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- H e i d i ' s L e h r -
u n d W a n d e r j a h r e .
C a p i t e l I V .
B e i d e r G r o ß m u t t e r .
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[51]
Am andern Morgen kam wieder die helle Sonne, und dann kam der Peter und die Gaißen, und wieder zogen sie Alle miteinander nach der Weide hinauf, und so ging es Tag für Tag, und Heidi wurde bei diesem Weideleben ganz gebräunt und so kräftig und gesund, daß ihm gar nie etwas fehlte, und so froh und glücklich lebte Heidi von einem Tag zum andern, wie nur die lustigen Vögelein leben auf allen Bäumen im grünen Wald. Wie es nun Herbst wurde und der Wind lauter zu sausen anfing über die Berge hin, dann sagte etwa der Großvater: «Heut' bleibst du da, Heidi; ein Kleines, wie du bist, kann der Wind mit einem Ruck über alle Felsen in's Thal hinabwehen.»
Wenn aber das am Morgen der Peter vernahm, sah er sehr unglücklich aus, denn er sah lauter Mißgeschick vor sich: einmal wußte er vor Langerweile nun gar nicht mehr was anfangen, wenn Heidi nicht bei ihm war; dann [52] kam er um sein reichliches Mittagsmahl, und dann waren die Gaißen so störrig an diesen Tagen, daß er die doppelte Mühe mit ihnen hatte; denn die waren nun auch so an Heidi's Gesellschaft gewöhnt, daß sie nicht vorwärts wollten, wenn es nicht dabei war, und auf alle Seiten rannten. Heidi wurde niemals unglücklich, denn es sah immer irgendetwas Erfreuliches vor sich. Am liebsten ging es schon mit Hirt und Gaißen auf die Weide zu den Blumen und zum Raubvogel hinauf, wo so mannigfaltige Dinge zu erleben waren mit all den verschieden gearteten Gaißen; aber auch das Hämmern und Sägen und Zimmern des Großvaters war sehr unterhaltend für Heidi; und traf es sich, daß er gerade die schönen runden Gaißkäschen zubereitete, wenn es daheimbleiben mußte, so war das ein ganz besonderes Vergnügen, dieser merkwürdigen Thätigkeit zuzuschauen, wobei der Großvater beide Arme bloß machte und damit in dem großen Kessel herumrührte. Aber vor Allem anziehend war für das Heidi an solchen Windtagen das Wogen und Rauschen in den drei alten Tannen hinter der Hütte. Da mußte es immer von Zeit zu Zeit hinlaufen von allem Andern weg, was es auch sein mochte, denn so schön und wunderbar war gar Nichts wie dieses tiefe, geheimnißvolle Tosen in den Wipfeln da droben; da stand Heidi unten und lauschte hinauf und konnte niemals genug bekommen zu sehen und zu hören, wie das wehte und wogte und rauschte in den Bäumen mit großer Macht. Jetzt gab die Sonne [53] nicht mehr heiß wie im Sommer und Heidi suchte seine Strümpfe und Schuhe hervor und auch den Rock, denn nun wurde es immer frischer, und wenn das Heidi unter den Tannen stand, wurde es durchblasen wie ein dünnes Blättlein, aber es lief doch immer wieder hin und konnte nicht in der Hütte bleiben, wenn es das Windeswehen vernahm.
