BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Hermann Broch

1886 - 1951

 

Der Tod des Vergil

 

1945

 

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Feuer – Der Abstieg

 

Er lag und lauschte, von Zeit zu Zeit, wenn auch in immer größeren Abständen und ohne neuerlichen Blutauswurf, packte es ihn aufs neue, und anfangs hatte er sogar geglaubt, nun doch den Sklaven aus dem Nebenraum herrufen zu müssen, damit der Arzt geholt werde; aber das Rufen hätte zu viel Mühe gekostet, und die Störung durch den Arzt wäre unerträglich gewesen: er wollte allein bleiben –, nichts war dringlicher als allein zu bleiben, um nochmals und nochmals alles Sein in sich zu versammeln, um lauschen zu können; dies war das Dringlichste. Die Beine ein wenig hochgezogen, hatte er sich zur Seite gerollt, sein Kopf ruhte auf den Kissen, die Hüfte drückte sich in die Matratze ein, die Knie waren aufeinander geschichtet wie zwei fremde Wesen, und in einer sehr großen Entfernung wohnten die Fußknöchel, desgleichen die Fersen. Wie oft, oh, wie oft schon hatte er so auf die Erscheinungen des Liegens achtgehabt! Ja, es war geradezu beschämend, daß er sich von dieser kindischen Gewohnheit nicht losreißen konnte! Er erinnerte sich genau jener für ihn höchst merkwürdigen Nacht, in welcher er – als Achtjähriger – erstmalig dessen innegeworden war, daß es am bloßen Liegen etwas zu beobachten gab: es war in Cremona zur Winterszeit; er lag in seiner Kammer, die Tür, welche zu dem stillen Peristylhof hinausführte, war rissig, schloß schlecht, bewegte sich ein wenig, und das war unheimlich; draußen strich der Wind raschelnd über die winterlich mit Stroh zugedeckten Beete, und von irgendwoher, wahrscheinlich von der baumelnden Laterne unter dem Torweg, kam taktmäßig pendelnd der schwache Widerschein eines Lichtes in die Kammer geglitten, kam immer wieder, kam wie ein letztes Echo unendlichen Flutens, wie ein letztes Echo unendlicher Zeitabläufe, wie ein letztes Echo eines unendlich fernen Auges, so verloren, so gebrochen, so drohend vor Ferne, so ferneträchtig, daß es gleichsam eine Aufforderung war, nach dem Bestand und Nichtbestand des eigenen Selbst zu fragen-und genau so wie damals, freilich durch die seitdem allnächtlich angestellte Wiederholung auch bewußter gemacht und verdeutlicht, genau so wie damals nach Bestand und Nichtbestand seiner Körperlichkeit fragend, genau so spürte er auch heute jede einzelne der Stellen, an denen sein Körper am Lager aufruhte, und genau so wie damals waren sie Wogenkämme, über die sein Schiff mit leichtem Eintauchen hinwegschwamm, während sich dazwischen unermeßlich tiefe Wogentäler auftaten. Gewiß, es ging nicht darum, und wenn er jetzt hatte allein bleiben wollen, so war es wahrlich nicht geschehen, um kindische Beobachtungen fortzusetzen, zu denen er den kleinen Nachtgefährten ohneweiters hätte hierbehalten können, nein, es ging um Wesentlicheres und Endgültigeres, um Etwas, dessen Wirklichkeit sehr groß sein mußte, so groß, daß sie sogar die der Dichtung und ihres Zwischenreiches zu übertreffen hatte, es ging um etwas, das wirklicher sein mußte als Nacht und Dämmerung, und nicht nur wirklicher, sondern damit auch irdischer sogar, es ging um etwas, für das es sich verlohnte alles Sein in sich zu versammeln, und verwunderlich war nur, daß sich das Kindische und Nebensächliche nicht gründlicher zurückdrängen ließ, daß es mit seinen Bildern und Aber-Bildern wie eh und je vorhanden war, daß in der Kette der Erinnerung, in die wir geschmiedet sind, die ersten Glieder die gewichtigsten sein sollten, als wären sie, gerade sie, die wirklichste Wirklichkeit. Fast schien es unmöglich, mehr noch, fast schien es unstatthaft, daß unsere letzterreichbare, wirklichste Wirklichkeit sich darauf beschränkte bloßes Erinnerungsbild zu sein! Nichtsdestoweniger, bildgesegnet und bildverflucht ist das menschliche Leben; nur in Bildern vermag es sich selbst zu erfassen, unbannbar sind die Bilder, sie sind in uns seit Herdenbeginn, sie sind früher und mächtiger als unser Denken, sie sind im Zeitlosen, schließen Vergangenheit und Zukunft in sich ein, doppelte Traumerinnerung sind sie, und sie sind mächtiger als wir: Bild sich selber war er, der hier lag, und hinsteuernd zu wirklichster Wirklichkeit, getragen von unsichtbaren Wogen, eintauchend in sie, war das Bild des Schiffes sein eigenes Bild, uns der Dunkelheit kommend, in die Dunkelheit ziehend, in die Dunkelheit sinkend, er war selber das unermeßliche Schiff, das zugleich selber die Unermeßlichkeit ist, und er war selber die Nacht, die in diese Unermeßlichkeit zielt, er selber das fliehende Schiff, er selber das Ziel, unermeßlich er selber, unermeßlich, unübersehbar, unausdenkbar, eine unendliche Körperlandschaft die Landschaft seines Körpers, ein gewaltig hin gebreitetes Unterweltsbild der Nacht, so daß er, verlustig der Einheit menschlichen Lebens, verlustig der Einheit menschlicher Sehnsucht, schon längst nicht mehr sich für fähig hielt die Herrschaft über Nein Selbst auszuüben, wissend um all die getrennten Regionen und Provinzen, in welche sich das eineinzig über das Unendliche hingebreitete Ich hatte zerteilen müssen, wissend um all die Dämonenherrschaften, welche statt seiner deren Verwaltung übernommen hatten, abgesondert nach Bezirken in ihrer Vielfalt; ach, es waren die aufgewühlten, aufgeackerten Bezirke der Nchmerzenden Lunge, es waren die des Fiebers, des unheimlichen, das aus unbekanntesten rotglühenden Tiefen zur Haut heraufwellt, und es waren die Bezirke der Eingeweideabgründe sowie die noch fürchterlicheren der Geschlechtlichkeit, die einen wie die ändern schlangenerfüllt, schlangendurchwachsen, cs waren die Bezirke der Gliedmaßen in ihrem ungezügelten Eigenleben, nicht zuletzt die der Finger, und all diese Dämonenbezirke, manche näher, manche ferner von ihm angesiedelt, manche freundlicher, manche feindlicher sowohl zu einander wie auch zu ihm eingestellt – am nächsten und ihm am meisten zu eigen war ihm noch das Sinnhafte, waren ihm Auge und Ohr und deren Bezirke –all diese Bereiche des Körperlichen und Oberkörperlichen, harte Wirklichkeit des steinernen Knochengerüstes, sie wurden in ihrer ganzen Fremdheit, in ihrer zerfallenen Brüchigkeit, in ihrer Entlegenheit, in ihrer Feindlichkeit, in ihrer unerfaßlichen Unendlichkeit von ihm gewußt, sinnenhaft und übersinnenhaft, denn sie waren insgesamt, und er mit ihnen, als wäre dies das gegenseitige Wissen, in jenem großen Fluten eingebettet, das über alles Menschliche und alles Ozeanische hinausreicht, in jenem gezeitenschweren, aus- und zurückwogenden, aus- und zurückschwingenden Fluten, dessen heimkehrende Brandung stets an des Herzens Küste schlägt und es zum unablässigen Pochen bringt, Bildwirklichkeit und Wirklichkeitsbild in einem, so wogentief, daß in seiner Tiefe sich das Getrennteste versammelt, unvereinigt noch, doch vereinigt zu künftiger Wiedergeburt; oh, Uferbrandung der Erkenntnis, ihre ewig steigende Flut keimgesättigt von jedwedem Trost und jedweder Hoffnung, oh, nacht schwere, keimschwere, raumschwere Frühlingsflut, und, wissend von diesem seinem gewaltigsten Ichbild, wußte er von der Überwindung des Dämonischen durch eine Wirklichkeitssicherheit, deren Bild im Unbeschreiblichen liegt und trotzdem schon die Welteneinheit umschließt. Denn prall von Wirklichkeit sind die Bilder, weil Wirklichkeit stets nur wieder durch Wirklichkeit versinnbildlicht wird –, Bilder und Aber-Bilder, Wirklichkeiten und Aber-Wirklichkeiten, keine wahrhaft wirklich, solange sie alleine steht, dennoch jede einzelne Sinnbild einer letztwirklichen Unerkennbarkeit, die ihre Gesamtheit ist. Und hatte er in den vielen vergangenen Jahren immer gieriger und neugieriger den Zerfall und die Brüchigkeit verfolgt, die er in seinem Körper arbeiten spürte, hatte er, um dieser verwunderlichen und verwunderten Neugierde willen, gerne das Ungemach der Krankheit und der Schmerzen auf sich genommen, ja, hatte er – und was immer der Mensch tut, es wird ihm zu deutlicherem oder undeutlicherem Sinnbild – unausgesetzt den Wunsch in sich getragen, den selten bewußten, dennoch stets ungeduldigen Wunsch, es möge seine körperliche Einheit, die ihm mehr und mehr zu einer Scheineinheit geworden war, endlich aufgelöst werden, je rascher desto lieber, damit das Außergewöhnliche erfolge, damit Auflösung zur Erlösung werde, zur neuen Einheit, zum endgültigen Sinn, und hatte ihn dies alles von frühester Jugend an begleitet und verfolgt, zumindest seit jener Nacht in Cremona, vermutlich jedoch schon seit der Kinderzeit in Andes, sei es zuerst als spielerisch leichte, kindische Ängstlichkeit, sei es als wuchtig gedächtnisauslöschende Furcht, unerinnerbar heute das eine wie das andere, es hatte ihn zugleich auch die Frage nach der Bedeutung solchen Geschehens nie verlassen, sie war in all seinem Vorlauschen, Vorsuchen, Vorfühlen allnächtlich enthalten gewesen, und genau so wie er einst, das Kind in Andes, der Knabe in Cremona, auf seinem Bette gelegen hatte, Knie an Knie gepreßt, eingesenkt sein Geist ins Vorträumen, eingesenkt Geist wie Körper in das Schiff seines Seins, hingebreitet über die weiten Erdflächen, er selber Berg, selber Feld, selber Erde, selber das Schiff, er selber der Ozean, lauschend in die Nacht des Innern und Außen, ahnend wohl seit jeher, daß dieses Lauschen bereits einer Erkenntniserfüllung galt, für die sein ganzes Leben gelebt werden sollte, genau so geschah es ihm" wiederum, geschah es ihm hier und jetzt, geschah es ihm heute; es geschah ihm das, was ihm seit jeher, deutlicher und deutlicher werdend, stets aufs neue geschehen war, er tat das, was er ein ganzes Leben lang getan hatte, aber nun wußte er die Antwort: er lauschte dem Sterben.

Konnte es anders sein?! Aufgerichtet ist der Mensch, er allein, doch ruhend zum Schlaf, zur Liebe, zum Tode hingestreckt –, auch in solch dreifacher Eigenschaft seines Liegens unterscheidet er sich von sämtlichen ändern Wesen. Aufrecht, zum Wachsen bestimmt, reicht des Menschen Seele aus ihren dunklen Wurzelabgründen im Humus des Seins hinauf bis zum sonnendurchfluteten Sternenrund, aufwärtstragend ihren poseidonisch-vulkanisch finsteren Ursprung, abwärtsbringend das Durchsichtige ihres apollinischen Zieles, und je mehr sie kraft ihres Aufwärts Wachsens zur lichtdurch tränkten Form wird, je mehr sie sich zur Form verschattet, baumgleich sich verzweigend und entfaltend, desto mehr wird sie befähigt, im Schattenlaub ihrer Äste das Dunkle mit dem Lichten zu vereinen; aber wenn sie zum Schlaf, zur Liebe, zum Tode sich hingestreckt hat, wenn sie selber zur hingebreiteten Landschaft geworden ist, dann ist es nicht mehr ihre Aufgabe, das Entgegengesetzte zu verschmelzen, denn schlafend, liebend, sterbend schließt sie die Augen, und sie ist nicht mehr gut oder böse, sie ist nur noch ein einziges, unendliches Lauschen: unendlich hingebreitete Seele, unendlich vom Zeitenring umschlossen, unendlich in ihrem Ruhen und sohin jeglichem Wachstum enthoben, wachstumlos wie die Landschaft, die sie ist, reicht sie mit dieser als unveränderter, als unveränderbarer saturnischer Bereich durch alle Zeiten hindurch, reicht vom goldenen bis zum erzenen Zeitalter, ja darüber hinaus bis zur Wiederkehr des goldenen, und kraft ihrer Eingeschmiegtheit ins Landschaftliche, kraft ihrer Verkerkerung ins Irdische und in die irdischen Gefilde, an deren Fläche die Sphären des Himmelslichtes und der Erddunkelheit sich scheiden, ist sie gleicherweis sphärentrennende, sphärenverbindende Grenze zwischen den oberen und unteren Regionen, janusartig stets beiden angehörig, denen des Sternschwebens wie denen der Steinschwere, denen des Äthers wie denen der Unterweltfeuer, janushaft die doppelgerichtete Unendlichkeit, janushaft die unendlich hinerstreckte, dämmerhaft ruhende Seele, so daß ihrem lauschenden Erwissen das Oben und das Unten, ohne vereinigt zu werden, bedeutungsgleiche Zonen sein dürfen; bedeutungslos hingegen, keines Erlauschens und Erwissens wert, wird ihr das Geschehen als solches, da sie es weder als Wachstum noch als Verwelken oder Verdorren, weder als Beglückung, noch als Beschwernis, wohl aber als ständige Wiederkehr empfindet, als die ständige Wiederkehr innerhalb ihres eigenen Seins, als die Wiederkehr des allumfassenden saturnischen Ablaufes, in dem die Landschaften der Seele und der Erde sich unendlich erstrecken, ununterscheidbar in ihrem Ein- und Ausatmen, in ihrem Keimen und Reifen, in ihren Ernten und Fehlernten, in ihrem Vergehen und Auferstehen, in den Jahreszeiten ihrer Grenzenlosigkeit, einverwoben der ewigen Wiederkehr, umfangen vom Ring des ewig Gleichen und daher ruhend hingestreckt zum Schlaf, zur Liebe, zum Tode, ein Lauschen der Landschaft und der Seele, das saturnische Selbstbelauschen sterbensenthobenen Sterbens, golden und erzen in einem.

