehen habe oder sehen sollte, – kurz ich kann jubeln und die Jeremiade schließen, und der Leser jubelt noch mehr darüber und denkt vielleicht „o des Narren!» Aber wahrhaftig, ich glaube, der Leser kommt auf meine eigenen Gedanken!