Dann wurde es kalt, und der Peter hauchte in die Hände, wenn er früh am Morgen herauf kam, aber nicht lange; denn auf einmal fiel über Nacht ein tiefer Schnee, und am Morgen war die ganze Alm schneeweiß und kein einziges grünes Blättlein mehr zu sehen ringsum und um. Da kam der Gaißen=Peter nicht mehr mit seiner Heerde, und Heidi schaute ganz verwundert durch das kleine Fenster, denn nun fing es wieder zu schneien an, und die dicken Flocken fielen fort und fort, bis der Schnee so hoch wurde, daß er bis ans Fenster hinaufreichte, und dann noch höher, daß man das Fenster gar nicht mehr aufmachen konnte und man ganz verpackt war in dem Häuschen. Das kam dem Heidi so lustig vor, daß es immer von einem Fenster zum andern rannte, um zu sehen, wie es denn noch werden wollte und ob der Schnee noch die ganze Hütte zudecken wollte, daß man müsste ein Licht anzünden am hellen Tag. Es kam aber nicht so weit, und am andern Tag ging der Großvater hinaus, denn nun schneite es nicht mehr, und schaufelte um's ganze Haus herum und warf große, große [54] Schneehaufen aufeinander, daß es war wie hier ein Berg und dort ein Berg und dort ein Berg um die Hütte herum; aber nun waren die Fenster wieder frei und auch die Thüre, und das war gut, denn als am Nachmittag Heidi und der Großvater am Feuer saßen, Jedes auf seinem Dreifuß, denn der Großvater hatte längst auch einen für das Kind gezimmert, da polterte auf einmal etwas heran und schlug immer zu gegen die Holzschwelle und machte endlich die Thür auf. Es war der Gaißenpeter; er hatte aber nicht aus Unart so gegen die Thüre gepoltert, sondern um seinen Schnee von den Schuhen abzuschlagen, die hoch hinauf davon bedeckt waren; eigentlich der ganze Peter war von Schnee bedeckt, denn er hatte sich durch die hohen Schichten so durchkämpfen müssen, daß ganze Massen an ihm hängen geblieben und auf ihm festgefroren waren, denn es war sehr kalt. Aber er hatte nicht nachgegeben, denn er wollte zu Heidi hinauf, er hatte es jetzt acht Tage lang nicht gesehen.
«Guten Abend», sagte er im Eintreten, stellte sich gleich so nah als möglich an's Feuer heran und sagte weiter Nichts mehr; aber sein ganzes Gesicht lachte vor Vergnügen, daß er da war. Heidi schaute ihn sehr verwundert an, denn nun er so nah am Feuer war, fing es überall an ihm zu thauen an, so daß der ganze Peter anzusehen war wie ein gelinder Wasserfall.
«Nun, General, wie steht's?», sagte jetzt der Groß[55]vater. «Nun bist du ohne Armee und mußt am Griffel nagen.»
«Warum muß er am Griffel nagen, Großvater?», fragte Heidi sogleich mit Wissbegierde.
«Im Winter muß er in die Schule gehen», erklärte der Großvater; «da lernt man lesen und schreiben und das geht manchmal schwer, da hilft's ein wenig nach, wenn man am Griffel nagt; ist's nicht wahr, General?»
«Ja, 's ist wahr», bestätigte Peter.
Jetzt war Heidi's Theilnahme an der Sache wach geworden und es hatte sehr viele Fragen über die Schule und Alles, was da begegnete und zu hören und zu sehen war, an den Peter zu richten, und da immer viel Zeit verfloß über einer Unterhaltung, an der Peter Theil nehmen mußte, so konnte er derweilen schön trocknen von oben bis unten. Es war immer eine große Anstrengung für ihn, seine Vorstellungen in die Worte zu bringen, die bedeuteten, was er meinte; aber diesmal hatte er's besonders streng, denn kaum hatte er eine Antwort zu Stande gebracht, so hatte ihm Heidi schon wieder zwei oder drei unerwartete Fragen zugeworfen und meistens solche, die einen ganzen Satz als Antwort erforderten.
Der Großvater hatte sich ganz still verhalten während dieser Unterhaltung, aber es hatte ihm öfter ganz lustig um die Mundwinkel gezuckt, was ein Zeichen war, daß er zuhörte.