Er lauschte dem Sterben; es konnte nicht anders sein. Das Bewußtsein dieser Tatsache war ohne Schrecken über ihn gekommen, höchstens mit jener außergewöhnlichen Klarheit, die sich gemeiniglich mit zunehmendem Fieber einstellt. Und jetzt, in der Dunkelheit liegend, in die Dunkelheit lauschend, verstand er sein Leben, und er verstand, wie sehr es ein fortwährendes Lauschen nach der Sterbensentfaltung gewesen war, entfaltet das Bewußtsein, entfaltet der Sterbenskeim, der von Anbeginn an in jegliches Leben gelegt ist und es ausmacht, doppelte und dreifache Entfaltung, eine aus der anderen hervorgehend und an ihr sich entfaltend, jede das Bild der vorausgegangenen und ebenhiedurch sie verwirklichend –, war dies nicht die Traumeskraft aller Bilder und gar jener, welche befähigt sind ein Leben zu bestimmen? verhielt es sich nicht ebenso auch mit dem Bild der Weltennachthöhle, die wundersam und bangniserregend vor Zeitlosigkeit, sternenschwer und ewigkeitverheißend den Tod über das gesamte Sein wölbt? Denn was einstmals, zur Knabenzeit, eine kindlich-kindische Todesvorstellung gewesen war, die Vorstellung vom Grabe, in das der Leib versenkt wird, das hatte sich zu dem großen Höhlenbild entfaltet, und die Erbauung der Gruft an der neapolitanischen Bucht, dort bei der posilippischen Grotte, war daher mehr als eine bloße Wiederholung und Sichtbarmachung der alten Kindheitsvorstellung gewesen; nein, mit dem Bauwerk war des Todes All-Gewölbe sinnbildhaft zum Ausdruck gebracht worden, vielleicht noch immer kindisch infolge solch irdischer Verkleinerung, dennoch Sinnbild des mächtig-allumfassenden Todesraums, in dem er, das Ziel seit jeher wissend und trotzdem es suchend, er, ein Wegesuchender im Gewölbe des Todes ein ganzes Leben wachend verträumt hatte. Um der allumfassenden Macht dieses Zieles willen hatte er so lange, wahrlich überlange nach seiner eigentlichen Bestimmung gefahndet, um dieses immer gewußten, trotzdem niemals bewußten Zieles willen hatte er, von jeder Laufbahn unbefriedigt, jede vorzeitig abgebrochen und hatte weder beim Beruf des Arztes noch bei dem des Sternkundigen, noch bei dem des philosophischen Gelehrten und Lehrers verbleiben oder gar sich beruhigen dürfen: das heischende, das unerfüllte Erkenntnisbild, das ernste Erkenntnisbild des Todes war unentwegt vor seinen Augen gestanden, und kein Beruf vermochte dem gerecht zu werden, da es keinen gibt, der nicht ausschließlich der Lebenserkenntnis untertan wäre, keinen mit Ausnahme jenes einzigen, zu dem es ihn schließlich getrieben hatte, und der Dichtung heißt, dieser seltsamsten aller menschlichen Tätigkeiten, der einzigen, die der Todeserkenntnis dient. Nur wer im Zwischenreich des Abschiedes lebt – oh, es lag hinter ihm, und es gab keine Rückkehr –, nur wer am Ufer des Flusses verharrt, quellenfern, mündungsfern in der Dämmerung, nur der ahnt den Tod, nur der ist dem Tode verhaftet, und dem Tode dienend, gleicht er dem Priester, der kraft seines Amtes, seines über dem persönlichen Beruf stehenden Priesteramtes, vermittelnd zwischen dem Oben und Unten, dem Dienst am Tode verpflichtet und damit ebenfalls in ein Zwischenreich des Abschiedes verwiesen ist; ja, priesterlich hatte ihm stets die Aufgabe des Sängers gedünkt, vielleicht ob der seltsamen Todes weihe, die der entzückten Inbrunst jeglichen Kunstwerkes innewohnt, und hatte er es sich auch bisher bloß selten einzugestehen gewagt, vielleicht sogar manchmal ab gelehnt, genau so wie er in seinen ersten Dichtungen es nicht gewagt hatte an den Tod heranzutreten, vielmehr bemüht gewesen war, mit der lieblich-liebenden Gewalt inniger Liebe zum Sein sich des Dräuenden, dennoch schon Anwesenden zu erwehren, er hatte solchen Widerstand mehr und mehr aufgeben müssen, da die dichtende Gewalt des Todes gar bald als die stärkere sich erwiesen hatte, Schritt für Schritt ein Heimatsrecht sich erobernd, das dann in der Äneis zum vollen Herrschaftsrecht geworden war, dem Göttersinn folgend: die klirrende, blutige, mahnende, unabänderliche Herrschaft des Schicksals, die allüberwindende Herrschaft des Todes, die eben darum auch sich selbst überwindet und sich selbst aufhebt. In den Tod nämlich ist jedwede Gleichzeitigkeit eingesenkt, alle Gleichzeitigkeit des Lebens und der Dichtung ist in seiner Allesauf hebung für ewig auf bewahrt, er ist erfüllt von Tag und Nacht, und sie durchdringen einander zur zwiefarbenen Wolke der Dämmerung; oh, der Tod ist erfüllt von all der Vielfalt, die aus der Einheit hervorgegangen war, um sich in ihm wieder zur Einheit zu schließen, er ist erfüllt von der Herdenweisheit des Beginns und von der Vereinzelungserkenntnis des Endes, sie beide zu einer einzigen Sekunde des Seins zusammenfassend, zu jener Sekunde, die bereits die des Nicht-Seins ist, denn in unaufhörlichem Wechselspiel mit dem Seinsablauf steht der Tod, und unablässig wird der in ihn einmündende, von ihm empfangene und ursprungswärts rückgewandte Zeitenablauf zur Einheit des Gedächtnisses verwandelt, zum Gedächtnis der Welten und Aber-Welten, zum Gedächtnis des Gottes: nur wer den Tod auf sich nimmt, vermag den Ring im Irdischen zu schließen, nur wer des Todes Auge sucht, dem bricht nicht das eigene, wenn es ins Nichts schauen soll, nur wer zum Tode hinlauscht, der braucht nicht zu flüchten, der darf bleiben, denn seine Erinnerung wird zur Gleichzeitigkeitstiefe, und wer in die Erinnerung taucht, dem erklingt der Harfen ton jenes Augenblickes, in dem das Irdische sich zum unbekannt Unendlichen öffnen soll, geöffnet zur Wiedergeburt und Auferstehung unendlicher Erinnerung -Kindheitslandschaft, Lebenslandschaft, Todeslandschaft, sie sind Eines in ihrer unwandelbaren Gleichzeitigkeit, heraufahnend die Landschaft der Götter, die Landschaft : des Ur-Anfanges und des Ur-Endes, unwandelbar geeint von dem Reif des über sie hingespannten, siebenfarbig regenverhauchten Bogens, oh, die Gefilde der Väter. Vieles geschieht der Erinnerung zuliebe und enthüllt sich zuletzt doch als ein Lauschen nach dem Tode, und vieles, das dem Tode gelten will, ist bloß Erinnerung, bange Sehnsuchtserinnerung, die ängstlich behütet wird, auf daß sie nimmermehr verlorengehe. So auch und nicht anders war es um die meeresumwehte, frühlingsver-schattete, laubbegrünte Gruft bei der posilippischen Höhle bestellt, um diese beinahe spielerisch erbaute Heimstätte des Todes, voll von Erinnerung, von Kindheitserinnerungen, die er, ohne sich davon Rechenschaft zu geben, in diese gärtnerische Heiterkeit miteingebaut hatte, so daß alles, was von den Kinderaugen im väterlichen Hofe zu Andes erblickt worden war, sich nun in verkleinertem Maße und nur wenig verändert hier wiederfand, so die Zufahrtsstraße zum Hoftor, nun als Hauptweg durch den Garten, ausgestattet mit der nämlichen Doppelbiegung, links von dem nämlichen Lorbeergebüsch besäumt, rechts an den Hügel seiner Kinderspiele heranführend, mochte hier dieser Hügel auch nur von einigen Zypressen statt mit dem alten Ölbaumhain bekrönt sein, während hinter dem Gebäude, mächtig-ruhend da wie dort, verhangen mit Vogelgezwitscher da wie dort, sich die Ulmen erhoben, damals wie heute Schutz der Einsamkeit und des Friedens, und wie einst als Knabe hätte er mit der Hand über die Zaunhecken hinstreichen können, derart deutlich ließ sich alles zurückträumen, derart deutlich und für alle Zeiten gültig war es vorwärtsgeträumt gewesen, dem Tode zugeträumt und dem Sterben, dem Ziel alles träumenden Lauschens seit den Kindheitstagen, dem Ziel und dem Quell seiner Erinnerung, klar, unverlierbar, erkenntnissucherisch, obwohl das Bild der Gruft nur einen kleinen, einen überaus kleinen Gedächtnisausschnitt im Vergangenheitsstrom darstellte, eine recht handgreifliche Insel, fast zufallsmäßig aufgetaucht in ihrer kleinen Handgreiflichkeit, verschwindend und geradezu vergessenswürdig vor der rauschenden Flutenbreite, die in sein unablässiges Lauschen sich ergoß; unablässig wurde Unverlorenes ihm zugeflutet, gedächtnisbreit und wellenbreit, unablässig und weich und groß rollte es daher, Welle um Welle des jemals Erschauten, aufstrahlend in Harfenklang, in unbeschreiblich-bleibendem, immerwährendem Anklang – oh, holde Verkerkerung der Jugend, geborgen und befreiungsbereit –, und es war, als ergössen sich alle Bäche und Teiche des Einst in diesen Strom der Erinnerung, rieselnd zwischen den duftenden Weiden, rieselnd zwischen den schilfbebend begrünten Ufern, liebliche Bilder ohne Ende, sie selber ein von Kinderhand gepflückter Strauß aus Lilien und Levkojen, Mohn, Narzissen und Dotterblumen, das Bild der Kindheit in ewig erwanderter, ewig erdichteter Landschaft, das Bild der Vätergefilde, die er, wohin auch immer er getrieben worden war, überall hatte suchen müssen, Bild seiner einzigen und niemals verlaßbaren Lebenslandschaft, unbeschreiblich-unbeschreibbares Bild trotz sehr großer Helligkeit, Schärfe, Besonntheit, Durchsichtigkeit, trotz dieser niemals erlahmenden farbenreichen Klarheit, mit der es ihn begleitete, so unbeschreibbar, daß es, sooft er es auch geschildert hatte, doch nur im Ungesagten aufgeklungen war, immer nur dort, wo die Sprache nicht mehr ausreicht, wo sie über ihre eigenen, irdisch-sterblichen Grenzen schlägt und ins Unaussprechliche dringt, den Wortausdruck verläßt und – bloß sich selber noch im Gefüge der Verse singend – den atembeklommenen, atemraubenden Sekundenabgrund zwischen den Worten aufreißt, um todesahnend und lebensumspannend in dieser stummen Tiefe, selber stummgeworden, die Ganzheit des Alls zu zeigen, die fließende Gleichzeitigkeit, in der das Ewige ruht: oh, Ziel aller Dichtung, Augenaufschlag der Sprache, wenn sie über alle Mitteilung und über alles Beschreiben hinweg sich selbst aufhebt, oh, die Augenblicke der Sprache, in denen sie selber in die Gleichzeitigkeit eintaucht, so daß es unentschieden bleibt, ob Erinnerung aus der Sprache, oder ob Sprache aus der Erinnerung quillt! oh, in diesen Augenblicken war es gewesen, daß die Kindheitslandschaft zu blühen begonnen hatte, sich selbst zurücklassend, über sich selbst und jede Erinnerung hinauswachsend, über jeden Anfang und über jedes Ende, verwandelt zu den schlicht ländlichen Hirtenordnungen eines goldenen Zeitalters, verwandelt zur Landschaft des latinischen Aufbruchs, verwandelt zur Wirklichkeit der dahinschreitenden herrschend-dienenden Götter, sicherlich noch nicht Ur-Anfang, noch nicht Ur-Ordnung, noch nicht Ur-Wirklichkeit, wohl aber deren Sinnbild, sicherlich noch nicht die Stimme, die aus dem Unbekanntesten, aus dem unausdrückbarst Außergewöhnlichen, aus dem unabänderlich Übergöttlichen hertönen soll, wohl aber ihr Sinnbild, wohl aber die echogleiche Ahnung ihres Seins und fast ihre Gewißheit –, Sinnbild, das Wirklichkeit ist, Wirklichkeit, die Sinnbild wird im Angesicht des Todes. Es waren die Augenblicke der klanggewordenen Todlosigkeit, die lebendig dämmerungsentlösten Augenblicke des Lebens schlechthin, und es waren jene, in denen des Todes wahre Gestalt sich am reinsten offenbarte: seltenste Augenblicke der Gnade, seltenste Augenblicke der vollkommenen Freiheit, den meisten unbekannt, von manchen angestrebt, von sehr wenigen erreicht –, doch wem von diesen wenigen es vergönnt ist solchen Augenblick festzuhalten, wem es verliehen worden ist die flüchtige Flüchtigkeit der Todesgestalt zu erhaschen, wem es im unablässigen Lauschen und Suchen gelingt den Tod zur Gestalt zu bringen, der hat mit deren Echtheit auch die seiner eigenen Gestalt gefunden, er hat seinen eigenen Tod gestaltet und damit sich selbst zur Gestalt gebracht, und er ist vor dem Rückfall in den Humus der Gestaltlosigkeit gefeit. Siebenfarbig und göttermild wölbt sich ihm der Regenbogen der Kindheit über das Sein, täglich neu gesehen, täglich neu geschaffen, die gemeinsame Schöpfung des Menschen und des Gottes, die Schöpfung aus der Stärke des todeserkennenden Wortes: war dies nicht die Hoffnung gewesen, um derentwillen er die Qual eines gehetzten Lebens, bar jedes friedlichen Glückes, hatte ertragen müssen? er blickte zurück auf dieses Leben des Verzichtes und einer noch heute fortgesetzten Entsagung, auf dieses Leben, das ohne Widerstand gegen das Sterben, wohl aber voller Widerstand gegen Gemeinschaft und Liebe gewesen war, er blickte zurück auf dieses im Dämmerlicht der Flüsse, im Dämmerlicht der Dichtung hinter ihm liegende Abschiedsleben, und deutlicher denn je wußte er heute, daß er all dies um jener Hoffnung willen auf sich genommen hatte; vielleicht war er zu verhöhnen und zu schmähen, weil solch großes Lebensaufgebot bisher zu . keinerlei Hoffnungserfüllung geführt hatte, weil die Aufgabe, die er hatte lösen wollen, für seine schwachen Kräfte eine übergroße gewesen war, und vielleicht, weil die Mittel der Dichtkunst sich hiefür überhaupt nicht eigneten, allein, er wußte nun auch, daß es darauf nicht ankommt, mehr noch, daß die Berechtigung oder Nichtberechtigung einer Aufgabe nichts mit ihrer irdischen Lösbarkeit zu schaffen hat, daß es gleichgültig war, ob seine eigenen Kräfte ausreichten oder nicht, ob irgendein anderer Mann mit besseren Kräften geboren würde, oder ob ein besserer Lösungsbereich als der, den die Dichtung darstellt, irgendeinmal sich finden lassen könnte, all dies war belanglos, denn es war nicht seine eigene Wahl gewesen: sicherlich, Tag um Tag, unzählige Male an jedem Tag hatte er nach freier Wahl entschieden und gehandelt, oder hatte geglaubt, daß es freie Entscheidungen gewesen waren, doch die große Linie seines Lebens war nicht eigene Wahl nach freiem Willen, sie war ein Müssen gewesen, ein Müssen, ein geordnet in das Heil und Unheil des Seins, ein schicksalsbefohlenes, trotzdem befehlsüberhobenes Müssen, befehlend, daß er seine eigene Gestalt in der des Todes suche, um hiedurch der Seele Freiheit zu gewinnen; denn die Freiheit ist ein Müssen der Seele, deren Heil und Unheil stets auf dem Spiele steht, und er hatte sich dem Befehl gefügt, gehorsam seiner Schicksalsaufgabe.

Er rückte ein wenig in den Kissen hinauf, um die schmerzende Brust zu entlasten, sehr vorsichtig, damit die hingebreiteten Landschaften seines Ichs, die ihm Klarheit zu verbürgen schienen, nicht in Unordnung gerieten und nicht etwa sich ineinanderschüttelten, wie dies beim aufgerichteten Menschen der Fall ist, und dann tastete er neben sich nach dem Manuskriptkoffer hin, über dessen rauhlederne Deckelfläche er beinahe zärtlich die Hand hinfingern ließ: heiß und erregend war das Gefühl der Arbeit, das zwingende Entdeckergefühl, das große Wanderergefühl des Schaffens in ihm erwacht, und wäre nicht zugleich auch die große Wanderangst aufgekeimt, die gräßliche Angst des Wegverlorenen, der im Nachtdickicht umherirrt, diese seltsam tiefste Angst, von der alles Schaffen begleitet wird, es hätte das heiß-glückhaft Auffallende in seiner Brust sogar die Todesbereitschaft der mahnenden Schmerzen übertönt, hätte vielleicht sogar die Atemnot gelindert, hätte Fieberhitze und Fieberkälte zum Vergessen gebracht, und nichts hätte ihn mehr hindern dürfen sich sofort an die Arbeit zu setzen, leistungsbereit aufs neue zu beginnen, eingedenk jener Aufgabe, die er bis zum letzten Atemzuge zu erfüllen hatte und die ihm erst mit dem letzten Atemzuge wahrhafte Erfüllung bringen sollte. Nein, nichts hätte ihn von der Arbeit abhalten können, nichts hätte ihn davon abhalten dürfen, und alles hielt ihn ab, tat es so sehr, daß die Fertigstellung der Äneis nun schon seit Monaten völlig stockte und nichts übriggeblieben war als Flucht und wieder Flucht. Und nicht die Krankheit, nicht die Schmerzen, die längst gewohnten, längst gemeisterten, waren daran schuld, wohl aber die unentfliehbare, unerklärbare Beunruhigung, dieses beängstigte Gefühl ausweglosen Verirrtseins, dieses deutlich wissende Ahnen um ein ständig drohendes, ständig vorhandenes übermächtiges Unheil, dessen Wesen unerkennbar war, unentscheidbar seine Herkunft, unentscheidbar ob es im Innen oder Außen lauerte. Sehr vorsichtig atmend, lauschte er regungslos ins Dunkel. Die Kerzen auf dem Kandelaber erlosehen eine nach der anderen, bloß der Öllampe kleingeduldiges Licht neben dem Lager harrte aus, manchmal im Lufthauch an der leise klingenden Silberkette sanft hin und her baumelnd, widergespiegelt in einem schmetterlingsweichen, spinnwebigen Schattenpendeln an der Wand, und während draußen mählich die Straßenwildheit erstarb, und das wirre, ununterscheidbare Getöse sich zu allerlei Gewieher, Gejaunze, Gequake auf löste, das Geschwirr des Festes sich herausschied, mit hellerem und tieferem Gesumm in dem kaleidoskopisch gewordenen Lärmbild versprenkelt, wurde grundbaßähnlich der Gleichschritt abziehender Truppen vernehmbar, anzeigend, daß ein Teil der Wache in die Quartiere einrückte; dann wurde es still, freilich in einer Stille, die alsbald, seltsam schwirrend, ja sie selber das Schwirren, sich zu beleben begann, da plötzlich von weither, von überallher – kam es von den Feldern vor der Stadt, von denen in Andes? – das Grillengezirpe zu hören war, der Myriadenton der Myriadengeschöpflichkeit, endlos in der Stille, die über das Endlose sich hinerdehnte. Still und mählich verblaßte nun auch der rötliche Widerschein des lichtglänzenden Straßenfestes, schwarz wurde die Zimmerdecke, schwarz bis auf den hellen Fleck oberhalb der Lampe, der nun wie ein sanft hin und her gleitendes Pendelmalen war, und die Sterne vor dem Fenster standen im Schwarzen. War dies das Beunruhigende, nach dessen Ursprung er suchte? Warum war es beunruhigend, da doch das Abflauen des niedrigverzweifelten Gegröles weit eher eine allgemeine Befriedigung hätte bedeuten können? Nein, das Unheil war geblieben, und nun erkannte er es, mußte er es erkennen : es war das Unheil der eingekerkerten Menschenseele, für die jede Befreiung immer nur wieder neue Einkerkerung ist.

