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- H e i d i ' s L e h r -
u n d W a n d e r j a h r e .
C a p i t e l V I I I .
I m H a u s e S e s e m a n n
g e h t ' s u n r u h i g z u .
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[124]
Als Sebastian am folgenden Morgen dem Herrn Candidaten die Hausthüre geöffnet und ihn zum Studierzimmer geführt hatte, zog schon wieder Jemand die Hausglocke an, aber mit solcher Gewalt, daß Sebastian die Treppe völlig hinunterschoß, denn er dachte: «So schellt nur der Herr Sesemann selbst, er muß unerwartet nach Hause gekommen sein.» Er riß die Thüre auf - ein zerlumpter Junge mit einer Drehorgel auf dem Rücken stand vor ihm.
«Was soll das heißen?», fuhr ihn Sebastian an. «Ich will dich lehren, Glocken herunterzureißen! Was hast du hier zu thun?»
«Ich muß zur Klara», war die Antwort.
«Du ungewaschener Straßenkäfer du; kannst du nicht sagen Fräulein Klara, wie unsereins thut? Was hast du bei Fräulein Klara zu thun?», fragte Sebastian barsch.
«Sie ist mir vierzig Pfennige schuldig», erklärte der Junge.
[125] «Du bist, denk ich, nicht recht im Kopf! Wie weißt du überhaupt, daß ein Fräulein Klara hier ist?»
«Gestern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig, und dann wieder zurück den Weg gezeigt, macht vierzig.»
«Da siehst du, was für Zeug du zusammenflunkerst; Fräulein Klara geht niemals aus, kann gar nicht gehen, mach, daß du dahin kommst, wo du hin gehörst, bevor ich dir dazu verhelfe!»
Aber der Junge ließ sich nicht einschüchtern; er blieb unbeweglich stehen und sagte trocken: «Ich habe sie doch gesehen auf der Straße, ich kann sie beschreiben: Sie hat kurzes, krauses Haar, das ist schwarz, und die Augen sind schwarz und der Rock ist braun, und sie kann nicht reden wie wir.»
«Oho» , dachte jetzt Sebastian und kicherte in sich hinein, «das ist die kleine Mamsell, die hat wieder Etwas angestellt.» Dann sagte er, den Jungen hereinziehend: «'s ist schon recht, komm mir nur nach und warte vor der Thüre, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich dann einlasse, kannst du gleich Etwas spielen; das Fräulein hört es gern.»
Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde hereingerufen.
«Es ist ein Junge da, der durchaus an Fräulein Klara selbst Etwas zu bestellen hat», berichtete Sebastian.
Klara war sehr erfreut über das außergewöhnliche Ereigniß.
[126] «Er soll nur gleich hereinkommen», sagte sie, «nicht wahr, Herr Candidat, wenn er doch mit mir selbst sprechen muß.»
Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort seine Orgel zu drehen an. Fräulein Rottenmeier hatte, um dem ABC auszuweichen, sich im Eßzimmer Allerlei zu schaffen gemacht. Auf einmal horchte sie auf. - Kamen die Töne von der Straße her? Aber so nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertönen? Und dennoch - wahrhaftig - sie stürzte durch das lange Eßzimmer und riß die Thüre auf. Da - unglaublich - da stand mitten im Studierzimmer ein zerlumpter Orgelspieler und drehte sein Instrument mit größter Emsigkeit. Der Herr Candidat schien immerfort Etwas sagen zu wollen, aber es wurde Nichts vernommen. Klara und Heidi hörten mit ganz erfreuten Gesichtern der Musik zu.
«Aufhören! Sofort aufhören!», rief Fräulein Rottenmeier in's Zimmer hinein. Ihre Stimme wurde übertönt von der Musik. Jetzt lief sie auf den Jungen zu - aber auf einmal hatte sie Etwas zwischen den Füßen, sie sah auf den Boden: ein grausiges, schwarzes Thier kroch ihr zwischen den Füßen durch - eine Schildkröte. Jetzt that Fräulein Rottenmeier einen Sprung in die Höhe, wie sie seit vielen Jahren keinen gethan hatte, dann schrie sie aus Leibeskräften: «Sebastian! Sebastian!»