[56] «So, General, nun warst du im Feuer und brauchst Stärkung, komm', halt mit!» Damit stand der Großvater auf und holte das Abendessen aus dem Schrank hervor, und Heidi rückte die Stühle zum Tisch. Unterdessen war auch eine Bank an die Wand gezimmert worden vom Großvater; nun er nicht mehr allein war, hatte er da und dort allerlei Sitze zu Zweien eingerichtet, denn Heidi hatte die Art, daß es sich überall nah zum Großvater hielt, wo er ging und stand und saß. So hatten sie alle drei gut Platz zum Sitzen und der Peter that seine runden Augen ganz weit auf, als er sah, welch ein mächtiges Stück von dem schönen getrockneten Fleisch der Alm=Oehi ihm auf seine dicke Brodschnitte legte. So gut hatte es der Peter lange nicht gehabt. Als nun das vergnügte Mahl zu Ende war, fing es an zu dunkeln und Peter schickte sich zur Heimkehr an. Als er nun «gute Nacht» und «Dank Euch Gott» gesagt hatte und schon unter der Thür war, kehrte er sich noch einmal um und sagte: «Am Sonntag komm' ich wieder, heut' über acht Tag', und du solltest auch einmal zur Großmutter kommen, hat sie gesagt.»
Das war ein ganz neuer Gedanke für Heidi, daß es zu Jemandem gehen sollte, aber er faßte auf der Stelle Boden bei ihm, und gleich am folgenden Morgen war sein Erstes, daß es erklärte: «Großvater, jetzt muß ich gewiß zu der Großmutter hinunter, sie erwartet mich.»
«Es hat zu viel Schnee», erwiderte der Großvater ab[57]wehrend.
Aber das Vorhaben saß fest in Heidi's Sinn, denn die Großmutter hatte es ja sagen lassen; so mußte es sein. So verging kein Tag mehr, an dem das Kind nicht fünf und sechs Mal sagte: «Großvater, jetzt muß ich gewiß gehen, die Großmutter wartet ja immer auf mich.»
Am vierten Tag, als es draußen knisterte und knarrte vor Kälte bei jedem Schritt und die ganze große Schneedecke ringsum hart gefroren war, aber eine schöne Sonne in's Fenster guckte, gerade auf Heidi's hohen Stuhl hin, wo es am Mittagsmahl saß, da begann es wieder sein Sprüchlein: «Heut' muß ich aber gewiß zur Großmutter gehen, es währt ihr sonst zu lange.» Da stand der Großvater auf vom Mittagstisch, stieg auf den Heuboden hinauf, brachte den dicken Sack herunter, der Heidi's Bettdecke war, und sagte: «So komm!» In großer Freude hüpfte das Kind ihm nach in die glitzernde Schneewelt hinaus. In den alten Tannen war es nun ganz still und auf allen Aesten lag der weiße Schnee und in dem Sonnenschein schimmerte und funkelte es überall von den Bäumen in solcher Pracht, daß Heidi hoch aufsprang vor Entzücken und ein Mal über's andere ausrief: «Komm' heraus, Großvater, komm' heraus! Es ist lauter Silber und Gold an den Tannen!» Denn der Großvater war in den Schopf hineingegangen und kam nun heraus mit einem breiten Stoßschlitten: Da war vorn eine Stange angebracht, und von dem flachen Sitz konnte man die Füße nach vorn hinunter halten und gegen den [58] Schneeboden stemmen und der Fahrt die Weisung geben. Hier setzte sich der Großvater hin, nachdem er erst die Tannen ringsum mit Heidi hatte beschauen müssen, nahm das Kind auf seinen Schooß, wickelte es um und um in den Sack ein, damit es hübsch warm bleibe, und drückte es fest mit dem linken Arm an sich, denn das war nöthig bei der kommenden Fahrt. Dann umfaßte er mit der rechten Hand die Stange und gab einen Ruck mit beiden Füßen. Da schoss der Schlitten davon die Alm hinab mit einer solchen Schnelligkeit, daß das Heidi meinte, es fliege in der Luft wie ein Vogel und laut aufjauchzte. Auf einmal stand der Schlitten still, gerade bei der Hütte vom Gaißen=Peter. Der Großvater stellte das Kind auf den Boden, wickelte es aus seiner Decke heraus und sagte: «So, nun geh' hinein, und wenn es anfängt dunkel zu werden, dann komm' wieder heraus und mach' dich auf den Weg.» Dann kehrte er um mit seinem Schlitten und zog ihn den Berg hinauf.