Er starrte zum Fenster hin, und die Nacht kreiste in ihrem ungeheueren Raum, die Kuppel von Atlas gedreht, ruhend auf der Schulter des Riesen und besät mit funkelnden Gestirnen, die ungeheuere Nachthöhle, die nichts entläßt; er lauschte den Geräuschen der Nacht, und sie wurden ihm, dem Fiebernden, den es hingestreckt hatte, daß er unter seiner Decke friere und glühe, sie wurden ihm in seiner Überwachheit mit verschärfter Gleichzeitigkeit zur Wahrnehmung angetragen, die Bilder, die Gerüche, die Geräusche des Jetzt zusammen mit denen eines jeden gelebten und erlebbaren Einst, in zweifachem Erinnern des Rückwärts und Vorwärts, so sehr geschwellt von der unabweislichen, unerklärlichen Unheimlichkeit, so sehr unhabhaft entfliehend, so sehr geheimnisverborgen trotz all ihrer Nacktheit, daß er, aufgepeitscht und erlahmt zugleich, ins Chaotische zurückgestürzt wurde, in das Dickicht aller Einzelstimmen –, das Gestaltlose, dem er zu entrinnen geglaubt hatte, war neuerdings über ihn gekommen, nicht als das Ununterscheidbare des Herdenanfangs, hingegen sehr unmittelbar, ja geradezu handgreiflich, als das Chaos der Vereinzelung und einer Auflösung, die durch kein Belauschen, durch kein Festhalten je wieder zur Einheit zu fügen war; das dämonische Chaos aller Einzelstimmen, aller Einzelerkenntnisse, aller Einzeldinge, gleichgültig ob sie der Gegenwart oder der Vergangenheit oder der Zukunft angehören, dieses Chaos drang jetzt auf ihn ein, diesem Chaos war er aus geliefert, ja, dies war es gewesen, seitdem der brausend ununterscheidbare Lärm der Straße sich zu einem Dickicht von Einzelstimmen zu verwandeln angehoben hatte. Dies war es. Oh, jeder ist vom Stimmengestrüpp umgeben, jeder wandert sein Leben lang darin umher, wandert und wandert und ist dennoch in der Undurchdringlichkeit des Stimmenwaldes an die Stelle gebannt, ist verfangen im Nachtsprießenden, verfangen in Waldeswurzeln, die jenseits jeglicher Zeit und jeglichen Raumes ansetzen, oh, jeder istvon den unzähmbaren Stimmen und deren Fangarmen bedroht, von Stimmen gezweige, von den Aststimmen, die einander umschlingend ihn umschlingen, die auseinander herauswachsen, gerade aufschießend und wieder ineinander verkrümmt, dämonisch in ihrer Selbständigkeit, dämonisch in ihrer Vereinzelung, Sekundenstimmen, Jahrstimmen, Äonenstimmen, die sich zum Weltengeflecht, zum Zeitengeflecht verschränken, unverständlich und undurchdringlich in ihrer brüllenden Stummheit, feucht von Schmerzensgestöhn und harsch von der Freuden Wildheit einer ganzen Welt; oh, keiner entgeht dem Urgetöse, keinem ist es zu ersparen, da jeder, ob wissend oder nicht, selber nichts anderes ist als eine der Stimmen, selber zu ihnen gehört und zu ihrer unauflösbar-unzerteilbar undurchdringlichen Drohung –, wie konnte man da noch Hoffnung hegen! unrettbar ist der Verirrte im Dickicht eingekerkert, keine Bresche, keine Lichtung ist zu legen, und wollte er seine Hoffnung noch darüber hinausspannen, darüber hinausschicken, dorthin ins unausdehnbar Unendliche, wo die Einheit, die Ordnung, die Allerkenntnis der Stimmengesamtheit erahnt werden darf, der ahnungsvoll große Akkord ihrer selbst, stimmenschließend, stimmenlösend, der aus letzten Räumen wiedererklingende Echoakkord der Welteneinheit, der Weltenordnung, der Weltenallerkenntnis, die letzte Echolösung der Weltenaufgabe, es wäre solche Hoffnung des Sterblichen vermessen und den Göttern ein Greuel, sie zerbräche an den Wänden der Unhörbarkeit, verhallend im Stimmendickicht, im Erkenntnisdickicht, im Zeitendickicht, verhallend zu einem sterbenden Seufzen; denn unerreichbar ist der Stimmenquell des Zeitenanfanges, er liegt unter allen Wurzeltiefen, er liegt unter allen Stimmen, er liegt unter aller Stummheit, unerdringlich der Wurzelbrunnen der Wälder, in dem der Sternenplan der Einheit der Ordnungen und der Sprache aufbewahrt wird, unerschaubar das Sinnbild aller Sinnbilder, denn unendlich und mehr als unendlich ist die Vielfalt der Richtungen im übexunendlichen Raume, unendlich ist die Anzahl der Vereinzelungen, unendlich ist die Anzahl der Wege und ihrer Verschlingungen, und sogar die Vielräumigkeiten der Sprache und Erinnerung, sogar deren Richtungsreichtum und deren eigene Abgrundsunendlichkeit sind nur ein sehr schwacher, ein sehr spärlicher, ein in den irdisch-geringen Bildern gewobener Widerschein dessen, das von keinem Denken zu erfassen ist, dessen, das in seinem Atem jegliehen Sphärenraum aufbewahrt und dabei von jedem noch so kleinen Sphärenpunkt aufbewahrt wird, sich selbst ein- und ausatmend, sich selbst ein- und ausstrahlend, Widerschein eines vor Sinnbildhaftigkeit schier unaussprechbaren, schier unerinnerbaren, schier unverkündbaren Erkenntnisheils, das mit seinen Strahlen jeglichen Zeitenablauf überholt und jeden Sekundenbruchteil zur Zeitlosigkeit verwandelt: Kreuzungspunkt aller Wege, auf keinem erreichbar, das unverrückbar ewige, das unverrückbar entrückte Wegziel! schon der erste, der allererste Schritt, der in irgendeiner Richtung des Wegdickichts erfolgte, würde zu seiner Ausführung, und sei sie noch so eilig, ein ganzes Leben und mehr als ein ganzes Leben erfordern, es wäre ein unendliches Leben nötig, um eine einzige dürftige Erinnerungssekunde festzuhalten, ein unendliches Leben, um einen einzigen Sekundenblick in die Tiefe des Sprachabgrundes zu werfen! Lauschend in diese Sprachentiefe, hatte er gehofft das Sterben belauschen zu dürfen, hatte er gehofft ein Wissen, wenn auch nur den ahnenden Schimmer eines Vorwissens um jene Grenzerkenntnis zu erhaschen, die bereits Erkenntnis außerhalb der irdischen Erkenntnis wäre, doch selbst die Hoffnung war bereits Vermessenheit angesichts des Unerhaschbaren, das aus den Echowänden des Abgrundes heraufdrang, ein Blinken, das kaum mehr Blinken war, kaum mehr die Erinnerung an ein Blinken, kaum, mehr das Echo einer Erinnerung, ein hauchflüchtiger Hauch, so unsichtbar, daß nicht einmal Musik aus gereicht hätte, solche Unsichtbarkeit festzuhalten, geschweige denn sie als Ahnung des unfaßbar Unendlichen zum Ausdruck zu bringen; nein, nichts Irdisches vermag das Dickicht zu zerreißen, kein irdisches Mittel reicht aus die ewige Aufgabe zu lösen, die Ordnung aufzudecken und zu verkünden, vorstoßend zur Erkenntnis jenseits der Erkenntnis, nein, überirdischen Mächten und überirdischen Mitteln ist dies Vorbehalten, einer Ausdruckskraft, die jeden irdischen Ausdruck weit hinter sich läßt, einer Sprache, die außerhalb des Stimmengestrüpps und aller irdisehen Sprachlichkeit stehen müßte, einer Sprache, die mehr wäre als Musik, einer Sprache, die es dem Auge gestattete, herzschlagend und herzschlagrasch, die Erkenntniseinheit des Seins zu erfassen, wahrlich einer neuen, einer noch nicht gefundenen, überirdischen Sprache bedürfte es, um diese Leistung zu vollbringen, und Vermessenheit war die Bemühung, mit armseligen Versen sich an solche Sprache heranzuwagen, fruchtlose Bemühung und lästerliche Vermessenheit! ach, es war ihm vergönnt gewesen die ewige Aufgabe zu sehen, des Seelenheiles Aufgabe, es war ihm vergönnt gewesen den Spaten anzusetzen, und er hatte nicht gemerkt, daß er sein ganzes Leben hieran verschwendet hatte, das Leben verschwendet, die Jahre vergeudet, die Zeit vertan, nicht etwa, weil er gescheitert war und sich unfähig erwiesen hatte, unfähig nur ein einziges Würzelchen freizulegen, sondern weil schon der bloße Entschluß den Spaten anzusetzen, ein unendliches Leben erschöpfen würde, mehr noch, weil der Tod jedwede Seele überholt und selber durch nichts einholbar ist, auch nicht mit Hilfe der belauschten Sprache und einer vorbelauschten Erinnerung, übermächtig der Tod, übermächtig das Dickicht, das durch nichts zu lichten ist und den Verirrten unbarmherzig verkerkert, hilflos der Verirrte, er selber nur eine hilflose Stimme im Gestrüpp der Vereinzelungen. Wie konnte man da noch Hoffnung hegen?! entpuppte sich da das menschliche Geschehen, wie immer und wo immer es statthatte, nicht unweigerlich als Ausfluß der kreatürlichen Angst, als ein besessenes Angstgeschehen, aus dessen Dämmerkerker es kein Entrinnen und kein Ausbrechen mehr gibt, da es die Angst der im Dickicht verirrten Kreatur ist? Tiefer denn je war er dieser Angst inne geworden, besser denn je verstand er der verirrten Seele niemals erschweigenden Wunsch nach todesaufhebender Zeitüberwindung, besser denn je verstand er die unverlöschliche Hoffnung der kreatürlichen Massen, verstand er, was die dort drunten, Stimmen und Aber-Stimmen auch sie, mit ihrem wildverzweifelten Gegröle begehrten, verstand er sie, wenn sie an ihrer Inbrunst, an ihrer Pöbelinbrunst unverbrüchlich und unbelehrbar hafteten, aus sich herausschreiend, in sich hineinschreiend, es möge und es müsse in dem Gestrüpp eine ausgezeichnete, eine stärkste, eine außergewöhnliche Stimme geben, eine Führerstimme, der sie sich bloß anzuschließen brauchten, um in deren Abglanz, im Abglanz des Jubels, des Rausches, der Nacht, der cäsarischen Gottähnlichkeit sich mit einem letztatmig wilden, stierhaft machtbrüllenden Anstürmen doch noch einen irdischen Weg aus der Verstrickung ihres Daseins bahnen zu können, und dies erkennend sah er, verstand er, erkannte er besser denn je, daß sein eigenes Trachten zwar in der Form und in der Überheblichkeit, nicht jedoch durch Sinn und Inhalt, sich von diesem rohen, aber ehrlicheren Vergewaltigungswillen der rasend gewordenen Herde unterschied, daß er die schlichte, kreatürliche Angst, die ihn mit genau derselben Stärke umfangen hielt, nur getarnt hatte, umgelogen in eine Sehnsucht nach allerkennender Ordnungseinheit, umgelogen in ein vergebliches und darum doppelt scheinheiliges Lauschen und Vorlauschen, daß er die Hoffnung auf die wegbereitende, außergewöhnliche Führerstimme, diese irdischeste Pöbelhoffnung, die auch die seine war, einfach an den Rand des Irdischen geschoben hatte, sich vortäuschend, daß sie ihm einstens von dorther ertönen und dann überirdisch sein werde, Phantom seiner Überheblichkeit, dem Irdischen verhaftet und der Vergeblichkeit alles Irdischen verfallen; oh, er erkannte besser denn je die Vergeblichkeit der massentierischen Ausbruchsversuche und ihrer Furchtgejagtheit, deren Fluchtangriffe, aufbrüllend vor Hoffnung, abschweigend vor Enttäuschung, immer wieder in die starre Schattenlosigkeit des Nichts münden mußten, zeitenverirrt und der Zeit nicht entrinnend, und er erkannte, daß ihm das nämliche Los beschieden war, ebenso unausbleiblich, ebenso unentrinnbar, der Absturz in die Starrheit eines Nichts, das den Tod nicht auf hebt, sondern selber der Tod ist. Oh, sein Leben war verirrt und vertan, denn der Weg, den er gegangen war, der war von vomeherein Ausweglosigkeit gewesen, beladen mit dem Wissen um die falsche Richtung, beladen mit dem Wissen um die Verirrtheit, von vorneherein ein Irren und Herumtasten und Herumdämmern im Dickicht, ein Leben des falschen Verzichtes und des falschen Abschiedes, beladen mit der Furcht vor der unausbleiblichen Enttäuschung, die er ebendeshalb, nicht anders eben wie die Hoffnung, an den Rand des Lebens und des Irdischen geschoben hatte. War dieser Rand nun erreicht, da nichts geblieben war als die Enttäuschung? da nichts geblieben war als der kalte Schrecken, lähmend und atemberaubend, uneingestanden vielleicht, der Schrecken des Sterbens, sicher aber und vielleicht noch stärker der Schrecken der Enttäuschung? nichts war geblieben als die Erstarrung, die wie eine geheimnisvolle, von den Sternen bestimmte Strafe auf ihm lastete, eine Sünde bestrafend, die aus dem vorschicksalshaft Unwiederbringlichen herstammte, eine Sünde, die er nicht begangen hatte und die, ehe sie noch begangen werden konnte, Vermessenheit war, eine ewig unbegangene Sünde, ewig hinter ihm stehend, ewig der ewigen Erkenntnisaufgabe entgegenstehend, ewig ihm auferlegt, damit er seine Aufgabe, damit er die Erfüllung nicht sehe, unsichtbare Strafe in unsichtbarer Erstarrung, die Sünde und die Strafe der Nicht-Erweckung, zeiterstarrend, spracherstarrend, erinnerungserstarrend, das Dämmerlauschen, erstarrt im Nichts, im Ödfeld des Todes, und sehr verlassen in solcher Starrheit lag sein Leib da, siech und müdegealtert, hingebreitet und saturnisch hingedämmert über die Zonen seines Ichs, die durchsichtiger und durchsichtiger, verschwindender und verschwindender wurden, und die, verlassen sogar von den Dämonen, immer mehr und mehr verödeten, regungslos, als wären sie leere Fenster ohne Aussicht: nichts war daneben geblieben, nichts war daneben noch erinnerbar, da alles, was ihm einstmals Lebensgewinn bedeutet hatte, das einstmals Zeitlose, das einstmals Erinnerungspflichtige, ihm vorgealtert war, noch rascher gealtert als er selber, ihm entschwunden und versunken ins Kaum-Erschaffene, Kaum-Gelebte, und gealtert und verwelkt und abgestorben waren die einstmals so überaus hellen, durchklärt-hartschimmernden Bilder seiner Lebenslandschaft, abgestorben und abgefallen waren die Verse, die er darum gerankt hatte, dies alles war verweht wie braunes Laub, nicht mehr erinnert, nur noch gewußt, jahrzeitverweht, jahrzeiterschöpft, ein vergessenes Rascheln; vieles, oh, vieles war gewesen, Altvergangenes, Jüngstvergangenes, war gewesen in tausendfacher Vielfalt und millionenfacher Vereinzelung, doch nie war es bis zu ihm gelangt, nie hat es zur Gesamtheit werden dürfen, unabgeschlossen der Gedächtnisring, nie wird es bis zu ihm gelangen, es war bereits im Erleben abgelehnt zum Nichterlebten und blieb ungetan, gleichwie die Erfüllung seiner unendlichen Aufgabe im Ungetanen versandete, stockend bereits in ihrem ersten Schritte, gleichwie dieser Schritt, obwohl er nun schon ein ganzes Leben andauerte, noch immer, ja sogar von vorneherein ungetan war, verharrend in einer schaurig-unüberwindlichen Lähmung, für die es kein Vor und kein Zurück mehr gab, so daß auf den ersten ungetanen Schritt kein zweiter mehr wird folgen können, weil der Abstand zwischen den einzelnen Lebenssekunden zu einem unermeßlich unüberbrückbaren leeren Raum gewachsen ist und von hier aus überhaupt nichts mehr folgen kann, weder rasch noch langsam, weil sich überhaupt nichts mehr fortsetzen läßt, unfortsetzbar das Getane und Ungetane, unfortsetzbar das Gedachte und Ungedachte, das Ausgesprochene und Unausgesprochene, das Gedichtete und Ungedichtete, oh, – ihr Götter! auch die Äneis wird unabgeschlossen bleiben müssen, unfortsetzbar, unabgeschlossen wie dieses ganze Leben! Sollte dies tatsächlich so von den Sternen bestimmt sein? sollte dies tatsächlich das Los des Gedichtes werden?! das Schicksal der Äneis, sein eigenes Schicksal, unvollendet! War dies denkbar, oh, war dies denkbar?! Das schwere Tor des Schreckens war aufgesprungen, und dahinter tat sich mächtig-allumfassend das Gewölbe des Entsetzens auf. Etwas Fürchterliches, das ihn von außen und von innen zugleich anpackte, etwas gräßlich Unbekanntes riß ihn hoch, jählings, aufschmetternd-bösartig, überschmerzlich-schmerzhaft, riß ihn hoch mit all der wüsten, lähmungsprengenden, erstickungsverzweifelten Kraft, die dem ersten Blitzdonner eines ausbrechenden Gewitters innewohnt, so fuhr es würgend in ihn hinein, todbringend, toddrohend, dennoch die Sekunden wieder aneinanderrückend und den Leerraum zwischen ihnen blitzartig mit jener Unfaßbarkeit anreichernd, welche Leben heißt, und fast war es ihm, als blitzte in dem Blitz nochmals die Hoffnung auf, fast war es ihm, während er, gefügt unter die eherne Klammer, atemrasch, blickrasch emporgerissen wurde, als geschähe es, damit das Versäumte und Verlorene und Nichtfertiggestellte nun doch noch, vielleicht sogar nur in dem Nu des wiederaufgelebten Sekundenatems nachgeholt werden könne; Hoffnung oder Nichthoffnung, er wußte es nicht, schmerzbetäubt, schreckensbetäubt, lähmungsbetäubt, wußte er es nicht, aber er wußte, daß jede Sekunde neuaufgelebten Lebens sehr vonnöten und wichtig war, er wußte, daß er nur für dieses Lebensaufflammen, mochte es kurz oder lang währen, emporgejagt wurde, weggejagt vom Lager der Starrheit, er wußte, daß er der Unatembarkeit des starrumwandeten geschlossenen Raumes zu entrinnen hatte, daß er den Blick nochmals hinaussenden mußte, abgewendet von sich, abgewendet von den Zonen des Ichs, abgewendet vom Ödfeld des Todes, daß er noch einmal, ein einziges Mal noch, vielleicht das letzte Mal, den All-Raum des Lebens würde umfassen müssen, oh, er mußte noch einmal, ein einziges Mal die Sterne sehen, und steif vor dem Bett emporgerichtet, gehalten von der Klammerfaust, die seinen ganzen Körper durchgriff und doch von außen umfing, bewegte er sich steifgliederig, marionettenhaft geleitet, drahtig-eckig und unsicher-stelzig zum Erkerfenster zurück, an dessen Wandung er erschöpft sich anlehnte, ein wenig abgeknickt wegen seiner Schwäche, trotzdem noch aufgerichtet, um mit zurückgezogenen Ellbogen und taktmäßig tiefem Atem seinem Lufthunger Genüge zu tun, damit das Sein sich wieder öffne, teilnehmend am Atemfluten der wiederersehnten Sphären.

Notwendigkeit des Atems, die Notwendigkeit des kreatürlichen Atems hatte ihn hergetrieben, aber zugleich war es eine unkörperliche Notwendigkeit gewesen, eine Sehnsucht nach dem Sichtbaren, nach der Weltsichtbarkeit, nach dem Atembaren in der Gewißheit des sichtbaren Alls. Erstickungsbetäubt stand er am Fenster, gehalten von der ihn umfangenden machtvollen Hand, und er wußte nicht, wie lange er ßchon so gestanden hatte, es hätten ebensogut Augenblicke wie Stunden gewesen sein können; nur unvollkommen und bruchstückweise floß das Zeitwissen wieder in ihn ein, nur bruchstückweise, auf weite Strecken von der Erstickungsangst, von der Erstickungspein überdeckt, baute sich die Welt wieder auf, wurde Wissen wieder zu Wissen, und bruchstückweise nur wurde er des Geschehenen gewärtig, Stück um Stück begreifend, daß es nicht bloß um die Äneis gegangen war, sondern um etwas, das er erst zu finden hatte.