[127] Plötzlich hielt der Orgelspieler inne, denn dießmal hatte die Stimme die Musik übertönt. Sebastian stand draußen vor der halb offenen Thüre und krümmte sich vor Lachen, denn er hatte zugesehen, wie der Sprung vor sich ging. Endlich kam er herein. Fräulein Rottenmeier war auf einen Stuhl niedergesunken.
«Fort mit allem, Mensch und Thier! Schaffen Sie sie weg, Sebastian, sofort!», rief sie ihm entgegen. Sebastian gehorchte bereitwillig, zog den Jungen hinaus, der schnell seine Schildkröte erfaßt hatte, drückte ihm draußen Etwas in die Hand und sagte: «Vierzig für Fräulein Klara, und vierzig für's Spielen, das hast du gut gemacht»; damit schloß er hinter ihm die Hausthüre. Im Studierzimmer war es wieder ruhig geworden; die Studien wurden wieder fortgesetzt, und Fräulein Rottenmeier hatte sich nun auch festgesetzt in dem Zimmer, um durch ihre Gegenwart ähnliche Gräuel zu verhüten. Den Vorfall wollte sie nach den Unterrichtsstunden untersuchen und den Schuldigen so bestrafen, daß er daran denken würde.
Schon wieder klopfte es an die Thür, und herein trat abermals Sebastian mit der Nachricht, es sei ein großer Korb gebracht worden, der sogleich an Fräulein Klara selbst abzugeben sei.
«An mich?», fragte Klara erstaunt und äußerst neugierig, was das sein möchte; «zeigen Sie doch gleich einmal her, wie er aussieht.»
[128] Sebastian brachte einen bedeckten Korb herein und entfernte sich dann eilig wieder.
«Ich denke, erst wird der Unterricht beendet, dann der Korb ausgepackt», bemerkte Fräulein Rottenmeier.
Klara konnte sich nicht vorstellen, was man ihr gebracht hatte; sie schaute sehr verlangend nach dem Korb.
«Herr Candidat», sagte sie, sich selbst in ihrem Decliniren unterbrechend, «könnte ich nicht nur einmal schnell hineinsehen, um zu wissen, was drinn ist, und dann gleich wieder fortfahren?»
«In einer Hinsicht könnte man dafür, in einer andern dawider sein», entgegnete der Herr Candidat; «d a f ü r spräche der Grund, daß, wenn nun Ihre ganze Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet ist» - die Rede konnte nicht beendigt werden. Der Deckel des Korbes saß nur lose darauf, und nun sprangen mit einem Mal ein, zwei drei und wieder zwei und immer noch mehr junge Kätzchen darunter hervor und in's Zimmer hinaus, und mit einer so unbegreiflichen Schnelligkeit fuhren sie überall herum, daß es war, als wäre das ganze Zimmer voll solcher Thierchen. Sie sprangen über die Stiefel des Herrn Candidaten, bissen an seinen Beinkleidern, kletterten am Kleid von Fräulein Rottenmeier empor, krabbelten um ihre Füße herum, sprangen an Klara's Sessel hinauf, kratzten, krabbelten, miauten; es war ein arges Gewirre. Klara rief immerfort voller Entzücken: «O, die niedlichen Thierchen! Die lustigen Sprünge! [129] sieh'! sieh'! Heidi, hier, dort, sieh' dieses!» Heidi schoß ihnen vor Freude in alle Winkel nach. Der Herr Candidat stand sehr verlegen am Tisch und zog bald den einen, bald den andern Fuß in die Höhe, um ihn dem unheimlichen Gekrabbel zu entziehen. Fräulein Rottenmeier saß erst sprachlos vor Entsetzen in ihrem Sessel, dann fing sie an aus Leibeskräften zu schreien: «Tinette! Tinette! Sebastian! Sebastian!», denn vom Sessel aufzustehen konnte sie unmöglich wagen, da könnten ja mit einem Mal alle die kleinen Scheusale an ihr emporspringen.
Endlich kamen Sebastian und Tinette auf die wiederholten Hülferufe herbei, und jener packte gleich eins nach dem andern der kleinen Geschöpfe in den Korb hinein und trug sie auf den Estrich zu dem Katzenlager, das er für die Zweie von gestern bereitet hatte.