Heidi machte die Thüre auf und kam in einen kleinen Raum hinein, da sah es schwarz aus, und ein Heerd war da und einige Schüsselchen auf einem Gestell, das war die kleine Küche; dann kam gleich wieder eine Thüre, die machte Heidi wieder auf und kam in eine enge Stube hinein, denn das Ganze war nicht eine Sennhütte, wie beim Großvater, wo ein einziger, großer Raum war und oben ein Heuboden, sondern es war ein kleines, uraltes Häuschen, wo Alles [59] eng war und schmal und dürftig. Als Heidi in das Stübchen trat, stand es gleich vor dem Tisch, daran saß eine Frau und flickte an Peter's Wams, denn dieses erkannte Heidi sogleich. In der Ecke saß ein altes, gekrümmtes Mütterchen und spann. Heidi wußte gleich, woran es war; es ging gradaus auf das Spinnrad zu und sagte: «Guten Tag, Großmutter, jetzt komme ich zu dir; hast du gedacht, es währe lang, bis ich komme?»
Die Großmutter erhob den Kopf und suchte die Hand, die gegen sie ausgestreckt war, und als sie diese erfaßt hatte, befühlte sie dieselbe erst eine Weile nachdenklich in der ihrigen, dann sagte sie: «Bist du das Kind droben beim Alm=Oehi, bist du das Heidi?»
«Ja, ja», bestätigte das Kind, «jetzt gerade bin ich mit dem Großvater im Schlitten heruntergefahren.»
«Wie ist das möglich! Du hast ja eine so warme Hand! Sag', Brigitte, ist der Alm=Oehi selber mit dem Kind heruntergekommen?»
Peter's Mutter, die Brigitte, die am Tisch geflickt hatte, war aufgestanden und betrachtete nun mit Neugierde das Kind von oben bis unten; dann sagte sie: «Ich weiß nicht, Mutter, ob der Oehi selber heruntergekommen ist mit ihm; es ist nicht glaublich, das Kind wird's nicht recht wissen.»
Aber das Heidi sah die Frau sehr bestimmt an und gar nicht, als sei es im Ungewissen, und sagte: «Ich weiß ganz [60] gut, wer mich in die Bettdecke gewickelt hat und mit mir heruntergeschlittet ist; das ist der Großvater.»
«Es muß doch etwas daran sein, was der Peter so gesagt hat den Sommer durch vom Alm=Oehi, wenn wir dachten, er wisse es nicht recht», sagte die Großmutter; «wer hätte freilich auch glauben können, daß so etwas möglich sei; ich dachte, das Kind lebe keine drei Wochen da oben. Wie sieht es auch aus, Brigitte!» Diese hatte das Kind unterdessen so von allen Seiten angesehen, daß sie nun wohl berichten konnte, wie es aussah.
«Es ist so fein gegliedert, wie die Adelheid war», gab sie zur Antwort; «aber es hat die schwarzen Augen und das krause Haar, wie es der Tobias hatte und auch der Alte droben; ich glaube, es sieht den Zweien gleich.»
Unterdessen war Heidi müßig geblieben; es hatte ringsum geguckt und Alles genau betrachtet, was da zu sehen war. Jetzt sagte es: «Sieh', Großmutter, dort schlägt es einen Laden immer hin und her, und der Großvater würde auf der Stelle einen Nagel einschlagen, daß er wieder fest hält, sonst schlägt er auch einmal eine Scheibe ein; sieh', sieh', wie er thut!»
«Ach, du gutes Kind», sagte die Großmutter, «sehn kann ich es nicht, aber hören kann ich es wohl und noch viel mehr, nicht nur den Laden; da kracht und klappert es überall, wenn der Wind kommt und er kann überall hereinblasen; es hält Nichts mehr zusammen, und in der Nacht, [61] wenn sie Beide schlafen, ist es mir manchmal so angst und bang, es falle Alles über uns zusammen und schlage uns alle Drei todt; ach und da ist kein Mensch, der Etwas ausbessern könnte an der Hütte, der Peter versteht's nicht.»
«Aber warum kannst du denn nicht sehen, wie der Laden thut, Großmutter? Sieh' jetzt wieder, dort gerade dort.» Und Heidi zeigte die Stelle deutlich mit dem Finger.
«Ach Kind, ich kann ja gar Nichts sehen, gar Nichts, nicht nur den Laden nicht», klagte die Großmutter.