Still lag nun die Welt vor ihm, nach all dem vorangegangenen und überstandenen Getöse fast überraschend still, und es war vermutlich schon spät in der Nacht, vermutlich ihre Mitte schon überschritten; die Sterne brannten groß in ihrem großen Wandelgang, tröstlich und stark und ruheflimmernd vor beruhigender Wiedererkanntheit, allerdings bei aller Wolkenlosigkeit beunruhigend eingetrübt, als wäre zwischen ihrem Raum und dem der untern Welt mittendurch eine gleichsam hart-undurchdringliche, gerade noch für den Blick durchlässige, trübkristallene Wölbung einverspannt, und fast war es ihm, als ob die dämonische Zonenzerspaltung, der er mitsamt seinem Leib vordem im liegenden Lauschen, im lauschenden Liegen unterworfen gewesen war, sich hier auf die Außenwelt übertragen hätte, ja als ob sie hier so scharf, so unermeßlich geworden wäre, wie er es an sich selber niemals erfahren hatte. Der irdische Raum war derart scharf gegen den oberen abgewölbt und abgekapselt, daß nichts von dem ersehnten Wehen des Grenzenlosen spürbar wurde und nicht einmal der Lufthunger gestillt, nicht einmal diese Pein gelindert werden konnte, da der Dunst, in den die Stadt vorher eingehüllt gewesen, nun trotz der Abendbrise nicht verflüchtigt, kaum zerteilt, vielmehr zu einer Art fiebriger Durchsichtigkeit geworden war, gewissermaßen unter dem Druck der Weltabkapselung zu einer Art dunkler Gallerte gestockt, die unbewegt unbewegbar in der Luft schwebte, heißer als die Luft sich anfühlte und in ihrer Unatembarkeit beinahe ebenso bedrückend war wie die Stickigkeit im Zimmer drinnen. Unbarmherzig war das Unatembare vom Atembaren geschieden, unbarmherzig undurchdringlich war die kristallene Schale dunkel darüber gespannt, eine streng abdichtende Trennungswand für den Vorhof der Sphären, für den Vorhof des Atems, für den Weltenvorhof, in dem er stand, aufgerichtet von der ehernen Hand, gehalten von ihr, und während er einstens, eingeschmiegt ins irdisch Flächenhafte und hinerstreckt über die saturnischen Gefilde, selber die Grenze zwischen dem Oben und Unten gebildet hatte, unmittelbar den beiden Zonen angehörig und ihnen einverwoben, durchragte er sie jetzt als eine zum Wachsen bestimmte Einzelseele, welche in ihrer Vereinzelung und Vereinsamung weiß, daß sie, will sie die Tiefen des Oben und Unten erlauschen, sich selbst zu erlauschen hat: unmittelbare Teilhaberschaft an der Sphärengröße ist demjenigen verwehrt, der in der irdischen Zeit, im irdisch-menschlichen Wachstum steht, wiederbeschenkt mit beidem; nur mit seinem Blick, nur mit seinem Wissen vermag er die unermeßliche Getrenntheit der Sphären zu durchdringen, nur mit seiner schauenden Frage vermag er sie verbindend zu umfassen, nur aus seiner fragenden Erkenntnis heraus und in ihr vermag er die Einheit, die Gleichzeitigkeits-Einheit der Welt und ihrer Sphären wiederherzustellen, nur im strömenden Kreislauf der Frage vollbringt er das Jetzt seiner Seele, ihre innerste irdische Notwendigkeit, ihre Erkenntnisaufgabe von Anbeginn an.

Zeit strömte oben. Zeit strömte unten, die verborgene Zeit der Nacht, wiedereingeströmt in seine Adern, wiedereingeströmt in die Bahnen der Gestirne, raumlos Sekunde an Sekunde gefügt, die wiedergeschenkte, wiedererwachte Zeit, überschicksalshaft, zufallsaufhebend, ablaufsentbunden das unabänderliche Gesetz der Zeit, das ewigwährende Jetzt, in das er hinausgehalten wurde:

Gesetz und Zeit,

auseinander geboren,

einander aufhebend und stets aufs neu sich gebärend,

einander spiegelnd und nur hiedurch erschaubar,

Ketten der Bilder und Gegenbilder

die Zeit umschließend, das Urbild umschließend,

keines von beiden jemals zur Gänze erfassend und dennoch

zeitloser und zeitloser werdend,

bis im letzten Echo ihres Zusammenklanges,

bis in einem letzten Sinnbild

sich das des Todes mit dem alles Lebens vereinigt,

die Bildwirklichkeit der Seele,

ihre Wohnstatt, ihr zeitloses Jetzt und daher

das in ihr verwirklichte Gesetz,

ihre Notwendigkeit.

Und in Notwendigkeit hatte sich alles vollzogen, notwendig war sogar der Weg einer Erkenntnis gewesen, welche das Innen und Außen ins unkenntlich Unermeßliche auflöste, zur völligen Fremdheit zertrennt und zerteilt. Doch ist in dieser unabweisbaren, unentrinnbaren Notwendigkeit nicht auch die Hoffnung auf den Wiederzusammenklang des Seins, auf die Nicht-Vergeblichkeit des Geschehens und Geschehenen beschlossen? in Notwendigkeit sind die Bilder aufgetaucht und in Notwendigkeit führen sie näher und näher an die Wirklichkeit heran! Oh, Nähe des Urbildes, Nähe der Ur-Wirklichkeit, in deren Vorhof er stand –, wird die kristallene Decke der Himmelsverborgenheiten nun zerreißen? wird die Nacht ihm nun ihr letztes Sinnbild enthüllen, ihm, dessen Auge zum Brechen bestimmt ist, wenn sie das ihre aufschlägt? er starrte zu den Sternen empor, deren schicksalsbestimmt schicksalsbestimmender, zweitausendjähriger Umlauf sich nun bald runden mußte, Bahn um Bahn dem Schicksal folgend und selber das Schicksal weitertragend vom Vater zum Sohne hin im Zeitengeschlecht, und es grüßte ihn das Himmelsjetzt, sich ausweitend aus dem Sichtbaren ins Unsichtbare zum vollen Kreis des wiedergeschenkten Wissens, es grüßte ihn drüben am südwestlichen Rande, vertraut und unheimlich, des Skorpionen Schicksalsbild, den gefährlich gekrümmten Leib vom milden Strom der Milchstraße umfangen, es schmiegte Andromeda ihr Haupt an des Pegasus geflügelte Schulter, es strahlte unsichtbar grüßend das Niemalsentschwindende, und aus dem vorväterlich jenseitserschaffenen Äon grüßt zehnfach entzündet das Drachengestirn, verlustig des einstigen Thrones; er starrte empor ins Kühlsteinerne, in dem das Bild des Gesetzes kreist, abgeschieden von ihm der dunkel leuchtende Hauch, abgeschieden von ihm die nimmer sich herabsenkende, immer nur erahnbare Wahrheit in ihrer menschenentrückten Notwendigkeit, und ihr Bild nun sehend, ihr Bild ahnend in der Bilderfülle, die sie ist, wußte er um das in ihm webende Erkennen, wußte er, daß dieses dem Zufall enthoben ist, wußte er um das erwartungslose Warten seiner Erkenntniskraft, befreit von jeder Ungeduld, und er ward bereit für die notwendige Vollendung im Unvollendeten. Da wurde die Hand, die ihn hielt, sanfter und sanfter und wurde Geborgenheit. Und auf den Dächern der Stadt lag grünlich staubkühl das östliche Mondlicht; das Irdische wurde nahe. Denn wer die erste Pforte des Schreckens hinter sich gelassen hat, der ist umfangen vom Vorhof einer neuen und größeren Unbekanntheit, umfangen und befangen von einer neuen Besinnung, die ihn wieder ins eigene Geschehen stellt, ins eigene Gesetz, entlöst dem der Wiederkehr, entlöst dem saturnischen Ablauf, entlöst seiner Lauschens-Ungeduld, er ist der Wieder-Aufgerichtete und Aufwärtswachsende, der zu sich selber zurückfindet, und seine Barke gleitet nur noch mit eingezogenen Rudern dahin, leise und erwartungslos in geschenkter Zeit, als stünde die Landung unmittelbar bevor, die Landung am Ufer zufallsenthobener letzter Wirklichkeit;

denn wer die erste Pforte des Schreckens hinter sich gelassen hat,

der ist in den Vorhof der Wirklichkeit eingezogen,

da seine Erkenntnis, sich selbst entdeckend und wie zum ersten Male

auf sich selbst gerichtet,

das Notwendige im All,

das Notwendige jeglichen Geschehens

als das Notwendige der eigenen Seele zu begreifen anhebt;

denn der, dem solches widerfährt,

der ist hinausgehalten in die Einheit des Seins,

in das reine Jetzt, das dem All und dem Menschen gemeinsam ist,

seiner Seele unveräußerlichster Besitzstand,

kraft welchem sie schwebt, schwebend vor Notwendigkeit,

überschwebend den drohend geöffneten Nichts-Abgrund,

überschwebend die Blindheit des Menschen;

denn er ist hinausgehalten in das ewigwährende Jetzt der Frage,

in das ewigwährende Jetzt nicht-wissenden Wissens, in des Menschen göttliches Vor-Wissen,

nicht-wissend weil es fragt und fragen muß,

wissend weil es jeder Frage vorangeht,

göttlich dem Menschen und nur ihm von Anbeginn verliehen

als seine innerste menschliche Notwendigkeit,

um derentwillen

er stets aufs neu die Erkenntnis zu befragen hat und

stets aufs neu von ihr befragt wird,

antwortsbang der Mensch, antwortsbang die Erkenntnis,

erkenntnisgebunden der Mensch, menschheitsgebunden die Erkenntnis,

sie beide ineinandergebunden und antwortsbang,

überwältigt von der Gotteswirklichkeit des Vor-Wissens,

von der Wirklichkeitsweite der wissenden Frage, die

von keiner irdischen Antwort, von keiner irdischen Erkenntniswahrheit

je zu erreichen ist und doch nur hier

im Irdischen beantwortet werden kann, beantwortet werden muß,

im Irdischen verwirklicht

als das Wechselspiel der verdoppelten Weltgestaltung,

Wirklichkeit zur Wahrheit umgestaltet, Wahrheit zur Wirklichkeit,

gemäß dem Befehl, dem die Seele untertan ist,

ihre Notwendigkeit;

denn die zur Frage gespannte Seele

ist hineingehalten in ihr Wahrheitsheil, das

erkenntnisbefohlen, fragebefohlen, gestaltungsbefohlen,

gespannt zwischen Wissens Sicherheit und Erkenntnisfähigkeit,

die Wirklichkeit sucht,

und solcherart

aufgerufen vom Ur-Wissen, aufgerufen von dieser wissenden Frage,

die um des Seins einheitsstiftende Zufallslosigkeit weiß,

hingerufen darob zum erkenntnisgeborenen Wissen,

hingerufen zu seiner Verwirklichung,

hingerufen zur Erkenntnis des Gesetzes, des zufallsentblößten,

ist die Seele in stetem Aufbruch begriffen,

aufbruchsbereit und aufbrechend zur eigenen Wesenheit hin,

zu ihrer Kreatürlichkeit und Außerkreatürlichkeit,

zufallsentblößt beides in der Erkenntnis des Gesetzes,

ihr Ausgangspunkt und ihr Ziel sphärenvereinigt,

den Menschen zum Menschen machend;

denn in den wissenden Erkenntnisgrund seiner Seele

ist der Mensch hineingehalten, in den Erkenntnisgrund

seines Tuns und Suchens, seines Wollens und Denkens, seines Träumens,

und er ist aufgetan der unendlichen Zufallslosigkeit im Wirklichen,

diesem umfassendsten und gewaltigsten,

ehernsanft wahrhaftigsten Wirklichkeitssinnbild seines Selbst,

in das er heimkehren will und heimkehrt

für immerdar,

hineingehalten in das Jetzt seines eigenen Sinnbildes,

auf daß es ihm zur steten Wirklichkeit werde;

denn es ist das Trotzdem seines Aufrufs,

in das der Mensch hineingehalten ist,

das Trotzdem des Ein gekerkerten,

das Trotzdem seiner unverlöschlichen Freiheit

und seines unverlöschlichen Erkenntniswillens,

so unbeugsam,

daß er größer als die irdische Unzulänglichkeit wird,

über sich hinauswachsend

das titanische Trotzdem des Menschentums;

wahrlich, in seine Erkenntnisaufgabe ist der Mensch hineingehalten,

und nichts vermag ihn davon abzübringen,

auch nicht die Unentrinnbarkeit des Irrtums,

verschwindend dessen Zufälligkeit vor der

zufallsenthobenen Aufgabe;

denn so sehr der Mensch in der Verkerkerung seiner irdischen Unzulänglichkeit gehalten wird – und gar einer, der mühselig ans Fenstersims angeklammert als ein Kranker und Todesgezeichneter mühselig nach Atem ringt –, und so sehr er bestimmt ist zur Enttäuschung, ausgeliefert jeglicher Enttäuschung im Großen wie im Kleinen, vergeblich jegliche Bemühung, fruchtno los im Vergangenen, hoffnungslos im Zukünftigen, und so sehr ihn die Enttäuschung vorwärtsgejagt haben mag, von Ungeduld zu Ungeduld, von Ruhelosigkeit zu Ruhelosigkeit, den Tod fliehend, den Tod suchend, das Werk suchend, das Werk fliehend, gehetzt und liebend und nochmals gehetzt, schicksalsgetrieben von einem Erkennen zum ändern, weggetrieben vom einstigheimatlichen Leben eines schlichten Schaffens und hingetrieben zur Mannigfaltigkeit jedweden Wissens und weitergetrieben zur Dichtung und weitergetrieben zur Erforschung der alten und verborgensten Weisheit, erkenntnisungeduldig, wahrheitsungeduldig, und wieder zurückgetrieben zur Dichtung, als könnte sie sich für eine letzte Wirklichkeitserfüllung mit dem Tode verschwistern – oh, Enttäuschung auch dies, Fehlweg auch dies –, oh, so sehr dies alles als schierer Fehlweg gelten mußte, ja, einfach Fehlweg war und ist, ja, kaum ein Ansatz zu einem ersten Schritt und bereits fehlgeschlagen vor dem ersten Ansatz, oh, so sehr dieses ganze Leben sich nun als gescheitert zeigt, gescheitert ist, versandet im Unzulänglichen von Anbeginn an, für immer und ewig zum Scheitern verdammt, weil nichts das Gestrüpp je zu durchbrechen vermag, weil der Sterbliche dem Dickicht niemals entkommt, weil er im bewegungslosen Herumirren auf der Stelle, verzweiflungsgebunden und zufallsgebunden, jedweder Furchtbarkeit des Irrtums verhaftet bleibt, oh, trotzdem und trotzdem, nichts ist ohne Notwendigkeit erfolgt, nicht erfolgt ohne Notwendigkeit, da das Notwendige der Menschenseele, da das Notwendige der menschlichen Aufgabe alles Geschehen und sogar den Fehlweg, sogar den Irrtum überwaltet; denn nur im Irrtum, nur durch den Irrtum, in den er unentrinnbar hineingehalten ist, wird der Mensch zum Suchenden, der er ist,

der suchende Mensch;

denn der Mensch braucht die Erkenntnis der Vergeblichkeit,

er muß ihren Schrecken, den Schrecken jeden Irrtums

auf sich nehmen und, ihn erkennend, bis zur Neige auskosten,

er muß des Schreckens inne werden,

nicht aus Selbstqual, wohl aber

weil nur in solch erkennendem Innewerden

der Schrecken zu überwinden ist,

weil nur dann es möglich wird,

durch des Schreckens hörnerne Pforte hindurch

ins Sein zu gelangen;

darum ist der Mensch hineingehalten in den Raum aller Unsicherheit,

hineingehalten, als trüge kein Schiff ihn mehr,

obwohl er dahinschwebt auf schwebender Barke;

darum ist er hineingehalten in die Räume und Aber-Räume

seines Innewerdens,

in die Räume seines innewerdenden Ichs,

Schicksal der menschlichen Seele,

aber derjenige, hinter dem

die schweren Torflügel des Schreckens sich geschlossen haben,

der hat den Vorhof der Wirklichkeit erreicht, und

das nicht-erkannt Fließende, über das er schwebend dahingleitet,

das Nicht-Erkennen, es wird ihm zum Wissensgrund,

da es das fließende Wachstum seiner Seele ist,

das unvollendbar Unvollendete des eigenen Selbst,

dennoch als Einheit sich entfaltend,

sobald das Ich seiner selbst inne wird,

unvergänglich vor Wachstum die fließende Einheit des Alls

ihm inne geworden, von ihm gesehen

in einer Gleichzeitigkeit, die kraft ihres Jetzt

all die Räume, in die er gehalten ist, zu einem einzigen macht,

zum ein-einzigen Raum des Ursprunges,

und gleich diesem

das Ich in sich birgt, um doch vom Ich gehalten zu werden,

von der Seele umfangen wird und doch die Seele umfängt,

in der Zeit ruhend und die Zeiten bestimmend,

dem Gesetz der Erkenntnis verhaftet und die Erkenntnis schaffend,

mitschwebend in ihrem fließenden Wachsen,

mitschwebend in ihrem schwebend wachsenden Werden, das allein

der Wirklichkeitsursprung ist,

so jenseitsgroß die Ineinanderverstrahlung des Innen und Außen,

daß Schweben und Gehaltenwerden, daß Befreiung und Einkerkerung

zu ununterscheidbar gemeinsamer Durchsichtigkeit verfließen,

oh, so unvergänglich notwendig,

oh, so über alle Maßen durchsichtig,

daß in der abgeschlossen-oberen Sphäre,

allein dem Blick erreichbar, allein der Zeit erreichbar,

gewußt in beiden,

widergespiegelt in beiden, gespiegelt in dem geöffneten

und von ehern-sanfter Hand himmelwärts gerichteten Menschenantlitz

schicksals umwoben

sternenumwoben

das verheißene Geschenk der Nichtvergeblichkeit aufleuchtet,

zufallsbefreit geschenkte Zeit für immerdar,

erkenntnisoffen der Trost im Irdischen –,

und tröstlich im Mondüberrieselten verbanden sich die Sphären, die Himmels- und Erdsphären für immerdar miteinander verbunden, tröstlich gleich dem Atem, der aus mondüberrieseltem All in die Brust zurückkehren soll, tröstlich verkündend, daß nichts umsonst gewesen, daß das um der Erkenntnis willen Getane nicht umsonst getan worden ist und dank seiner Notwendigkeit nicht umsonst gewesen sein konnte. Hoffnung im Nichtvollendeten und Nichtvollendbaren, und daneben, ganz schüchtern, die Hoffnung auf Fertigstellung der Äneis. Hoffnunghallendes Echo der Verheißung im Irdischen, rückhallend in der irdischen Zuversicht; empfangsbereit ist der Sterbliche, umgeben vom irdischen Sein.