Auch am heutigen Tage hatte kein Gähnen während der Unterrichtsstunden stattgefunden. Am späten Abend, als Fräulein Rottenmeier sich von den Aufregungen des Morgens wieder hinlänglich erholt hatte, berief sie Sebastian und Tinette in's Studierzimmer herauf, um hier eine gründliche Untersuchung über die strafwürdigen Vorgänge anzustellen. Nun kam es denn heraus, daß Heidi auf seinem gestrigen Ausflug die sämmtlichen Ereignisse vorbereitet und herbeigeführt hatte. Fräulein Rottenmeier saß weiß vor Entrüstung da und konnte erst keine Worte für ihre Empfindungen finden. Sie winkte mit der Hand, daß [130] Sebastian und Tinette sich entfernen sollten. Jetzt wandte sie sich an Heidi, das neben Klara's Sessel stand und nicht recht begriff, was es verbrochen hatte.
«Adelheid», begann sie mit strengem Ton, «ich weiß nur Eine Strafe, die dir empfindlich sein könnte, denn du bist eine Barbarin; aber wir wollen sehen, ob du unten im dunklen Keller bei Molchen und Ratten nicht zahm wirst, daß du dir keine solchen Dinge mehr einfallen lässest.»
Heidi hörte still und verwundert sein Urtheil an, denn in einem schreckhaften Keller war es noch nie gewesen, der anstoßende Raum in der Almhütte, den der Großvater Keller nannte, wo immer die fertigen Käse lagen und die frische Milch stand, war eher ein anmuthiger und einladender Ort, und Ratten und Molche hatte es noch keine gesehen.
Aber Klara erhob einen lauten Jammer: «Nein, nein, Fräulein Rottenmeier, man muß warten, bis der Papa da ist; er hat ja geschrieben, er komme nun bald, und dann will ich ihm Alles erzählen, und er sagt dann schon, was mit Heidi geschehen soll.»
Gegen diesen Oberrichter durfte Fräulein Rottenmeier Nichts einwenden, um so weniger, da er wirklich in Bälde zu erwarten war. Sie stand auf und sagte Etwas grimmig: «Gut, Klara, gut, aber auch ich werde ein Wort mit Herrn Sesemann sprechen.» Damit verließ sie das Zimmer. -
Es verflossen nun ein paar ungestörte Tage, aber [131] Fräulein Rottenmeier kam nicht mehr aus der Aufregung heraus, stündlich trat ihr die Täuschung vor Augen, die sie in Heidi's Persönlichkeit erlebt hatte, und es war ihr, als sei seit seiner Erscheinung im Hause Sesemann Alles aus den Fugen gekommen und komme nicht wieder hinein. Klara war sehr vergnügt; sie langweilte sich nie mehr, denn in den Unterrichtsstunden machte Heidi die kurzweiligsten Sachen: die Buchstaben machte es immer alle durcheinander und konnte sie nie kennen lernen, und wenn der Herr Candidat mitten im Erklären und Beschreiben ihrer Formen war, um sie ihm anschaulicher zu machen und als Vergleichung etwa von einem Hörnchen oder einem Schnabel sprach dabei, rief es auf einmal in aller Freude aus: «Es ist eine Gaiß!», oder: «Es ist ein Raubvogel!» Denn die Beschreibungen weckten in seinem Gehirn allerlei Vorstellungen, nur keine Buchstaben. In den spätern Nachmittagsstunden saß Heidi wieder bei Klara und erzählte ihr immer wieder von der Alm und dem Leben dort, so viel und so lange, bis das Verlangen darnach in ihm so brennend wurde, daß es immer zum Schluß versicherte: «Nun muß ich gewiß wieder heim! Morgen muß ich gewiß gehen!» Aber Klara beschwichtigte immer wieder diese Anfälle und bewies Heidi, daß es doch sicher da bleiben müsse, bis der Papa komme; dann werde man schon sehen, wie es weiter gehe. Wenn Heidi alsdann immer wieder nachgab und gleich wieder zufrieden war, so half ihm eine fröhliche Aussicht dazu, die [132] es im Stillen hatte, daß mit jedem Tage, den es noch