«Aber wenn ich hinausgehe und den Laden ganz aufmache, daß es recht hell wird, kannst du dann sehen, Großmutter?»
«Nein, nein, auch dann nicht, es kann mir Niemand mehr hell machen.»
«Aber wenn du hinausgehst in den ganz weißen Schnee, dann wird es dir gewiß hell; komm' nur mit mir, Großmutter, ich will dir's zeigen.» Heidi nahm die Großmutter bei der Hand und wollte sie fortziehen, denn es fing an, ihm ganz ängstlich zu Muth zu werden, daß es ihr nirgends hell wurde.
«Laß mich nur sitzen, du gutes Kind; es bleibt doch dunkel bei mir, auch im Schnee und in der Helle, sie dringt nicht mehr in meine Augen.»
«Aber dann doch im Sommer, Großmutter», sagte Heidi, immer ängstlicher nach einem guten Ausweg suchend; [62] «weißt, wann dann wieder die Sonne ganz heiß herunterbrennt und dann ›gute Nacht‹ sagt und die Berge alle feuerroth schimmern und alle gelben Blümlein glitzern, dann wird es dir wieder schön hell?»
«Ach, Kind, ich kann sie nie mehr sehen, die feurigen Berge und die goldenen Blümlein droben, es wird mir nie mehr hell auf Erden, nie mehr.»
Jetzt brach Heidi in lautes Weinen aus. Voller Jammer schluchzte es fortwährend: «Wer kann dir denn wieder hell machen? Kann es Niemand? Kann es gar Niemand?»
Die Großmutter suchte nun das Kind zu trösten, aber es gelang ihr nicht so bald. Heidi weinte fast nie; wenn es aber einmal anfing, dann konnte es auch fast nicht mehr aus der Betrübniß herauskommen. Die Großmutter hatte schon allerhand probiert, um das Kind zu beschwichtigen, denn es ging ihr zu Herzen, daß es so jämmerlich schluchzen mußte. Jetzt sagte sie: «Komm', du gutes Heidi, komm' hier heran, ich will dir etwas sagen. Siehst du, wenn man Nichts sehen kann, dann hört man so gern ein freundliches Wort und ich höre es gern, wenn du redest; komm', setz' dich da nahe zu mir und erzähl' mir Etwas, was du machst da droben und was der Großvater macht, ich habe ihn früher gut gekannt; aber jetzt hab' ich seit manchem Jahr Nichts mehr gehört von ihm, als durch den Peter, aber der sagt nicht viel.»
[63] Jetzt kam dem Heidi ein neuer Gedanke; es wischte rasch seine Thränen weg und sagte tröstlich: «Wart' nur, Großmutter, ich will Alles dem Großvater sagen, er macht dir schon wieder hell und macht, daß die Hütte nicht zusammenfällt, er kann Alles wieder in Ordnung machen.»
Die Großmutter schwieg stille, und nun fing Heidi an, ihr mit großer Lebendigkeit zu erzählen von seinem Leben mit dem Großvater und von den Tagen auf der Weide und von dem jetzigen Winterleben mit dem Großvater, was er Alles aus Holz machen könne, Bänke und Stühle und schöne Krippen, wo man für das Schwänli und Bärli das Heu hineinlegen könnte, und einen neuen großen Wassertrog zum Baden im Sommer, und ein neues Milchschüsselchen und Löffel, und Heidi wurde immer eifriger im Beschreiben all der schönen Sachen, die so auf einmal aus einem Stück Holz herauskommen und wie es dann neben dem Großvater stehe und ihm zuschaue und wie es das Alles auch einmal machen wolle. Die Großmutter hörte mit großer Aufmerksamkeit zu, und von Zeit zu Zeit sagte sie dazwischen: «Hörst du's auch, Brigitte? Hörst du, was es vom Oehi sagt?»
Mit einem Mal wurde die Erzählung unterbrochen durch ein großes Gepolter an der Thüre, und herein stampfte der Peter, blieb aber sogleich stille stehn und sperrte seine runden Augen ganz erstaunlich weit auf, als er das Heidi erblickte, und schnitt die allerfreundlichste [64] Grimasse, als es ihm sogleich zurief: «Guten Abend, Peter!»