Trost und Zuversicht, der Trost der Nichtvergeblichkeit, obwohl die kristallene Decke der Himmelsverborgenheiten sich nicht geöffnet hatte, obwohl kein Bild dort erschienen war, geschweige denn ein letztes Sinnbild; verhüllt war das Auge der Nacht geblieben, ungebrochen sein eigenes, und nach wie vor waren die Unermeßlichkeitszonen bloß in Spiegelung und Gegenspiegelung zu verbinden, nach wie vor war es bloß gewußte,- vom Blick erschaffene Einheit, zu der sich die unermeßlichen Getrenntheiten des Oben und Unten zusammenfügen ließen, nach wie vor war es bloß der Vorhof der Wirklichkeit, in dem er stand, war es bloß der Raum der irdischen Frage, in deren Jetzt er hineingehalten wurde, verwehrt die Vollwirklichkeit letzter Einheit, und trotzdem war es Trost und Zuversicht. Kühlstaubig rann das Mondlicht durch die Nachthitze, durchtränkte sie, ohne sie zu mindern, ohne sich ihr mitteilen zu können, blindkühles Echo des steinernen Himmelsblinkens, gemalt in die hitzige Finsternis. Oh, des Menschen Zuversicht, welche weiß, daß nichts umsonst geschehen ist, daß nichts umsonst geschieht, obwohl es bloß Enttäuschung gibt und kein Weg aus dem Dickicht hinausführt; o Zuversicht, welche weiß, daß selbst dort, wo es zum Unheil ausschlägt, der Erkenntnisgewinn des Erlebten gewachsen ist, bleibend der Erkenntniszuwachs in der Welt, bleibend in ihr das kühlhelle Echo der Zufallslosigkeit, zu der das irdische Handeln des Menschen sich durchzuringen vermag, sooft es seiner erkenntnisbestimmten Notwendigkeit folgt und zu einer ersten Erhellung der Irdischkeit und ihres Herdenschlafes gelangt. Oh, Zuversicht voller Zuversicht, nicht herabgestrahlt vom Himmel, sondern in der menschlichen Seele kraft der ihr auferlegten Pflicht zur Erkenntnis irdisch entstanden –, wird also nicht auch die Erfüllung der Zuversicht, sofern sie erfüllbar ist, ebenso irdisch erfolgen müssen? Das Notwendige vollendet sich stets im schlicht Irdischen; der strömende Kreislauf der Frage wird immer nur im Irdischen seine Schließungsstelle finden, und mag die Erkenntnisaufgabe auch oft und oft bis ins Überirdische reichen, mag ihr sogar die Vereinigung der getrennten All-Sphären aufgetragen sein, es gibt keine echte Aufgabe ohne irdischen Ausgangspunkt, keine, die nicht mit Möglichkeiten ihrer Lösung irdisch verwurzelt wäre. Mondverweht, mondflüchtig lag nun die irdische Welt vor ihm hingebreitet, hatte sich das Menschliche unter sich selbst zurückgezogen, geflüchtet in den Schlaf, verborgen in den schlafsatten Häusern, abgesunken unter sich selbst, abgeschieden von den hinaufgesunkenen Sternen, und die Stille der Welt war zwiefache Verlassenheit zwischen der oberen und der unteren Zone; keine Stimme unterbrach die hauchlose Ruhe, nichts war vernehmbar außer dem leisen Aufund Abprasseln der Wachtfeuer und den gelangweilt schweren Tritten des längs der äußern Umfassungsmauer patrouillierenden Postens, die rundenmäßig näher kamen und wieder verhallten, doch horchte man genauer hin, so war es, als schwänge auch hier ein leises Echo von irgendwoher mit, ein begleitender Laut, kaum mehr Widerhall, kaum mehr gebrochen, nur noch zerstäubt, dennoch widergebrochen an den Hauswänden des Platzrandes, gebrochen im Winkelwerk der Gassen und der Wohnhöhlen, gebrochen am großen Steingefüge der Stadt und der Städte, gebrochen an den Wänden der Gebirge und Meere, gebrochen an der trüb-kristallenen Unterwölbung des Himmels, gebrochen am Sternenlicht, gebrochen am Unerkennbaren, hingehaucht und zerstäubungsgebrochen, in Zitterwellchen heranschwingend, alsogleich jedoch wieder wegschwindend, sobald man es erhaschen wollte. Aber irdisch vorhanden und dabei seltsam sphärenverbunden hielt das schwache Geprassel der Feuer hinter der Mauer weiter an, und wenn auch manchmal gleicherweise bis ins Echohafte und Unsichtbare verebbend, wenn auch selber eingereiht in die Kette der Bilder und AberBilder, es war wie ein Hinweis auf die Nicht-Vergeblichkeit der menschlichen Bemühung, wie ein Hinweis auf den irdischen Ursprung des der Menschenseele eingeborenen titanischen Einheits-Willens; es war wie eine Aufforderung an die Erkenntnis, sich zur Erde hinab und ins Irdische zu wenden, um hier ihre Erneuerungskraft zu finden, das Prometheische, das aus dem unteren Bereich und nicht aus dem oberen herstammt. Ja, dem irdischen Bereich hatte er seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, und aufmerksam wartete er, sehr atemmüde über die Fensterbrüstung gebeugt, das Notwendige erwartend, das da kommen sollte.

Unter ihm gähnte es in brunnengleicher Schwärze, der schmale Raum zwischen dem Palast und der Umfassungsmauer, unbeleuchtet tief der schwarze Grund des Schachtes, während hinter der Mauer, völlig von ihr verdeckt, lediglich im Widerschein sichtbar, eines der Wachtfeuer brannte, und wenn der Wachtposten auf seinem Gang den kleinen Flackerbereich durchquerte, dann glitt über das mattrötlich beschienene Steinpflaster undeutlich der Schatten des Mannes hin, ein dunkles Schattenhauchen, das manchmal an der gegenüberliegenden Gebäudewand hochsprang, zackig und augenblicksrasch, fast unwirklich vor seltsam unvermuteter Beweglichkeit. Was dort unten, verdeckt von der Mauer, vor sich ging, war simpelste militärische Pflichterfüllung, nichtsdestoweniger, eben wie jede menschliche Pflichterfüllung, seltsam mit dem Wissensgrund der Erkenntnis, mit der Erkenntnisaufgabe schlechthin und ihrer Nichtvergeblichkeit verbunden,- was da geschah, ging im Vorhof der Wirklichkeit vor sich, in der Nähe des Endgültigen. Und nicht aus der Sternen Sphäre, und nicht aus der Zwischensphäre unter den Sternen wird der Durchbruch zur Ur-Wirklichkeit erfolgen, nicht dort wird sich die verheißene Nichtvergeblichkeit erfüllen, wohl aber in der Sphäre des Menschen, und vom Menschen aus wird der Anstoß zur Durchbrechung der Grenzen erfolgen; göttlich ist der Mensch hiezu vorbestimmt, göttlich ist ihm die Zuversicht hiezu verliehen, göttlich seine Notwendigkeit, und mag auch der Zeitpunkt des großen Wirklichkeitsgelingens so wenig voraussagbar sein, daß keiner erforschen kann, ob das schicksalsverborgene Ereignis in unerlebbarer Zukunft oder in unmittelbarem Jetzt statthaben wird, oder ob es nicht sogar schon eingetreten ist, unabweislich ergeht aus dem Schicksalsverborgenen, drängend und mahnend, das Geheiß zur Wachsamkeit, das Geheiß jeden Augenblick festzuhalten, gewärtig des Augenblicks der Offenbarung, der Offenbarung im Zufallslosen, im Gesetze, im Menschlichen. Der Befehl tönte aus dem Unerforschlichen, und er tönte in dem verloren-unhörbaren, pochenden Klingen des müd-heißen, fiebrigen, monddurchflossen-schwarzen Glastes, der das Irdische umfing, unbeweglich über die Dächer hinfloß, zum Fenster herfloß und auch ihn, der hier stand, umfangen hielt, ihn mit dem Befehl zur Wachsamkeit einhüllend, als wäre diese ein Teil des Fiebers. Und fiebernd richtete er seine Wachsamkeit auf das Sichtbare, schier sehnsüchtig, daß dort irgendwo ein menschliches Lebewesen sich zeige. Nichts zeigte sich. Landwärts im Südwesten stand das dräuend hellglänzende Bild des Skorpions, stand über einer verflimmernden Erde, es verflimmerte die Grenze zwischen den Stadthäusern da draußen und den von ihnen halbverdeckten Nachthügelwellen der Landschaft, es verflimmerten die auf- und abwogenden Wellen der Felder und Haine und Wiesen, ihre Halmwellen, ihre Laubwellen, vom Monde kühlsteinern durchflossen und von letzter Unendlichkeitsschwärze hinterwölbt, sie verflimmerten in den steinern tönenden, steinern kühlen, steinern bebenden Fieberwellen des eingefluteten Sternenraumes, nachtgetränkt, lichtgetränkt, dahingleitend und vergleitend, dahinströmend, und das blasse Glänzen hatte kein Ende im Unsichtbaren. So flutete es dorthin und flutete zurück, heißkühl und schattenlicht im doppelten Ursprung, hinabgesenkt in die Schwärze, hinabgeflossen in die Schächte der Höfe, der Plätze, der Gassen, hingebreitet über das Sichtbar-Unsichtbare des Irdischen. Schräg gegenüber mündete eine Gasse in den Platz; in ihrer geraden Strecke dem Blicke geöffnet, war sie vom Monde hell durchstrichen, nur hie und da war sie von höheren Häusern überdunkelt, und an der Dächerflucht war zu erkennen, daß sie in ihrem weitern Verlaufe zum Stadtrande hinführte, in einer leichten Doppelbiegung, die der des Skorpionenbildes dort drüben glich und darauf hinzielte, verführerisch die Formähnlichkeit, verführerisch das Hinzielen, ja so sehr verführerische Verlockung, daß sie zu Bangigkeit wurde, zu einer Sehnsucht, hinwandern zu dürfen, die Straße entlang, ihre Biegungen leicht durcheilend, ins Land hinaus, dem Sternbilde zu, Heimat um Heimat durchwandernd, die Haine der Lichtfieber und der Schattenfieber durchquerend, heiter der Traumesschritt, der sie durchfliegt; oh, hinauszuwandern über die Blickstraßen, die im Ziele wieder den Ursprung enthalten, für ewig und ohne Umkehrung. Keines Führers bedarf es auf solch leichtem Wege, aber auch keines strengen Erweckers, denn ohne Unterlaß währt der durchleuchtetschimmernde Schlummer der Welt; es galt bloß vorwärtszuschreiten, vorwärtszuwandern im Unerrufbaren, geöffnet alle Grenzen, und nichts vermag den Wandelnden mehr aufzuhalten, niemand überholt ihn, niemand kommt ihm entgegen, das Göttliche eilt ihm nicht voraus, und er begegnet nicht dem Tierischen, unbeschwert von beiden ist sein Fuß, aber die Richtung, die er geht, ist die des Trostes und der Zuversicht, ist die der Notwendigkeit, ist die des Gottes. War es so? gab es hier wirklich keine Gegenrichtung mehr? Wird nicht doch noch einer in der Gegenrichtung daherkommen, zurückstrebend ins Tierische, zurückfallend ins Untierische?