da blieb, sein Häuflein Brödchen für die Großmutter wieder um zwei größer würde, denn Mittags und Abends lag immer ein schönes Weißbrödchen bei seinem Teller; das steckte es gleich ein, denn es hätte das Brödchen nicht essen können beim Gedanken, daß die Großmutter nie eines habe und das harte, schwarze Brod fast nicht mehr essen konnte. Nach Tisch saß Heidi jeden Tag ein paar Stunden lang ganz allein in seinem Zimmer und regte sich nicht, denn daß es in Frankfurt verboten war, nur so hinauszulaufen, wie es auf der Alm gethan, das hatte es nun begriffen und that es nie mehr. Mit Sebastian drüben im Eßzimmer ein Gespräch führen durfte es auch nicht, das hatte Fräulein Rottenmeier auch verboten, und mit Tinette eine Unterhaltung zu probiren, daran kam ihm kein Sinn; es ging ihr immer scheu aus dem Wege, denn sie redete nur in höhnischem Ton mit ihm und spöttelte es fortwährend an, und Heidi verstand ihre Art ganz gut, und daß sie es nur immer ausspottete. So saß Heidi täglich da und hatte alle Zeit, sich auszudenken, wie nun die Alm wieder grün war und wie die gelben Blümchen im Sonnenschein glitzerten und wie Alles leuchtete rings um die Sonne, der Schnee und die Berge und das ganze weite Thal, und Heidi konnte es manchmal fast nicht mehr aushalten vor Verlangen, wieder dort zu sein. Die Base hatte ja auch gesagt, es könne wieder heimgehen, wann es wolle. So kam es, daß [133] Heidi eines Tages es nicht mehr aushielt; es packte in aller Eile seine Brödchen in das große rothe Halstuch zusammen, setzte sein Strohhütchen auf und zog aus. Aber schon unter der Hausthüre traf es auf ein großes Reisehinderniß, auf Fräulein Rottenmeier selbst, die eben von einem Ausgang zurückkehrte. Sie stand still und schaute in starrem Erstaunen Heidi von oben bis unten an, und ihr Blick blieb vorzüglich auf dem gefüllten rothen Halstuch haften. Jetzt brach sie los.
«Was ist das für ein Aufzug? Was heißt das überhaupt? Habe ich dir nicht streng verboten, je wieder herumzustreichen? Nun probirst du's doch wieder und dazu noch völlig aussehend wie eine Landstreicherin.»
«Ich wollte nicht herumstreichen, ich wollte nur heimgehen», entgegnete Heidi erschrocken.
«Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wolltest du?» Fräulein Rottenmeier schlug die Hände zusammen vor Aufregung. «Fortlaufen! Wenn das Herr Sesemann wüßte! Fortlaufen aus seinem Hause! Mach' nicht, daß er das je erfährt! Und was ist dir denn nicht recht in seinem Hause? Wirst du nicht viel besser behandelt, als du verdienst? Fehlt es dir an irgendetwas? Hast du je in deinem ganzen Leben eine Wohnung oder einen Tisch oder eine Bedienung gehabt, wie du hier hast? sag!»
«Nein» , entgegnete Heidi.
«Das weiß ich wohl!», fuhr die Dame eifrig fort. [134] «Nichts fehlt dir, gar Nichts, du bist ein ganz unglaublich undankbares Kind, und vor lauter Wohlsein weißt du nicht, was du noch Alles anstellen willst!»
Aber jetzt kam dem Heidi Alles obenauf, was in ihm war, und brach hervor: «Ich will ja nur heim, und wenn ich so lang nicht komme, so muß das Schneehöppli immer klagen, und die Großmutter erwartet mich, und der Distelfink bekommt die Ruthe, wenn der Gaißenpeter keinen Käse bekommt, und hier kann man gar nie sehen, wie die Sonne gute Nacht sagt zu den Bergen; und wenn der Raubvogel in Frankfurt oben über fliegen würde, so würde er noch viel lauter krächzen, daß so viele Menschen bei einander sitzen und einander bös machen und nicht auf den Felsen gehen, wo es Einem wohl ist.»