«Ist denn das möglich, daß der schon aus der Schule kommt», rief die Großmutter ganz verwundert aus; «so geschwind ist mir seit manchem Jahr kein Nachmittag vergangen! Guten Abend, Peterli, wie geht es mit dem Lesen?»
«Gleich», gab der Peter zur Antwort.
«So, so», sagte die Großmutter ein wenig seufzend, «ich habe gedacht, es gäbe vielleicht eine Aenderung auf die Zeit, wenn du dann zwölf Jahre alt wirst gegen den Hornung hin.»
«Warum muß es eine Aenderung geben, Großmutter?», fragte Heidi gleich mit Interesse.
«Ich meine nur, daß er es etwa noch hätte lernen können», sagte die Großmutter, «das Lesen mein' ich. Ich habe dort oben auf dem Gestell ein altes Gebetbuch, da sind schöne Lieder drin, die habe ich so lange nicht mehr gehört, und im Gedächtniß habe ich sie auch nicht mehr; da habe ich gehofft, wenn der Peterli nun lesen lerne, so könne er mir etwa ein gutes Lied lesen; aber er kann es nicht lernen, es ist ihm zu schwer.»
«Ich denke, ich muß Licht machen, es wird ja schon ganz dunkel», sagte jetzt Peter's Mutter, die immer emsig am Wams fortgeflickt hatte; «der Nachmittag ist mir auch vergangen, ohne daß ich's merkte.»
[65] Nun sprang Heidi von seinem Stühlchen auf, streckte eilig seine Hand aus und sagte: «Gut' Nacht, Großmutter, ich muß auf der Stelle heim, wenn es dunkel wird», und hinter einander bot es dem Peter und seiner Mutter die Hand und ging der Thüre zu. Aber die Großmutter rief besorgt: «Wart', wart', Heidi; so allein mußt du nicht fort, der Peter muß mit dir, hörst du? Und gib Acht auf das Kind, Peterli, daß es nicht umfällt, und steh' nicht still mit ihm, daß es nicht friert, hörst du? Hat es auch ein dickes Halstuch an?»
«Ich habe gar kein Halstuch an», rief Heidi zurück, «aber ich will schon nicht frieren»; damit war es zur Thür hinaus und huschte so behend weiter, daß der Peter kaum nachkam. Aber die Großmutter rief jammernd: «Lauf' ihm nach, Brigitte, lauf', das Kind muß ja erfrieren, so bei der Nacht, nimm mein Halstuch mit, lauf' schnell!» Die Brigitte gehorchte. Die Kinder hatten aber kaum ein paar Schritte den Berg hinan gethan, so sahen sie von oben herunter den Großvater kommen, und mit wenigen rüstigen Schritten stand er vor ihnen.
«Recht so, Heidi, Wort gehalten!», sagte er, packte das Kind wieder fest in seine Decke ein, nahm es auf seinen Arm und stieg den Berg hinauf. Eben hatte die Brigitte noch gesehen, wie der Alte das Kind wohl verpackt auf seinen Arm genommen und den Rückweg angetreten hatte. Sie trat mit dem Peter wieder in die Hütte ein und [66] erzählte der Großmutter mit Verwunderung, was sie gesehen hatte. Auch diese mußte sich sehr verwundern und ein Mal über das andere sagen: «Gott Lob und Dank, daß er so ist mit dem Kind, Gott Lob und Dank! Wenn er es nur auch wieder zu mir läßt, das Kind hat mir so wohl gemacht! Was hat es für ein gutes Herz und wie kann es so kurzweilig erzählen!» Und immer wieder freute sich die Großmutter, und bis sie in's Bett ging, sagte sie immer wieder: «Wenn es nur auch wiederkommt! Jetzt habe ich doch noch Etwas auf der Welt, auf das ich mich freuen kann!» Und die Brigitte stimmte jedes Mal ein, wenn die Großmutter wieder dasselbe sagte, und auch der Peter nickte jedes Mal zustimmend mit dem Kopf und zog seinen Mund weit auseinander vor Vergnüglichkeit und sagte: «Hab's schon gewußt.»