Es hieß warten, mit großer Geduld warten, und es dauerte lange, unerträglich lange. Dann jedoch, dann kam etwas. Und sonderbar, das was kam, obwohl das Gegenteil alles Erwartbaren, war gleichfalls wie von Notwendigkeit herbefohlen. Zuerst kam es als Hörbild, nämlich als das langsam aus der Stille sich lösende Hörbild von Schlurfschritten und undeutlichem Gemurmel, und es blieb eine geraume Zeit im Schatten versteckt, ehe die zugehörigen Gestalten auftauchten, drei undeutliche weiße Flecken, die schwankend und oftmals stockend, ineinander verfließend und wieder auseinanderstrebend, sichtbar im Mondlicht, untertauchend ins Dunkel, gleichsam widerwillig sich heranschoben. Atemlos vor gespannter Wachsamkeit, atemlos vor Beklommenheit im unatembaren Nachtglast, krampfverschränkt die Hände, krampfhaft die Finger über den Ring verschränkt, krampfhaft zum Fenster hin vorgebeugt und den Kopf weit vorgestreckt, verfolgte er das Herannahen der drei Erscheinungen. Für eine Weile blieben sie nun stumm, dann aber, im Gegensatz zu dem vorher gegangenen undeutlichen Gemurmel, plötzlich scharf und äußerst deutlich, wurde eine Stimme laut, eine krähende Tenorstimme; beinahe schreiend, als hätte sich ihr Träger zu einem unwiderstehlich endgültigen Entschluß aufgerafft, erfolgte die Verkündigung: „Sechs Sesterzen.“ Wieder wurde es stumm, fast hatte es den Anschein, als ließe das Endgültige überhaupt keine Antwort mehr zu, doch dann wurde sie trotzdem erteilt: „Fünf“, sagte eine zweite Mannsstimme, unwohlwollend-wohlgelaunt, in einem ruhigen, nahezu schläfrigen Baß, der zweifelsohne jede weitere Verhandlung abschneiden wollte: „Fünf.“ – „Scheiße, sechs!“, krähte uneingeschüchtert die erste Stimme, worauf sich nach einigem unverständlichen Hin und Her der Baß ins ruhig Endgültige zurückzog: „Fünf, und nicht einen Aß mehr.“ Sie blieben stehen. Bisher war nicht zu ergründen, um was da gehandelt wurde, indes nun mischte sich die dritte Stimme ein, und es war die eines betrunkenen Weibes: „Sechse gibst ihm!“, befahl sie mit einem umkippend fettigen Kreischen, hinter dessen ungeduldig fordernder Dringlichkeit irgend etwas kriecherisch Erbötiges herauslugte, freilich ohne damit viel zu erreichen, denn nun bestand die Antwort bloß aus einem kehlig-höhnischen Lachen. Und gereizt von dem Lachen und dem unangreifbaren Hohn, überschlug sich die Weibsstimme zur Wut: „Am meisten fressen, aber nix zahlen ... Fleisch willst haben, und Fisch willst haben, und alles ...“; und als daraufhin wiederum nur das bellende Mannslachen ertönte, ging es weiter: „Mehl soll ich kaufen, und Zwiebel, und alles, und Eier und Knoblauch, und Öl, und Knoblauch ... und Knoblauch ...“ – betrunken japsend, begleitet von dem sie anfeuernden Mannslachen, das in ein breitkeuchendes Gurgeln übergegangen war, hielt sie sich an der Unerschwinglichkeit des Knoblauchs fest –, „Knoblauch willst ham ... Knoblauch ...“ – „Hast recht“, krähte der Tenor dazwischen und entschied sich mit unvermitteltem Gedankensprung zu einem „Gib Ruh!“ Sie jedoch, als hätte das Wort aufklärerische Kraft, ließ sich nicht abhalten: „... Knoblauch ... Knoblauch soll ich kaufen ...“ Sie waren neuerlich von der Dunkelheit aufgenommen worden, aus der Dunkelheit erscholl der Ruf nach Knoblauch weiter, und wirklich wie aufs Stichwort war mit einemmal die fiebrige Finsternis der Nacht von sämtlichen Küchengerüchen, welche die Stadt nur aushauchen konnte, beladen und geschwängert, schwer, satt, geil, ölig, bequem und furchtbar, verdauend und verwest, verprasselt, pfannenstinkend, wiederkäuerisch, die schlafsüchtige Nahrung der Stadt. Für einige Augenblicke wurde es still, sonderbar erstickt, als wären von dem trägen Dunst auch die drei da drunten verschluckt worden, und selbst nach ihrem Wiedereintritt ins Helle hatten sie nichts mehr zu sagen; das Argument des Knoblauchs war ausgeschöpft, sie kamen stumm heran, deutlicher und deutlicher werdend, allerdings bei aller Stummheit keineswegs friedfertig geworden: zuvorderst zeigte sich ein auffallend dürrer Kerl, der mit hochgezogener Schulter an einem Stocke hinkte und diesen drohend hob, so oft er stehenbleiben mußte, um die beiden anderen nachfolgen zu lassen, in einiger Entfernung hinter ihm das Weib, dick und massig, und schließlich, womöglich noch dicker, womöglieh noch besoffener, jedenfalls noch schwerfälliger, der andere Mann, ein breitbauchiger Turm, der den ständig wachsenden Abstand zu der Frau hin nicht aufzuholen vermochte und endlich mit einem greinenden Piepsen und aufgehobenen Kinderhänden sie aufzuhalten trachtete; so kamen sie daher, ein schwankend unsicherer Anblick, der noch ein wenig unsicherer wurde, als sie an der Straßenmündung in den schwankenden Schein des Wachtfeuers gerieten; so waren sie hier vor seinen Augen angelangt mitsamt ihrem neuausbrechenden Hader, da der hinkende Anführer mit einer hafenwärts gerichteten Linkswendung sich anschickte den Platz zu überschreiten, und die Frau ihm ein „Scheißkerl!“ nachgellte, so daß er, haltmachend und . sein Vorhaben aufgebend, sich umkehrte und mit fuchtelndem Stock auf sie losging, zwar nicht furchteinflößend für die unentwegt Weiterkeifende, wohl aber für den dicken Turm, der sich piepsend zur Flucht wandte und damit die Frau zwang ihm nachzulaufen und ihn zurückzuzerren –, ein Erfolg, der für den ändern so erfreulich war, daß er den Stock sinken ließ, um nun erst recht jenes bellend dickkehlige Hohnlachen auszustoßen, das schon vordem die Frau zur Raserei gebracht hatte. Alsogleich stellte sich das nämliche Ergebnis ein, die Frau wurde rasend: „Heimgehen!“, herrschte sie den dürren Lacher an, und als dieser mit hin- und herwippendem, ausgestrecktem Finger, seine frühere Absicht unterstreichend, in die Hafenrichtung wies, streckte sie, keuchend vor schwabbelnder Aufregung, ihrerseits den Arm in die entgegengesetzte Richtung aus: „Mach, daß du heimkommst, in der Stadt hast nix mehr zu suchen ... mir machst nix vor, ich weiß schon, was du dorten hast, ich kenn sie schon, deine Schlampen ...“ – „Hoh?“, der wippende Finger kam zur Ruhe, die Hand formte sich zum Becher und zur Trinkgebärde. Dies war für den Dicken, der sich an die Hausmauer gelehnt hatte, so einleuchtend, daß er zu der Endgültigkeit seiner Entschlüsse zurückfand: „Wein“, gluckste er verklärt, und setzte sich in Bewegung. Die Frau versperrte ihm den Weg: „Ah, Wein“, geiferte sie, „Wein? ... zu seiner Schlampen will er, und ich, ich soll ihm kochen ... Schweinefleisch will er haben und alles will er haben ...“-„Schweinchen-fleisch“, krähte der Tenor. Verächtlich stieß sie ihn zu der Mauer zurück, aber beinahe weinerlich wandte sie sich dem ändern zu: „Alles willst haben von mir, aber nix zahlen ...“ –„Fünfe zahl ich ihm, hab ich gesagt ... komm mit, kriegst Wein.“ – „Pfeif auf dein' Wein ... sechse zahlst ihm.“ – „Er kriegt auch Wein.“ – „Er braucht dein' Wein nicht.“ – „Das geht dich ein Dreck an, du Aas; fünfe zahl ich ihm, nicht ein Deut mehr, und Wein kriegt er.“ – „Fünfe“, erklärte mit Würde der Fettwanst an der Mauer. Das Weib fuhr auf ihn los: „Was hast gesagt? was hast gesagt?!“ Erschrocken suchte er nach einer Ausrede; schließlich äußerte er freundlich-verbindlich: „ Scheiße.“ – „Was hast ihm gesagt?!“ Sie ließ nicht locker, und in die Enge getrieben, wiederholte er voll erzwungenen Mutes seiner neuen Überzeugung gemäß: „Fünfe.“ – „Das sagst noch, du Schlauch, du Weinbauch ... und's Fressen soll ich für euch herschaffen ... ohne Geld soll ichrs schaffen ...“ Es machte auf den Dicken keinen Eindruck: „Wein ... kriegst auch Wein“, fistelte er glückselig, als müßte er jetzt für seinen Mut belohnt werden. Sie hatte ihn an der Tunica gepackt: „Das ganze Geld tragt er zu der Schlampen ... sechse muß er zahlen, hörst, sechse ...“ – „Sechse“, sprach der Turm fügsam nach und machte Anstalten, sich niederzusetzen, was ihm freilich unter der haltenden Hand der Frau nicht gelang. Für den Dürren war es ein Quell nicht enden wollenden, grölenden, stockfuchtelnden Vergnügens: „Fünfe hat er gesagt, und fünfe zahl ich ihm; dabei bleibt's!“ – „Nicht wahr is“, fauchte sie, und den Fettwanst immer noch an der Tunica haltend, schrie sie ihm ins Gesicht: „Sag's ihm, sechse sind's, sag's ihm!“ Bei alldem verlor ihre Stimme, mochte sie sich auch noch so sehr überschlagen, nicht den werbend anbieterischen Unterton; nur war nicht festzustellen, wem der zu gelten hatte. Immerhin wurde der Dürre, seine Heiterkeit etwas unterbrechend, jetzt um einen Grad versöhnlicher : „Was willst denn? Mehl kriegst sowieso vom Cäsar umsonst...“ Sie Stutzte, und dies gab dem Dicken, der sich unter ihrem zerrenden Griff wand, nicht nur eine Atempause, sondern auch die Gelegenheit, von der leidigen Sesterzenangelegenheit endlich loszukommen: „Heil dem Augustus!“ krähte er zu der kaiserlichen Wohnstatt herüber, und hochgezückten Stockes bekräftigte der andere, der sich gleichfalls dem Palaste zugewandt hatte, den fröhlich quäkenden Ruf mit einem dröhnenden „Heil ihm!“, und nochmals erscholl es quäkend begeistert „Heil dem Augustus!“, und nochmals salutierte der Dürre mit dröhnendem „Heil ihm!“ – „Maul halten, Maul halten, alle beide!“, fuhr das Weib angewidert zornig dazwischen, und tatsächlich, für ein paar Sekunden hatte es eine Wirkung: wohl nicht gerade aus Achtung vor dem Befehl der Frau, eher noch aus Achtung vor dem angerufenen Cäsar, es verstummten die beiden, ja sie erstarrten sogar, offenen Mundes der Dicke, erhobenen Stockes der Dürre, und während der stockbewehrte Schatten im aufprasselnden Feuerschein an der Mauer hochflackte und die Frau, die schweren Arme in die Hüften gestützt, die schöne Wirkung betrachtete, hätte man meinen können, es würde die Regungslosigkeit nunmehr für alle Ewigkeit andauern, bis sie eben doch durch das neuanhebende, neuaufdröhnende Lachgebell abgebrochen wurde, jählings abgehackt durch ein Lachen, in das nun auch das dicke Paar einstimmte, zuerst tenorig hell, geradezu rosig zwitschernd der Fettwanst, sodann willenlos kollernd, schwabbelig gackernd die Frau, und der Stock schlug den Takt, dreimäulig das Lachen, das schüttelnde Lachen, das aus einer unbekannten Feuertiefe feucht heraufquoll, dreiköpfig der Hohn, mit dem sie sich selbst und einander verspotteten, dreileibig der unbekannte, der unbekannteste Gott. Es drängte zu einem Höhepunkt und der Magere fand ihn: „Wein“, schrie er, „kriegst dein' Wein, Dicker, Wein für alle, Wein aufs Wohl vom Cäsar!“ – „Hui, hui, hui“, gackerte die Frau, und ihr Lachen purzelte über sich hinaus, ins Zornige und dabei erst recht ins anbieterisch Unzüchtige,„ dein' Cäsar, den kenn ich ...“ – „Mehl vom Cäsar“, belehrte sie hold der patriotische Turm und begann, sich von der Mauer zu lösen, „Mehl vom Cäsar, hast es selbst gehört... Heil ihm!“ Fast wäre zu erwarten gewesen, daß sie daraufhin wieder ihren Knoblauchruf hätte ausstoßen müssen, so sehr war es wie ein Herumirren auf der nämlichen Stelle, und als nun gar noch der andere, grölend und sich verschluckend, mit der Bestätigung anrückte: „Jawohl, morgen wird's austeilt, morgen läßt er's austeilen ... kost dich garnix!“, da riß ihr die Geduld: „Ein Dreck wird austeilt“, – sie kreischte, daß es über den ganzen Platz hingellte –, „einen Dreck gibt der Cäsar her ... ein Dreck is dein Cäsar, ein Dreck ist er, der Cäsar; tanzen und singen und ficken und huren kann er, der Herr Cäsar, aber sonst kann er nix, und ein Dreck gibt er her!“ – „Ficken ... ficken ... ficken...“, wiederholte der Dicke beseeligt, als hätte sich ihm mit diesem einen zufälligen Wort die gesamte Weltgeilheit in ihrer ganzen Zufallsbrunst eröffnet, „der Cäsar fickt, Heil dem Cäsar!“ Der Dürre war unterdessen einige Schritte weiterge-humpelt, möglicherweise besorgend, daß die Wache sich nähern könnte, und obschon sein Nachtlachen nach wie vor kehlgrölig anhielt, so klang es doch beunruhigt, als er jetzt über die hochgezogene Schulter hin zurückrief: „Vorwärts ... kriegst Wein, vorwärts!“ Freilich fruchtete es nichts, und vermutlich gab es da überhaupt nichts mehr was hätte fruchten können, denn der Dickwanst, obstinat entzückt von dem tanzenden und fickenden Cäsar, war unmißverständlich darauf aus, es dem Erhabenen gleichzutun, und patriotisch bemüht, sein Liebeswerben mit Heilrufen auf den Augustus Vater, auf den Augustus Cäsar, auf den Retter Augustus, vornehm zu unterstützen, trachtete er, lüstern bittend die Hände vorgestreckt, an die schimpfend und fluchend zurückweichende Frau heranzugelangen, tappend und täppisch, kleine Krählaute ausstoßend, ein vergnüglich zwitschernder, begattungsbereiter Koloß, der infolge seiner Giertrunkenheit in hüpfendes, geradezu leichtfüßiges Tänzeln geraten war, taubblind auf sein Ziel gerichtet und sicherlich nicht gewillt davon abzulassen, hätte nicht ein überraschender Stockhieb des leise Herbeigehinkten dem Spiel plötzlich ein Ende bereitet: es war unbeschreiblich rasch und still vor sich gegangen, man hatte nichts gehört, es war als hätte der Stock in einen Haufen Daunen geschlagen, und auch nicht ein einziger Laut des Erschreckens oder des Schmerzes war hörbar geworden, kein Ächzer und kein Seufzer wurde vernommen, der Dicke war einfach hingeplumpst, wälzte sich ein wenig und blieb dann ruhig liegen –, der Mörder jedoch scherte sich nicht weiter um ihn, sondern entfernte sich, ohne sich auch nur umzuschauen, er hinkte gleichmütig von dannen, allerdings nicht dem Hafen und dem Weine und der Schlampen zu, vielmehr trat er den ihm von der Frau befohlenen Heimweg an, bekümmert um diese, die wie unschlüssig – vielleicht betroffen und gerührt ob der Plötzlichkeit des Verlöschens oder ob der so plötzlich verloschenen Zufallsbrunst – sich in einem gleichsam theaterhaft trauernden Verweilen über den Leichnam gebeugt hatte, ehe sie es nach wenigen Augenblicken von sich abtat und entscheidungsrasch sich beeilte den Davonhinkenden einzuholen; dies alles geschah derart geschwind, derart ferne, derart tief ein gewoben in den fiebrig unbeweglichen Nacht glast, daß wohl niemand vermocht hätte hier hindernd einzugreifen, am allerwenigsten ein Kranker, der vom Fenster aus den Vorgang hatte verfolgen müssen, unfähig zu einem Schrei, unfähig zu einem Winken, gelähmt und erstarrt und gebannt infolge der ihm geheißenen Wachsamkeit, infolge der ihm auferlegten Pein, überdies aber, weil er kaum zur Besinnung des Geschehenen hatte gelangen können, denn bevor noch das flüchtende Mörderpaar dort unten hinter dem zinnengekrönten, scharf vorspringenden Eck der Umfassungsmauer verschwunden war, da regte sich der Gefallene, und nachdem er es zustande gebracht hatte, sich in die Bauchlage zu drehen, krabbelte er auf allen vieren wie ein Tier, wie ein großer plumper Käfer, der ein Beinpaar verloren hat, eilends den Gefährten nach. Nicht Komik, nein, Schrecknis und Furchtbarkeit umwitterten das Fabeltier, und Schrecknis wie Furchtbarkeit hielten noch an, als es sich endlich auf die Hinterbeine stellte, um sein Wasser an der Hausmauer abzuschlagen, hernach aber, bei jedem Schritt den Halt verlierend und die Mauer abtastend, an ihr weitertorkelte. Wer waren die drei gewesen? waren sie Abgesandte der Hölle, entsandt aus dem Elendsquartier, in dessen Fensterreihen er geblickt hatte, unbarmherzig vom Schicksal zum Blick genötigt?! , was würde er noch alles sehen, was noch alles an treffen müssen? war es noch immer, noch immer nicht genug?! Oh, nicht ihm hatten diesmal die Schimpfworte gegolten, nicht ihm galt der Hohn und das Lachen, von dem die drei geschüttelt worden waren, dieses grölende, bellende, mitreißende Mannslachen, das mit dem Weiberlachen aus der Elendsgasse keinerlei Ähnlichkeit besaß, nein, Ärgeres regte sich in diesem Lachen, Schrecknis und Furchtbarkeit, und es war die Furchtbarkeit des Sachlichen, das sich nicht, mehr an den Menschen wendet, weder an ihn, der es hier am Fenster gesehen und vernommen hatte, noch sonst an irgendeinen Menschen, gleichsam eine Sprache, die nicht mehr Brücke zwischen Menschen ist, gleichsam ein außermenschliches Lachen, dessen Hohnbereich den sachlichen Weltbestand als solchen umfaßt, und das, über jeden menschlichen Bereich hinausreichend, den Menschen nicht mehr verlacht, wohl aber mit der Bloßstellung der Welt ihn einfach vernichtet; oh, so hatte es im Lachen der drei Gestalten geklungen, Entsetzen ausdrückend, Entsetzen vermittelnd, das Mannslachen, das spaßgrölende Lachen des Entsetzens! Warum, oh, warum war es zu ihm geschickt worden?! welche Notwendigkeit hatte es hergeschickt? Er beugte sich hinaus, um den dreien nachzulauschen –dort am Südhimmel, dort spannte unbewegt-stumm der Schütze den Bogen gegen den Skorpion hin, schützenwärts waren die drei verschwunden, und aus der Stummheit flatterten noch ein und das andere Mal, erst roh zerrissen, dann leicht zerfranst, erst bunt, dann grau, und schließlich verflatternd die restlichen Unflatsfetzen ihrer Schimpfreden heran, ein glitschig fettes, keifendes Auflachen der Weibsstimme, anbieterischge-bieterisch in ihrem greinenden Jammer, ein paar Worte aus dem kehligen Baß des Hinkenden, ein und das andere Mal seine bellende Lache, zuletzt nur noch ein Dämmerfluchen, beinahe fernwehhaft, beinahe zart geworden und eingegangen in die übrigen Geräusche der Nachtferne, eingesponnen und einsgeworden mit jedem Ton, mit jedem letzten Tonrest, der sich der Ferne entlöste, einsgeworden mit dem Traumkrähen eines silberschläfrigen Hahnes, einsgeworden mit dem Verlorenheitsbellen zweier Hunde, die irgendwo draußen im verschimmernd Freien, vielleicht auf irgendeiner Baustelle, vielleicht bei irgendeinem Landhaus, einander ihr Monddasein zuriefen, das brückenlose Zwiegespräch des Tieres einsgeworden mit den Tönen eines Menschenliedes, das bruchstückweise aus der Hafenzone heraufdrang, erkennbar zwar noch in seinem Ursprung, nördlich herangeweht, dennoch schon beinahe richtungslos, zart auch dies, obwohl es vermutlich zu einem lachenumbrüllten obszönen Matrosensang aus weinstinkender Taverne gehörte, zart und fernwehhaft, als sei die stumme Ferne, als sei das starr Jenseitige in ihr der Ort, an dem die stumme Sprache des Lachens und die stumme Sprache der Musik, beides Sprache außerhalb der Sprache, unterhalb und oberhalb der Grenze menschlicher Gebundenheit, sich zu neuer Sprache verbündeten, zu einer Sprache, in der die Furchtbarkeit des Lachens wundersam von der Holdheit des Schönen aufgenommen, indes nicht aufgehoben, sondern zu verdoppelter Furchtbarkeit verstärkt wird, zur stummen Sprache der außermenschlich-erstarrtesten Ferne und Verlassenheit, zur Sprache außerhalb jeglicher Muttersprache, zur unerforschlichen Sprache der vollkommenen Unübersetzbarkeit, unverständlich in die Welt eingegangen, unverständlich und unerforschlich die Welt mit ihrer eigenen Ferne durchdringend, notwendig in der Welt vorhanden ohne sie verändert zu haben, und eben darum doppelt unverständlich, unsagbar unverständlich als die notwendige Unwirklichkeit im unverändert Wirklichen!

Denn nichts hatte sich verändert: gestaltenerstarrt und stumm, unverändert im Sichtbaren, tiefeingesenkt unter die Oberfläche des Himmels stand die Vielfalt der Sterne, nordwärts die vom Arme des Herkules bezwungene Schlange, südwärts der drohende Schütze, unverändert drunten im Unsichtbaren standen die dunkelheitstarrenden Wälder durchschlängelt von mondknisternden Nachtwegen, durcheilt vom traumsatten Wild, das die glitzernde Tränke sucht, unverändert im fernheimatlichsten Unsichtbaren grüßten mit leuchtenden Gipfeln stillüberglänzt die Berge den bergüberglänzenden Mond, unsichtbar-fernst ein silbernes Rauschen das Meer, so stand die Nacht aufgetan im Sichtbaren und Unsichtbaren unverändert vor ihm, eine von den Nachtmyriaden in unabänderlicher Unveränderlichkeit seit Urbeginn, aufgetan die Welt im Aber-Unsichtbaren, Sphäre um Sphäre voneinander getrennt, unverändert der Vorhof der Wirklichkeit; oh, nichts hatte sich verändert, doch alles war in jene neue Ferne gerückt, welche jegliche Nähe aufhebt, jegliche Nähe durchdringt und sie ins Unerforschliche übersetzt, die eigene Hand fremd macht und den eigenen Blick zum Unsichtbaren hin erstreckt, in eine allgegenwärtige Ferne, die das Licht und selbst da unten den mauerverdeckt abprasselnden Feuerschein in ihr Nirgendwo aufsaugt, Ferne, die jeden Ton des Lebens, ja selbst auch da unten den einsam seltenen Wachtpostenschritt entsinnlicht und im Unerlauschbaren beheimatet, Ferne in der Nähe, Überferne in der Ferne, äußerste und zugleich innerste Grenze beider, das Unwirkliche in ihrer beider Wirklichkeit, verzaubert in ihnen bei den das Fern-Entrückte –, die Schönheit.

Denn

an der entrücktesten Grenze strahlt die Schönheit auf,

aus entrücktester Ferne strahlt sie in den Menschen

erkenntnisentrückt, frageentrückt,

mühelos

nur noch dem Blick erfaßbar,

die von der Schönheit gestiftete Einheit der Welt,

gegründet auf dem schönen Gleichgewicht der Überferne,

die alle Punkte des Raumes durchdringt, mit Ferne sie sättigend

und – schier dämonisch – nicht nur das Widersprechendste

in Gleichrangigkeit und Bedeutungsgleichheit auflöst,

sondern – noch dämonischer – an jedem Punkt auch

die Raumesferne mit Zeitenferne erfüllt,

stillstehend die Flutwaage der Zeit an jedem Punkt,

nochmals ihr saturnischer Stillstand,

nicht Aufhebung der Zeit, wohl aber ihr ewigwährendes Jetzt,

das Jetzt der Schönheit, als dürfte in ihrem Anblick

der Mensch, obwohl aufgerichtet und aufwärtswachsend, wieder zurücksinken

in sein dämmerig liegendes Lauschen,

neuerlich hinerstreckt zwischen den Tiefen des Oben und Unten,

neuerlich einswerdend mit dem lauschenden Blick, den er aussendet,

als erlaubte die Tiefe ein neuerliches Teilhaftigwerden, das

frei von Erkenntnis und Frage

urzeitlich und vor-urzeitlich auf Erkenntnis und Frage verzichten darf,

verzichtend auf die Unterscheidung von Gut und Böse,

entfliehend der menschlichen Erkenntnispflicht,

fliehend in eine neuerliche und darum falsche Unschuld, auf daß

das Verwerfliche und das Pflichtgebotene, das Unheil und das Heil,

das Grausame und das Gütige, das Leben und der Tod,

das Unverständliche und das Verständliche

zu einer einzigen unterscheidungslosen Gemeinsamkeit werden mögen,

umschlossen von dem einheitsstiftenden Band der Schönheit,

mühelos einverstrahlt in den sie umfassenden Blick,

und ebendarum ist es wie Verzauberung, und verzaubert-verzaubernd,

dämonisch allesaufnehmend ist die Schönheit,

alleseinschließend ihr saturnisches Gleichgewicht,

ebendarum aber auch ein Rückfall ins Vor-Göttliche,

ebendarum Erinnerung des Menschen an etwas, das noch vor seinem Vor-Wissen stattgehabt hat,

Erinnerung an eine vor-göttliche Werdezeit der Schöpfung.