«Barmherzigkeit, das Kind ist übergeschnappt!», rief Fräulein Rottenmeier aus und stürzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo sie sehr unsanft gegen den Sebastian rannte, der eben hinunter wollte. «Holen Sie auf der Stelle das unglückliche Wesen herauf!», rief sie ihm zu, indem sie sich den Kopf rieb, denn sie war hart angestoßen.
«Ja, ja, schon recht, danke schön», gab Sebastian zurück und rieb sich den seinen, denn er war noch harter angefahren.
Heidi stand mit flammenden Augen noch auf derselben Stelle fest und zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper.
[135] «Na, schon wieder was angestellt?», fragte Sebastian lustig; als er aber Heidi, das sich nicht rührte, recht ansah, klopfte er ihm freundlich auf die Schulter und sagte tröstend: «Bah! bah! das muß sich das Mamsellchen nicht so zu Herzen nehmen, nur lustig, das ist die Hauptsache! Sie hat mir eben jetzt auch fast ein Loch in den Kopf gerannt; aber nur nicht einschüchtern lassen! Na? immer noch auf demselben Fleck? Wir müssen hinauf, sie hat's befohlen.»
Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langsam und leise und gar nicht, wie sonst seine Art war. Das that dem Sebastian Leid zu sehen; er ging hinter dem Heidi her und sprach ermutigende Worte zu ihm: «Nur nicht abgeben! Nur nicht traurig werden! Nur immer tapfer drauf zu! Wir haben ja ein ganz vernünftiges Mamsellchen, hat noch gar nie geweint, seit es bei uns ist; sonst weinen sie ja zwölf Mal im Tag in dem Alter, das kennt man. Die Kätzchen sind auch lustig droben, die springen auf dem ganzen Estrich herum und thun wie närrisch. Nachher gehen wir 'mal zusammen hinauf und schauen ihnen zu, wenn die Dame drinnen weg ist, ja?»
Heidi nickte ein wenig mit dem Kopf, aber so freudlos, daß es dem Sebastian recht zu Herzen ging und er ganz theilnehmend dem Heidi nachschaute, wie es nach seinem Zimmer hinschlich.
Am Abendessen heute sagte Fräulein Rottenmeier kein [136] Wort, aber fortwährend warf sie sonderbar wachsame Blicke zu Heidi hinüber, so als erwartete sie, es könnte plötzlich etwas Unerhörtes unternehmen; aber Heidi saß mäuschenstill am Tisch und rührte sich nicht, es aß nicht und trank nicht; nur sein Brödchen hatte es schnell in die Tasche gesteckt.
Am folgenden Morgen, als der Herr Candidat die Treppe heraufkam, winkte ihn Fräulein Rottenmeier geheimnißvoll in's Eßzimmer herein, und hier theilte sie ihm in großer Aufregung ihre Besorgniß mit, die Luftveränderung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindrücke hätten das Kind um den Verstand gebracht, und sie erzählte ihm von Heidi's Fluchtversuch und wiederholte ihm von seinen sonderbaren Reden, was sie noch wußte. Aber der Herr Candidat besänftigte und beruhigte Fräulein Rottenmeier, indem er sie versicherte, daß er die Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid sei zwar einerseits allerdings eher excentrisch, aber anderseits doch wieder bei richtigem Verstand, so daß sich nach und nach bei einer allseitig erwogenen Behandlung das nöthige Gleichgewicht einstellen könne, was er im Auge habe; er finde den Umstand wichtiger, daß er durchaus nicht über das ABC hinauskomme mit ihr, indem sie die Buchstaben nicht zu fassen imstande sei.
Fräulein Rottenmeier fühlte sich beruhigter und entließ den Herrn Candidaten zu seiner Arbeit. Am späteren Nach[137]mittag stieg ihr die Erinnerung an Heidi's Aufzug bei seiner vorgehabten Abreise auf, und sie beschloß, die Gewandung des Kindes durch verschiedene Kleidungsstücke der Klara in den nöthigen Stand zu setzen, bevor Herr Sesemann erscheinen würde. Sie theilte ihre Gedanken darüber an Klara mit, und da diese mit allem einverstanden war und dem Heidi eine Menge Kleider und Tücher und Hüte schenken wollte, verfügte sich die Dame in Heidi's Zimmer, um seinen Kleiderschrank zu besehen und zu untersuchen, was da von dem Vorhandenen bleiben und was entfernt werden solle. Aber in wenig Minuten kam sie wieder zurück mit Geberden des Abscheus. «Was muß ich entdecken, Adelheid!», rief sie aus. «es ist nie dagewesen! In deinem Kleiderschrank, einem Schrank für Kleider, Adelheid, im Fuß dieses Schrankes, was finde ich? Einen Haufen kleiner Brode! Brod, sage ich, Klara, im Kleiderschrank! Und einen solchen Haufen aufspeichern!» - «Tinette», rief sie jetzt in's Eßzimmer hinaus, «schaffen Sie mir das alte Brod fort aus dem Schrank der Adelheid und den zerdrückten Strohhut auf dem Tisch!»