Unterdessen redete das Heidi in seinem Sack drinnen immerzu an den Großvater heran; da die Stimme aber nicht durch den achtfachen Umschlag dringen konnte und er daher kein Wort verstand, sagte er: «Wart' ein wenig, bis wir daheim sind, dann sag's.»
Sobald er nun, oben angekommen, in seine Hütte eingetreten war und Heidi aus seiner Hülle herausgeschält hatte, sagte es: «Großvater, morgen müssen wir den Hammer und die großen Nägel mitnehmen und den Laden festschlagen bei der Großmutter und sonst noch viele Nägel einschlagen, denn es kracht und klappert Alles bei ihr.»
[67] «Müssen wir? So, das müssen wir? Wer hat dir das gesagt?», fragte der Großvater.
«Das hat mir kein Mensch gesagt, ich weiß es sonst», entgegnete Heidi, «denn es hält Alles nicht mehr fest und es ist der Großmutter angst und bang, wenn sie nicht schlafen kann und es so thut, und sie denkt: Jetzt fällt Alles ein und gerade auf unsere Köpfe; und der Großmutter kann man gar nicht mehr hell machen, sie weiß gar nicht, wie man es könnte, aber du kannst es schon, Großvater; denk' nur, wie traurig es ist, wenn sie immer im Dunkeln ist und es ihr dann noch angst und bang ist und es kann ihr kein Mensch helfen, als du! Morgen wollen wir gehen und ihr helfen; gelt, Großvater, wir wollen?»
Heidi hatte sich an den Großvater angeklammert und schaute mit zweifellosem Vertrauen zu ihm auf. Der Alte schaute eine kleine Weile auf das Kind nieder, dann sagte er: «Ja, Heidi, wir wollen machen, daß es nicht mehr so klappert bei der Großmutter, das können wir; morgen thun wir's.»
Nun hüpfte das Kind vor Freude im ganzen Hüttenraum herum und rief ein Mal um's andere: «Morgen thun wir's! Morgen thun wir's!»
Der Großvater hielt Wort. Am folgenden Nachmittag wurde dieselbe Schlittenfahrt ausgeführt. Wie am vorhergehenden Tag stellte der Alte das Kind vor der Thüre der Gaißen=Peter-Hütte nieder und sagte: «Nun geh' hinein, und [68] wenn's Nacht wird, komm' wieder.» Dann legte er den Sack auf den Schlitten und ging um das Häuschen herum.
Kaum hatte Heidi die Thüre aufgemacht und war in die Stube hineingesprungen, so rief schon die Großmutter aus der Ecke: «Da kommt das Kind! Das ist das Kind!», und ließ vor Freude den Faden los und das Rädchen stehen und streckte beide Hände nach dem Kinde aus. Heidi lief zu ihr, rückte gleich das niedere Stühlchen ganz nahe an sie heran, setzte sich darauf und hatte der Großmutter schon wieder eine große Menge von Dingen zu erzählen und von ihr zu erfragen. Aber auf einmal ertönten so gewaltige Schläge an das Haus, daß die Großmutter vor Schrecken so zusammenfuhr, daß sie fast das Spinnrad umwarf, und zitternd ausrief: «Ach du mein Gott, jetzt kommt's, es fällt Alles zusammen!» Aber Heidi hielt sie fest um den Arm und sagte tröstend: «Nein, nein, Großmutter, erschrick du nur nicht, das ist der Großvater mit dem Hammer, jetzt macht er Alles fest, daß es dir nicht mehr angst und bang wird.»
«Ach, ist auch das möglich! Ist auch so etwas möglich! So hat uns doch der liebe Gott nicht ganz vergessen!», rief die Großmutter aus. «Hast du's gehört, Brigitte, was es ist, hörst du's? Wahrhaftig, es ist ein Hammer! Geh' hinaus, Brigitte, und wenn es der Alm=Oehi ist, so sag' ihm, er soll doch dann auch einen Augenblick hereinkommen, daß ich ihm auch danken kann.»