Erinnerung an eine unterscheidungslos dämmerhafte Zwischenschöpfung

bar des Eides, bar des Wachstums, bar der Erneuerung,

dennoch Erinnerung und als solche fromm, wenngleich

eidlose, wachstumslose, erneuerungslose Frömmigkeit,

die dämonische Frömmigkeit der Schönheitsentrückung

in die Entrücktheit äußerster Grenzen,

doch ohne den Willen, die Grenze zu überschreiten,

rückgewendet zum Vor-Anfang,

das Vor-Göttliche göttlichen Anscheins,

die Schönheit;

denn so allesaufnehmend war die Nacht vor ihm hingebreitet, so sehr entrückt, so sehr erfüllt von dem silbernen Echostaub, der aus ihren fernsten Grenzen hertönte, daß sie mit allem, was sie barg, ununterscheidbar wurde, ein Sang, ein Lachensgegröle, ein Tierstimmenhauch, ein Windesrauschen, man wußte es nicht. Und dieses wissensfeindliche Nichtwissen, mit dem die Schönheit sich wie zum Schutz ihrer Zartheit und Zerbrechlichkeit einhüllt, ja einhüllen muß, weil die von ihr gestiftete Welteneinheit flüchtiger, widerstandsloser, anfechtbarer ist als die der Erkenntnis, außerdem aber, im Gegensatz zu jener, je derzeit vom Wissen beschädigt werden kann, dieses Nichtwissen wurde ihm vom ganzen Rund des Erschaubaren zusammen mit der Schönheit zugestrahlt, zart und dabei fast dämonisch als Verlockung, als die überhebliche Verführung der Bedeutungsgleichheit, dämonisch von der äußersten Grenze her zu geflüstert, zur innersten hindringend, ein schimmerndes ozeanisches Flüstern, monddurchströmt ihn durchströmend, gleichgewichtig wie die schwebenden Gezeiten des Alls, deren flüsternde Gewalt das Sichtbare und das Unsichtbare ineinander vertauscht, die Dingvielfalt in die Einheit des Selbst, die Denkvielfalt in die Einheit der Welt bindet, beides aber zur Schönheit entwirklicht: Wissenlosigkeit ist das Wissen der Schönheit, Erkenntnislosigkeit ist ihr Erkennen, jenes ohne Vorsprung von Denken, dieses ohne Überschuß von Wirklichkeit, und in der Erstarrung ihres Gleichgewichtes, erstarrt das flutende Gleichgewicht zwischen Denken und Wirklichkeit, er starrt das weltzeugende Wechselspiel von Frage und Antwort, des Erfragbaren und des Beantwortbaren, bringt die Schönheit die Flutwaage des Innen und Außen zum Stillstand, wird sie erstarrten Gleichgewichtes zum Sinnbild des Sinnbildes. So war die Nacht um ihn herumgewölbt, gleichgewichtig in ebenmäßiger Schönheit, der dunkelglänzende Raum der Nacht saturnisch über alle Zeiten hinerstreckt, freilich so auch in der Zeit verbleibend und nicht über das Irdische hinausreichend, von Grenze zu Grenze gespannt und selber äußerste wie innerste Grenze an jedem Punkt, so war die Nacht um ihn und in ihm ausgespannt, und es ward ihm von ihr, von ihrem irdischen Gleichgewicht her, mit ihrer Schönheit das Sinnbild des Sinnbildes zugeflutet, alle Fremdheit der äußersten und innersten Grenzfernen mit sich bringend und dabei doch von seltsamer Vertrautheit, verhüllt im Nichtwissen und dabei doch seltsam enthüllt, da es sich ihm nun, wie unter einer zauberhaft plötzlichen zweiten Beleuchtung, als das Sinnbild seines eigenen Bildes zeigte, bei aller Überferne, so deutlich, als wäre es von ihm selber geschaffen, die Versinnbildlichung des Ichs im All, die Versinnbildlichung des Alls im Ich, das ineinanderverschränkte Doppelsinnbild des irdischen Seins: die Nacht durchglänzend, die Welt durchglänzend, erfüllte die Schönheit alle Grenzen des grenzenlosen Raumes, und mit diesem in die Zeit gesenkt, durch die Zeiten hindurchgetragen, wurde sie zu deren ewig währendem Jetzt, wurde sie zur grenzenlosen Begrenztheit der Zeit, wurde sie zum Ganzheits-Sinnbild derzeiträumlich begrenzten Irdischkeit, die Trauer der Begrenztheit offenbarend, und eben darum Schönheit im Diesseitigen;

also in trauernder Traurigkeit,

also enthüllt sich dem Menschen die Schönheit,

enthüllt sich ihm in ihrer Insichgeschlossenheit, welche die des Sinnbildes und des Gleichgewichtes ist,

verzaubernd schwebend in dem Gegenüber

von schönheitsschauendem Ich und schönheitserfüllter Welt,

ein jedes der beiden im eigenen Raum, ein jedes der beiden in sich begrenzt,

ein jedes insichgeschlossen im eigenen Gleichgewicht, und ebendeshalb beides

im Gleichgewicht zueinander, ebendeshalb in einem gemeinsamen Raum;

es enthüllt sich darin dem Menschen

die Insichgeschlossenheit der schönen Irdischkeit,

die Insichgeschlossenheit des zeitgetragenen, zeiterstarrten Raumes,

des schwebend hingebreiteten, des zauberhaft schönen,

der sich an keiner Frage mehr erneuert, an keiner Erkenntnis mehr erweitert,

die unerneuerbar-unerweiterbar stete Raumesganzheit, gehalten vom Gleichgewicht

der in ihr wirkenden Schönheit, und diese insichgeschlossene

Ganzheit des Raumes offenbart sich in jedem seiner Teile,

in jedem seiner Punkte, als sei ein jeder seine innerste Grenze,

offenbart sich in jeder einzelnen Gestalt, in jedem Ding, in je dem Menschenwerk,

in jedem als das Sinnbild seiner eigenen Raumhaftigkeit,

als deren innerste Grenze, an der jede Wesenheit sich selbst aufhebt,

das raumaufhebende Sinnbild, die raumaufhebende Schönheit, raumaufhebend

kraft der Einheit, die sie zwischen innerer und äußerer Grenze herstellt,

kraft der Insichgeschlossenheit des unendlich Begrenzten,

die begrenzte Unendlichkeit, die Trauer des Menschen;

also enthüllt sich ihm die Schönheit als ein Geschehen der Grenze,

und die Grenze, die äußere wie die innere,

sei sie die des fernsten Horizontes, sei sie die eines einzigen Punktes,

ist zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen gespannt

im Entrücktesten, trotzdem immer noch im Irdischen, immer

noch in der irdischen Zeit, ja sie begrenzt die Zeit und bewirkt deren Verweilen,

ihr in sich ruhendes Verweilen an der Raumesgrenze,

doch sie hebt die Zeit nicht auf,

ist bloßes Sinnbild, irdisches Sinnbild der Zeitaufhebung,

bloßes Sinnbild der Todesaufhebung, nimmermehr diese selber,

Grenze des Menschlichen, das noch nicht über sich hinausgelangt ist

und sohin auch Grenze des Unmenschlichen;

es enthüllt sich dem Menschen das Geschehen der Schönheit

als das, was es ist, als das, was die Schönheit ist,

als das Unendliche im Endlichen,

als die irdische Scheinunendlichkeit

und darum Spiel,

als das Unendlichkeitsspiel des irdischen Menschen in seiner Irdischkeit,

als das Sinnbildspiel an der äußersten irdischen Grenze,

Schönheit, das Spiel an sich,

das Spiel, das der Mensch mit seinem eigenen Sinnbild spielt, um damit

sinnbildhaft – anders glückt's nicht – der Einsamkeitsangst zu entgehen,

die schöne Selbsttäuschung aufs neu und aufs neu wiederholt,

die Flucht in die Schönheit, das Fluchtspiel;

da enthüllt sich dem Menschen die Starrheit der verschönten Welt,

ihre Unfähigkeit zu jeglichem Wachstum, die Begrenzung ihrer Vollkommenheit,

die bloß in der Wiederholung unvergänglich wird und

um solcher Schein-Vollkommenheit willen stets aufs neue gesucht werden muß,

es enthüllt sich ihm das Spiel der schönheitsdienenden Kunst,

ihre Verzweiflung, ihr verzweifelter Versuch,

aus vergänglichem Sein das Unvergängliche zu schaffen,

aus Worten, aus Tönen, aus Steinen, aus Farben,

auf daß der gestaltete Raum

die Zeiten überdauere

als schönheitstragendes Mal für kommende Geschlechter, die Kunst

raumbauend in jedem Bilde, das Unsterbliche im Raum, nicht im Menschen

und darum wachstumslos,

gebunden an nur wiederholbare, wachstumslose Vollkommenheit,

die niemals sich selbst erreicht, wachsend verzweifelt, je vollkommener sie wird,

verkerkert der ewigen Wiederkehr zu ihrem Ausgang in sich selber

und darum hart,

hart gegen menschliches Leid, weil es ihr nicht mehr bedeutet

als vergängliches Sein, nicht mehr als Wort, Gestein, Getön oder Farbe,

benützt zur Schönheitssuche und Schönheitsentdeckung

in steter Wiederholung;

und es enthüllt sich dem Menschen die Schönheit als Grausamkeit,

als die wachsende Grausamkeit des ungezügelten Spieles, das

im Sinnbild Unendlichkeitsgenuß verspricht, erkenntnisverachtenden, genießerischen Genuß

irdischer Schein-Unendlichkeit

und darob unbedenklich Leid und Tod zuzufügen vermag,

da es im grenzentrückten Gebiet der Schönheit geschieht,

nur dem Blick noch erreichbar, nur der Zeit noch erreichbar,

aber nicht mehr der Menschlichkeit und der menschlichen Pflicht;

so enthüllt sich dem Menschen die Schönheit als Gesetz ohne Erkenntnis,

die Verworfenheit einer Schönheit, die sich selbst zum Gesetz gesetzt hat

um ihrer selbst willen insichbeschlossen, unerneuerbar, unerweiterbar, unentwickelbar,

der Genuß als Spielgesetz der Schönheit

genießerisch, wollüstig, unkeusch, unveränderbar

das schönheitsdurchtränkte, schönheitsdurchtränkende Spiel, das selber schönheitsverspielt

an der Wirklichkeitsgrenze abläuft und

die Zeit vertreibend, doch nicht sie aufhebend,

den Zufall ausspielend, doch ihn nicht beherrschend,

endlos wiederholbar, endlos fortsetzbar, dennoch

von vorneherein zum Abbruch bestimmt,

weil nur das Menschliche göttlich ist;

und so enthüllt sich dem Menschen der Schönheitsrausch

als das von vorneherein verlorene Spiel, verloren

trotz der Unvergänglichkeit des Gleichgewichtes, in dem es statthat,

trotz der Notwendigkeiten der es immer wiederholt werden muß,

verloren, weil die Unvermeidlichkeit der Wiederholung zu gleich auch

die Unvermeidlichkeit des Verlustes ist,

unvermeidlich einander verhaftet

der Rausch der Wiederholung und der des Spieles,

beide der Dauer untertan,

beide dämmerhaft,

wachstumslos sie beide, freilich in wachsender Grausamkeit,

indes das wahre Wachstum,

das Wissenswachstum des erkennenden Menschen

unbegrenzt von Dauer und frei von Wiederholung sich in der Zeit entfaltet,

entfaltend die Zeit zur Zeitlosigkeit, so daß

sie, die jede Dauer verzehrt, mit wachsender Wirklichkeit

Grenze um Grenze, innerste wie äußerste, aufreißt und überschreitet,

Sinnbild um Sinnbild hinter sich zurücklassend, und mag auch

der Schönheit letzte Sinnbildhaftigkeit nicht dadurch zerstört werden,

unangetastet die Notwendigkeit ihres letzten Ebenmaßes,

es wird, nicht minder notwendig, das Irdische ihres Spieles entlarvt,

entlarvt die Unzulänglichkeit des irdischen Sinnbildes,

es wird der Schönheit Trauer und Verzweiflung aufgedeckt,

aufgedeckt der ernüchterte Schönheitsrausch,

erkenntnisverlustig und verloren in Erkenntnislosigkeit

das ernüchterte Ich,

seine Armut –,

und er, dem dieses Ich als Sinnbild, dem diese Schönheit, dem dieses Spiel, dem dieser Ablauf ein verstrahlt wurde, zugestrahlt in unentrinnbarer Notwendigkeit von den innersten und äußersten Grenzen der Welt, von den innersten und äußersten Raumesgrenzen der Nacht, so daß er dieses ganze Geschehen in sich trug, in sich barg und zugleich davon eingeschlossen wurde, hineingehalten in den Raum der Notwendigkeit, in den Grenzraum seines Ichs, hineingehalten in den Grenzraum der Welt, in das Sinnbild ihrer Raumlosigkeit, hineingehalten in den Raum des Spieles, den Raum der überfernen Nähe, den Schönheitsraum, den Sinnbildsraum, der in jedem seiner Punkte fraglich ist und doch alle Fragen verwehrt und erstarrt, hineingehalten in alle Räume der Erstarrung, erstarrt er selber, er stickt von der Erstarrung, er fühlte, er erfaßte, daß keiner dieser Räume über die durchsichtige Decke hinausreicht, welche zwischen dem Oben und Unten gespannt ist, daß sie alle noch im Zwischenreich des Noch-nicht-Unendlichen liegen, daß ihre Grenze wohl schon die zum Unendlichen ist, selbst aber noch zum Irdischen gehört: das Noch-Irdische, der Bereich der Schönheit, das irdisch, das noch-irdisch Unendliche! in dieses war er hineingehalten, von diesem war er eingeschlossen; er war eingeschlossen vom Raum des irdischen Atmens, doch aus geschlossen aus dem Raum der Sphären, aus dem Raum des wahrhaften Atmens. Und fühlend die Eingeschlossenheit, fühlend in ihr den Grund aller Erstarrung, den Grund aller Atem-Erstarrung, fühlte er ringsum die Zersprengungsgewalt, die sich gegen das Einschließende richtete, fühlte er die Notwendigkeit, die Unausweichlichkeit der Zersprengung, fühlte sie bis in die Tiefe seines Selbst, bis in die Tiefe seiner Seele, bis in die Tiefe seines Atmens und Nicht-Atmens; er spürte diese Zersprengung und er wußte um sie, spürend und wissend, wie sie sich in ihm und in der Welt vorbereitete, wie sie in ihm saß und zugleich ihn umschloß, er spürte sie geradezu körperlich, als ein körperlich lauerndes Etwas, das ihm wie der ganzen sichtbar-unsichtbaren Welt würgend den Atem raubte, trotzdem aber als dämonische Verlockung in ihm und um ihn webte, zu ihm heranwallend und in ihm hochwallend und über ihm zu sammenschlagend, körperlich-entkörperlicht, die Verlockung zur Vernichtung und Allvernichtung, zur Zerschmetterung und Allzerschmetterung, zur Selbstpreisgabe, Selbstverhöhnung, Selbstvernichtung, erstickend, würgend, durchschüttelnd, den noch befreiungsversprechend, so fühlte er die lauernde Sprungbereitschaft und Sprengungsbereitschaft, die Nähe einer unerforschlich vorzeithaften Unerinnerung, so spürte er es, so wußte er es, so wünschte er es sich herbei, in einer schier urzeitlichen Auflehnung gegen das Starre, gegen das Gewordene, gegen das Gehäuse des begrenzten Raumes, gegen das Unstimmige, gegen das Noch-Bestehende, aber daneben auch gegen die Trauer, die allem Spiel und aller Schönheit hintergründig innewohnt, oh, es war die Verlockung einer ungeheuren Ur-Lust, es war eine ungeheure Kitzel-Lust, der Kitzel zur Allzersprengung, zur Weltzersprengung und zur Ich-Zersprengung, durchschüttelt von der Lust eines noch größeren, noch vorzeitigeren Wissens, oh, es war Erfühlen, es war Erspüren, es war Erwissen und darüber hinaus sogar ein Erkennen, es wurde ihm zum Erkennen, ja zum Selbsterkennen, da ihm aus dem Raum seines tiefsten Vor-Wissens, in den er hineingehalten war, ein letztes Begreifen zugeflutet wurde und er blitzhaft erkannte, daß die Zersprengung der Schönheit einfach das nackte Lachen ist und das Lachen die vorbestimmte Aufsprengung der Weltenschönheit, daß das Lachen von Anbeginn an der Schönheit beigegeben ist und ihr für immerdar innewohnt, daß es als Lächeln in ihr schillert an den Unwirklichkeitsgrenzen der Überferne, dann aber brüllend aus ihr hervorbricht an der Wendegrenze ihrer Dauer, hervorbricht als die dröhnende, donnernde Zeitenzertrümmerung, als die dämonische Kraft zur Alleszertrümmerung, das Lachen, Widerpart der Weltenschönheit, das Lachen, verzweifelter Ersatz für die verlorene Erkenntniszuversicht, das Lachen als Ende für die abgebrochene Flucht in die Schönheit, das Ende des abgebrochenen Schönheitsspieles; oh, Trauer ob der Trauer, Spiel mit dem Spiele, Genuß an der Austreibung des Genusses, verdoppelte Trauer, verdoppeltes Spiel, verdoppelter Genuß, es ist das Lachen immer wieder die Flucht aus der Zufluchtsstätte, spielüberhoben, weltenüberhoben, erkenntnisüberhoben, die Zersprengung der Weltentrauer, der in den Mannskehlen sitzende Unendlichkeitskitzel, die Zersprengung des schönheitserstarrten Raumes zu einem Aufklaffen, in dessen namenloser Sprachlosigkeit sogar das Nichts verlorengeht, wild vor Stummheit, wild vor Lachen, göttlich auch dies noch:

denn

Vorrecht der Götter und der Menschen ist das Lachen,

urferne stammt es von dem Gott, der sich selbst erkannt hat,

stumm-ahnend stammt es aus seinem Vorwissen,

aus seinem Vorwissen um die eigene Vernichtbarkeit,

aus seinem Vorwissen um die Vernichtbarkeit des Geschaffenen, in dem

er als mitgeschaffener und mitschaffender Teil sein Dasein lebt,

wachsend kraft Welterkenntnis zur Selbsterkenntnis und über diese hinaus

rückgewendet zum Vorwissen,

aus der das Lachen stammt;

oh, Göttergeburt und Menschengeburt, oh, Göttertod und Menschentod,

oh, ihrer beider Anfang und Ende für ewig miteinander verstrickt,

oh, es stammt das Lachen aus dem Wissen um die Ungöttlichkeit der Götter,

aus diesem dem Gott und dem Menschen gemeinsamen Wissen,

es stammt aus jener unruhigen, beunruhigend durchsichtigen

Zone der Gemeinsamkeit,

die dämonisch zwischen dem Jenseitigen und dem Diesseitigen gespannt ist,

damit in ihr, in solch dämmerhafter Dämonenzone

Gott und Mensch einander begegnen können, begegnen mögen,

und ist es Zeus, der das Lachen im Kreise der Göttermänner anstimmt,

so ist es der Mensch, der das Lachen der Götter erweckt,

gleichwie

in unaufhörlichem Kreislauf spaßig-ernsten Wiedererkennens

das Lachen des Menschen vom Gebaren des Tieres erweckt wird,

gleichwie

der Gott sich im Menschen, der Mensch sich im Tiere wiederfindet,

so daß das Tier vom Menschen zum Gott erhoben wird,

der Gott aber durch das Tier in den Menschen zurücckehrt,

Gott und Mensch trauernd vereint, trotzdem vom Lachen übermannt, weil es

das Spiel der urplötzlichen Vermischung aller Sphären ist, von dessen

Schicksalsregel

sie erfaßt worden sind,

das Spiel der urplötzlich enthüllten Ur-Nachbarschaft,

das große Spiel des Sphären-Durcheinanders,

ein Götterspiel, das schönheitsvernichtend und ordnungsaufhebend

Schöpfungs-Gottheit und Geschöpflichkeit unheimlich miteinander verquickt

und beides lustig dem Zufall preisgibt,

Greuel und Zorn der wissenden Muttergöttin,

Spaß und Wagnis des erkenntnisbefreiten, erkenntnisverachtenden Gottes,

lachensüberströmt, weil solcher Spaß jähester Sphärenvereinigung, ohne daß hiezu

auch nur die leiseste Spur von Erkenntnis oder von Frage

oder sonst irgendeiner Leistung vonnöten gewesen wäre, sich

als Selbstpreisgabe vollzieht, als fröhlich leichtsinnige

Preisgabe

an den Zufall, an die Zeit,

an das unvermutet Vorgewußte, vorgewußt Unvermutete,

ans lustvoll Unvermittelte des Vorwissens und,

sei's drum,

auch an den Tod; Spaß aus dem Unerforschlichen, Spaß, der so groß ist, daß mit

der spaßigen Zerschlagung der letzten Gesetzlichkeitsreste,

mit dem spaßigen Zusammenbruch der Ordnungen, der Grenzen und der Brücken,

mit dem Zusammenbruch der Raumerstarrungen und deren Schönheit,

daß mit dem Zusammenbruch des Schönheitsraumes

urgültig und endgültig die Umkehrung erfolgt,

die Umkehrung

ins grenzenlos Erkenntnislose, namenlos Sprachlose, brückenlos Raumlose,

ineinanderstürzend die Trennungen,

ineinanderstürzend das Vorwissen des Gottes mit dem des Menschen,

zusammenstürzend ihre gemeinsame Schöpfung, und dagegen

aufbrechend die zur unmittelbaren Nähe umgestülpte Äonenferne,

aufbrechend die Äonenferne der Vorschöpfung,

aufbrechend das Vorschöpfungsbild in einer Unerinnerung, die nicht

einmal dem Vorwissen des Gottes zugänglich ist,

aufbrechend zu einer Ununterscheidbarkeit, in der

Wirkliches und Unwirkliches,

Lebendes und Lebloses,

Sinnvolles und Gräßliches

zu nämlicher Ungedachtheit vergattet sind,

aufbrechend das unerahnbare Nirgendwo, in dem

die Sterne auf dem Grund der Gewässer fluten

und nichts so weit auseinanderliegen könnte,

daß es sich nicht als ineinanderverschachtelt zeigte,

witzig vor Auseinandergestülptheit und Ineinandergestülptheit,

zufällig ineinandergeraten und zufällig auseinander her vorgesprossen,

witzig

die ununterscheidbaren Zufallswesenheiten des Zeitenablaufs,

Götterherden, Menschenherden, Tierherden, Pflanzenherden, Sternherden

ineinander verhaust;