«Nein! Nein!», schrie Heidi auf; «ich muß den Hut haben, und die Brödchen sind für die Großmutter», und Heidi wollte der Tinette nachstürzen, aber es wurde von Fräulein Rottenmeier festgehalten.
«Du bleibst hier und der Kram wird hingebracht, wo er hin gehört», sagte sie bestimmt und hielt das Kind zu[138]rück. Aber nun warf sich Heidi an Klara's Sessel nieder und fing ganz verzweiflungsvoll zu weinen an, immer lauter und schmerzlicher, und schluchzte ein Mal um's andere in seinem Jammer auf: «Nun hat die Großmutter keine Brödchen mehr. Sie waren für die Großmutter, nun sind sie alle fort und die Großmutter bekommt keine!», und Heidi weinte auf, als wollte ihm das Herz zerspringen. Fräulein Rottenmeier lief hinaus. Klara wurde es angst und bange bei dem Jammer. «Heidi, Heidi, weine nur nicht so», sagte sie bittend, «hör' mich nur! Jammere nur nicht so, sieh', ich verspreche dir, ich gebe dir gerade so viel Brödchen für die Großmutter, oder noch mehr, wenn du einmal heimgehst, und dann sind diese frisch und weich, und die deinen wären ja ganz hart geworden und waren es schon. Komm', Heidi, weine nur nicht mehr so!»
Heidi konnte noch lange nicht aus seinem Schluchzen herauskommen; aber es verstand Klara's Trost und hielt sich daran, sonst hätte es gar nicht mehr zu weinen aufhören können. Es mußte auch noch mehrere Male seiner Hoffnung gewiß werden und Klara, durch die letzten Anfälle von Schluchzen unterbrochen, fragen: «Gibst du mir so viele, viele, wie ich hatte, für die Großmutter?»
Und Klara versicherte immer wieder: «Gewiß, ganz gewiß, noch mehr, sei nur wieder froh!»
Noch zum Abendtisch kam Heidi mit den rothverweinten Augen, und als es sein Brödchen erblickte, mußte es gleich [139] noch einmal aufschluchzen. Aber es bezwang sich jetzt mit Gewalt, denn es verstand, daß es sich am Tisch ruhig verhalten mußte. Sebastian machte heute jedes Mal die merkwürdigsten Geberden, wenn er in Heidi's Nähe kam; er deutete bald auf seinen, bald auf Heidi's Kopf, dann nickte er wieder und kniff die Augen zu, so als wollte er sagen: «Nur getrost! Ich hab's schon gemerkt und besorgt.»
Als Heidi später in sein Zimmer kam und in sein Bett steigen wollte, lag sein zerdrücktes Strohhütchen unter der Decke versteckt. Mit Entzücken zog es den alten Hut hervor, zerdrückte ihn vor lauter Freude noch ein wenig mehr und versteckte ihn dann, in ein Taschentüchlein eingewickelt, in die allerhinterste Ecke seines Schrankes. Das Hütchen hatte der Sebastian unter die Decke gesteckt; er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Eßzimmer gewesen, als diese gerufen wurde, und hatte Heidi's Jammerruf vernommen. Dann war er Tinette nachgegangen, und als sie aus Heidi's Zimmer heraustrat mit ihrer Brodlast und dem Hütchen oben darauf, hatte er schnell dieses weggenommen und ihr zugerufen: «Das will ich schon fort thun.» Darauf hatte er es in aller Freude für Heidi gerettet, was er ihm beim Abendessen zur Erheiterung andeuten wollte.
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