[69] Die Brigitte ging hinaus. Eben schlug der Alm=Oehi mit großer Gewalt neue Kloben in die Mauer ein; Brigitte trat an ihn heran und sagte: «Ich wünsche Euch guten Abend, Oehi, und die Mutter auch, und wir haben Euch zu danken, daß Ihr uns einen solchen Dienst thut, und die Mutter möchte Euch noch gern eigens danken drinnen; sicher, es hätte uns das nicht gerad Einer gethan, wir wollen Euch auch dran denken, denn sicher -»
«Macht's kurz», unterbrach sie der Alte hier; «was Ihr vom Alm=Oehi haltet, weiß ich schon. Geht nur wieder hinein; wo's fehlt, find ich selber.»
Brigitte gehorchte sogleich, denn der Oehi hatte eine Art, der man sich nicht leicht widersetzte. Er klopfte und hämmerte um das ganze Häuschen herum, stieg dann das schmale Treppchen hinauf bis unter das Dach, hämmerte weiter und weiter, bis er auch den letzten Nagel eingeschlagen, den er mitgebracht hatte. Unterdessen war auch schon die Dunkelheit hereingebrochen, und kaum war er heruntergestiegen und hatte seinen Schlitten hinter dem Gaißenstall hervorgezogen, als auch schon Heidi aus der Thüre trat und vom Großvater wie gestern verpackt auf den Arm genommen und der Schlitten nachgezogen wurde, denn allein da drauf sitzend, wäre die ganze Umhüllung vom Heidi abgefallen, und es wäre fast oder ganz erfroren. Das wußte der Großvater wohl und hielt das Kind ganz warm in seinem Arm.
[70] So ging der Winter dahin. In das freudlose Leben der blinden Großmutter war nach langen Jahren eine Freude gefallen und ihre Tage waren nicht mehr lang und dunkel, einer wie der andere, denn nun hatte sie immer Etwas in Aussicht, nach dem sie verlangen konnte. Vom frühen Morgen an lauschte sie auch schon auf den trippelnden Schritt, und ging dann die Thüre auf und das Kind kam wirklich dahergesprungen, dann rief sie jedes Mal in lauter Freude: «Gott Lob, da kommt's wieder!» Und Heidi setzte sich zu ihr und plauderte und erzählte so lustig von Allem, was es wußte, daß es der Großmutter ganz wohl machte und ihr die Stunden dahin gingen, sie merkte es nicht, und kein einziges Mal fragte sie mehr so wie früher: «Brigitte, ist der Tag noch nicht um?», Sondern jedes Mal, wenn Heidi die Thür hinter sich schloss, sagte sie: «Wie war doch der Nachmittag so kurz; ist es nicht wahr, Brigitte?» Und diese sagte: «Doch sicher, es ist mir, wir haben erst die Teller vom Essen weggestellt.» Und die Großmutter sagte wieder: «Wenn mir nur der Herr Gott das Kind erhält und dem Alm=Oehi den guten Willen! Sieht es auch gesund aus, Brigitte?» Und jedes Mal erwiderte diese: «Es sieht aus wie ein Erdbeerapfel.»
Heidi hatte auch eine große Anhänglichkeit an die alte Großmutter, und wenn es ihm wieder in den Sinn kam, daß ihr gar Niemand, auch der Großvater nicht mehr hell machen konnte, überkam es immer wieder eine große Be[71]trübniß; aber die Großmutter sagte ihm immer wieder, daß sie am wenigsten davon leide, wenn es bei ihr sei, und Heidi kam auch an jedem schönen Wintertag heruntergefahren auf seinem Schlitten. Der Großvater hatte, ohne weitere Worte, so fortgefahren, hatte jedes Mal den Hammer und allerlei andere Sachen mit aufgeladen und manchen Nachmittag durch an dem Gaißenpeter=Häuschen herumgeklopft. Das hatte aber auch seine gute Wirkung; es krachte und klapperte nicht mehr die ganzen Nächte durch, und die Großmutter sagte, so habe sie manchen Winter lang nicht mehr schlafen können, das wolle sie auch dem Oehi nie vergessen.
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