aufgebrochen das Nirgendwo des Gelächters,

lachend aufgebrochen die Weltenumstülpung schlechthin,

als hätte es niemals jenen Eid der Schöpfung gegeben,

den Eid, mit dem Gott und Mensch sich gegenseitig verpflichtet haben,

verpflichtet zur Erkenntnis und wirklichkeitsschafFenden Ordnung,

verpflichtet zur Hilfe, welche die Pflicht zur Pflicht ist;

oh, es ist das Lachen des Verrates,

das Lachen der unbeschwert mühelosen Treulosigkeit,

es ist das Ungute und Unverpflichtete der Vorschöpfung,

dies ist es,

das ungute Erbe, der gelächter-verhaltene Zersprengungskeim,

der aller Weltenschöpfung von Anbeginn eingeboren ist,

unausrottbar,

aufscheinend bereits in der lächelnd heitern Hinter gründigkeit, mit der

sie sich vorschöpferisch-lieblich als Anmut kundtut,

aufscheinend in dem vorschöpferisch-erbarmungslosen Wissen, mit dem

selbst das Gräßliche schönheitsverspielt

zur mitleidsbaren, mitleidserstarrenden Ferne verklärt wird,

und darüber hinaus, über jedwede Ferne hinaus, äußerste und innerste vereint,

aufscheinend in des raumlosen Un-Raumes witzig furchtbarer Oberfläche, zu der

die Schönheit, ist die Zeitengrenze erreicht, sich umstülpt, aufstülpend

ihren innersten, hintergründigsten Hintergrund,

die ihr eingeborene und immer wieder aus ihr herausgeborene ungestaltbar ungestaltete Unerschaffenheit,

aus ihr herausgeboren, aus ihr herausgestülpt, aus ihr herausgestürzt

das Lachen,

die Sprache der Vorschöpfung –,

denn nichts hatte sich verändert, oh, nichts: doch gestaltenstarr und stumm, tiefeingesenkt in die Wölbung des Himmels, lauerte der lachenumwitterte Meineid, doch in dem unantastbaren Sternengesang, die Erde mit Schweigen schwängernd, vom irdischen Schweigen geschwängert, im groß-schimmernden Weiter bestand der Welt, im Sichtbaren wie im Unsichtbaren und in der zum Liede verklingenden Schönheit, lauerte bebendge spannt und ausbruchsbereit, kitzel-gewaltsam und atemerstickend, lauerte gewitterig das schönheitsverschwisterte Lachen, die zersprengungssüchtig lauernde Verlockung des Innen und Außen, sie umfing ihn und saß in ihm, entsetzenausdrückend, entsetzenvermittelnd, die Sprache der Vorschöpfung, die Sprache einer Unüberbrückbarkeit, für die es niemals etwas zu überbrücken gegeben hatte, namenlos der Raum, in dem sie wirkte, namenlos die Sterne, die darüber standen, namenlos, beziehungslos, ausdruckslos die Einsamkeit im Sprachraum der Sphärenvermischung, dem unausweichlichen Auflösungsraum jeglicher Schönheit, und im Anblick der Schönheit, doch bereits hineingehalten in den neuen Raum, entsetzensfiebernd der Raum, entsetzensfiebernd er selber, wurde ihm inne, daß sich kein Zugang zur Wirklichkeit mehr bot, kein Zurück mehr und keine Erneuerung, nur noch wirklichkeitsvernichtendes Gelächter, ja, daß der vom Gelächter bloßgestellte Bestand der Welt überhaupt kaum mehr eine gültige Wirklichkeit besaß, aufgehoben die Antwort, aufgehoben die Pflicht zur Erkenntnis und aufgehoben die große Hoffnung auf die Nicht-Vergeblichkeit der Erkenntnispflicht, nicht etwa wegen ihrer Vergeblichkeit, wohl aber wegen ihrer Überflüssigkeit im Raum der erstarrenden Schönheit, im Raume ihres Zusammenbruchs, im Raum des Gelächters böser und bösartiger als der Herdenschlaf ist das Gelächter, keiner lacht im Traume, es sei denn unter Schmerzen, es sei denn unter der Bösheit wachsender Todesgrausamkeit, wie sie ihm höchst spaßig von der Schönheit vorgegaukelt wird, oh, nichts ist der Bösheit so nahe, nichts ist ihr näher als der ins Scheinmenschentum abwärtsstürzende Gott oder der in eine Scheingöttlichkeit aufwärtsstürzende Mensch, sie beide zur Bösheit, zum Unheil, zum vorschöpfe risch Tierhaften hingelockt, sie beide mit der Vernichtung, mit einer dämonischen Selbstvernichtung spielend, von der sie nur durch eine Zufallsspanne getrennt sind, da die pausenlos dahin rollende Zeit in jedem Augenblick alles erwarten läßt: sie beide lachend ob der zufallsanheimgegebenen Ungewißheit, lachend ob des hurtigen Umsprungs in ungewisser Zeitspanne, sie beide einem Gelächter verfallen, das sich der Mühelosigkeit gebrochener Pflicht und gebrochenen Eides freut, zufallsgekitzelt, zu fallserregt, lachend ob der Aufhebung des Göttlichen wie des Menschlichen in der Überflüssigkeit jedweder Erkenntnis, lachend ob des Unheilsträchtigen, das aus der schönen Bösheit entsprungen ist, lachend ob der Wirklichkeit alles Unwirklichen, jubelnd, weil der Schöpfungseid gebrochen ist, toll geworden im Jauchzen über die gelungene Tat, die betrügerische Untat und Nicht-Tat, die Frucht gebrochenen Schwures. Da verstand er: jene drei, die drei Torkelnden da drunten, sie waren die Zeugen des Meineides gewesen.

Und sie hatten Zeugenschaft wider ihn abgelegt. Dies war ihre Notwendigkeit; dafür waren sie gekommen. Und dafür hatte er sie erwarten müssen. Als Zeugen und Ankläger waren sie erschienen, ihn bezichtigend, daß er mitschuldig war an ihrer Schuld, daß er als Komplice zu ihnen gehörte, eidbrüchig gleich ihnen und ebenso schuldig wie sie, weil er, gleich ihnen, nichts von dem Schwur wußte, der da gebrochen worden war und weiter gebrochen wurde, eidvergessen und pflichtvergessen von vorneherein, ja, die Schuld hiedurch sogar vergrößernd, ungeachtet der Notwendigkeit, mit der sein Leben, nicht anders wie das ihre, schicksalsbefohlen zu solchem Punkt zugesteuert hatte, zum Punkt der Wiederpreisgegebenheit: wieder preisgegeben war die Schöpfung, wiederpreisgegeben Gott und Mensch, wiederpreisgegeben an die vorschöpferische Ungeborenheit, die das Leben wie das Sterben gleicherweise zu Sinnlosigkeit verdammt, denn allein vom Eide herstammt die Pflicht, denn allein vom Eide her stammt der Sinn, der pflichtverhaftete Sinn alles Seins, und nichts mehr ist sinnvoll, wo pflichtvergessen der Eid gebrochen ist, der zum verborgenen Ur-Anfang gesetzte Schwur, den die Götter wie die Menschen zu halten haben, obwohl keiner ihn kennt, keiner außer dem unbekannten Gott, da von ihm, dem verborgensten der Himmlischen, alle Sprache aus geht, um zu ihm zurückzukehren, zu ihm, dem Hüter des Eides und des Gebetes, dem Hüter der Pflicht. Ihn, den unbekannten Gott zu erwarten, war sein Blick erdwärts gezwungen worden, ihm entgegenspähend, dessen er lösendes Wort, pflichtgeboren und pflichtgebärend aufs neu die Sprache zu der einer eidtragenden Gemeinschaft hätte beleben sollen, hoffend, daß sie solcherart aus der Über- und Untersprachlichkeit, in die der Mensch – auch dies noch sein Vorrecht – sie gestürzt hat, nochmals zurückgebracht werden könnte, errettet aus der Wolkigkeit der Schönheit, aus der Zerfetztheit des Lachens, errettet aus diesem Dickicht der Undurchsichtigkeit, in die sie vertan worden war, wiederhergestellt als Werkzeug des Eides. Es war vergebliche Hoffnung gewesen, und zurückgesunken ins Vorschöpferische, zurückgesunken ins Sinn-Entleerte, zurückgesunken ins Ungeborene, umrandet von dem Schattengebirge ihrer Vorgestorbenheit, das von keinem irdischen Sterben zu überflügeln ist, lag die Welt vor ihm hingebreitet, schönheitsdurchwirkt und lachenszersprengt, sprachverlustig und gemeinschaftslos, Folge des Eidbruches, dessen sie schuldig geworden war; statt dem unbekannten Gott, statt dem pflichtzugekehrten Eidträger waren die drei dahergekommen, die Träger der Unpflicht.

Die Pflicht, die irdische Pflicht, die Pflicht zur Hilfe, die Erweckungspflicht; es gibt keine andere Pflicht, und selbst die Gottesverpflichtung des Menschen, die Menschheitsverpflichtung des Gottes ist Hilfe. Und er, der vom Schicksal notwendig und unvermeidlich den Trägern der Unpflicht zugesellt worden war, er war ebenso pflichtunwillig wie sie, ebenso hilfsunwillig wie sie, und wahrscheinlich war seine angebliche Bedürfnislosigkeit nichts anderes als Auflehnung gegen die Hilfe, die ihm von allen Seiten zufloß, und die er ohne Dank empfing, auch hierin dem Pöbel gleichend, der zwar nach vielerlei Gaben verlangt, aber infolge der eigenen Hilfsunfähigkeit jegliche wirkliche Hilfe zurückweist: wer von vorneherein dem Eidbruch verfallen ist, wer in Steinhöhlen aufgewachsen ist und lebt, wer solcherart von vorneherein die Angst des Eidbrüchigen im Nacken sitzen hat, der ist von Jugend an viel zu wisserisch, viel zu gefinkelt, viel zu genießerisch, viel zu witzig, um irgend etwas gelten zu lassen, das der dämmernden Gier nicht unmittelbaren Genuß verspricht, das nicht auf zotige Paarung in alleserlaubender Gesetzlosigkeit hinzielte oder, wenn schon nicht dies, so doch wenigstens einen in Sesterzen ausdrückbaren Vorteil brächte; gleichgültig ob die da unten nach Mehl und Knoblauch und Wein verlangt hatten, oder ob andere nach Zirkusspielen begehrten, um in blutiger Possenreißerei ihre Angst zu übertäuben und in Selbstbetrug und Götterbetrug mit solch mörderisch fratzenhaftem Spiel, das an der Kippgrenze zwischen der Schönheit und dem Lachen als deren beider grausam gräßliche Einheit vonstatten geht, den himmlischen Mächten ein betrügerisches Sühnopfer für den Meineid darzubringen, gleichgültig ob Genuß oder Götterversöhnung, es wird nicht Erweckung, es wird nicht Hilfe, nicht echte Hilfe, sondern Vorteil, echter Vorteil damit gefordert, und wenn der Cäsar die Gesetzlosen wieder zu Gesetzlichkeit zu zügeln wünschte, so waren Zirkusspiele, Wein und Mehl einfach der Preis, den er für ihren Gehorsam zu zahlen hatte. Und doch, seltsam unberechenbar, sie liebten ihn noch außerdem, obschon sie niemand liebten, ob schon sie keinerlei Gemeinschaft hielten, es sei denn die Nicht-Gemeinschaft des Pöbels, in der mangels jeder gemeinsamen Erkenntnis keiner den ändern liebt, keiner dem andern hilft, keiner den andern versteht, keiner dem andern vertraut, keiner des andern Stimme vernimmt, die Nicht-Gemeinschaft der Sprachstummheit, die sprachberaubte Nicht-Gemeinschaft der Vereinzelten: nicht nur daß für ihre gefinkelte Angst und ihr besserwisserisches Mißtrauen die Erkenntnis zu einer schieren Überflüssigkeit geworden ist, zu einem bloßen Wortschwindel, der weder Genuß noch Vorteil verschafft und überdies, drechselt man noch schlauere Worte, jederzeit übertölpelt werden kann, und nicht nur daß hiedurch Liebe, Hilfe, Verständigung, Vertrauen, Sprache, eines das andere bedingend, zu einem leeren Nichts aufgelöst werden, und nicht nur daß infolgedessen die reine Abzählbarkeit allein noch als ein zuverlässiger Halt übrigzubleiben scheint, es ist ihnen auch dies noch nicht zu verlässig genug, und so leidenschaftlich sie sich dem Sesterzen zählen und der Sesterzenrechnerei ergeben haben, sie vermögen damit ihre Angst kaum mehr zu beruhigen, sie durchschauen auch dies noch als Windigkeit, und darob nahezu verzweifelt, fühlen sie sich in eine letzte, wenngleich noch immer witzig-wisserische, witzig-genießerische Selbstverspottung getrieben, lachensgeschüttelt, weil vor der innersten Angst nichts standhält und sogar das Ausrechenbare nicht eher als glaubwürdig und zuverlässig sich erweisen will, bevor man nicht unter Anwendung der passenden Zauberformel die Münze bespuckt hat; leichtgläubig dem Wunder gegenüber – im Grunde ihre menschlichste und immerhin freundlichste Eigenschaft – waren sie schwergläubig für die Wahrheit, und gerade das machte sie, die so überaus berechnend zu sein glaubten, völlig unberechen bar, machte ihre Angstversperrtheit schlechthin undurchschaubar und am Ende völlig unzugänglich. Hätte er sich ihnen, seinen Jugendplänen gemäß, als Arzt genähert, sie hätten seine Hilfe, und wäre sie noch so kostenlos gewesen, verspottet und verschmäht, um ihr die irgendeiner Kräuterhexe vorzuziehen; so verhielten sie sich, so verhielt es sich, und daß dem so war, hatte mit zu den Gründen seines schließlichen Berufswechsels gehört, doch so stichhaltig diese Gründe ihm damals gedünkt hatten, es zeigte sich heute, daß sie bereits seinen eigenen Abstieg zur Pöbelhaftigkeit eingeleitet hatten, daß er die ärztliche Wissenschaft nie hätte verlassen dürfen, daß selbst die von ihr gebotene Nicht-Hilfe ehrenhafter gewesen wäre als die verlogenen Hilfeleistungs-Hoffnungen, mit denen er seitdem sein Dichtertum ausgestattet hatte, wider besseres Wissen hoffend, es werde die Macht der Schönheit, es werde des Liedes Zauber kraft den Abgrund der Sprachstummheit zu guter Letzt überbrücken und ihn, den Dichter, zum Erkenntnisbringer in der wiederhergestellten Menschengemeinschaft erhöhen, enthoben der Pöbelhaftigkeit und ebenhiedurch auch die Pöbelhaftigkeit selber aufhebend, Orpheus erkoren zum Führer der Menschen. Ach, nicht einmal Orpheus hatte solches je erreicht, nicht einmal er in seiner Unsterblichkeitsgröße rechtfertigte solch überheblich eitle Ehrgeizträume und solch sträfliche Überschätzung des Dichtertums! Gewiß, vielerlei in der irdischen Schönheit, ein Lied, die dämmernde See, ein Leierton, eine Knabenstimme, ein Vers, ein Bildwerk, eine Säule, ein Garten, eine einzige Blume, dies alles besitzt die göttliche Gabe den Menschen zu den innersten und äußersten Grenzen seines Daseins hinlauschen zu lassen, und kaum verwunderlich ist es daher, daß der orphischen Kunst und Erhabenheit die Macht zugemessen wurde, die Ströme zur Änderung ihres Laufes zu nötigen, das wilde Getier des Waldes sanftgebannt heranzulocken, das weidende Vieh auf den Triften zu leisem Innehalten zu bewegen, traumhaft und ver zaubert erfüllt der Traumeswunsch alles Künstlertums: die zum Lauschen unterworfene Welt, empfangsbereit für den Gesang und die ihm entströmende Hilfe. Indes, selbst wenn dem so war, nicht länger als der Gesang währet die Hilfe, währet das lauschende Innehalten, und es darf das Lied beileibe nicht zu lange erklingen, sollen die Ströme nicht schon vorher zu ihrem alten Bett sich heimstehlen, soll nicht schon vorher das wilde Getier des Waldes würgend wieder das unschuldige Weidevieh anfallen, soll nicht schon vorher der Mensch in seine altgewohnte Grausamkeit zurückstürzen, denn nicht nur, daß kein Rausch, also auch nicht der von der Schönheit erzeugte, lange vorhält, es ist überdies auch die Milde, der Mensch und Tier sich da gefangen gegeben haben, bloß die eine Hälfte des Schönheitsrausches, während die andere, nicht minder starke und zu meist sogar weitaus stärkere die der ärgsten Grausamkeitsübersteigerung ist – gerade der Grausamste liebt es, sich an einer Blume zu entzücken –, so daß die Schönheit und gar die von der Kunst getragene Schönheit sehr bald ihre Wirkung verliert, wenn sie, des waaghaltenden Wechselspieles ihrer beiden Hälften nicht achtend, sich bloß mit einer von ihnen an den Menschen wenden will. Wo immer, wie immer Kunst geübt wird, sie folgt dieser Regel, ja ihre Befolgung ist eine der wesentlichsten Tugenden des Künstlers und sehr oft, wenngleich nicht immer, auch die seines Helden: wäre der tugendhafte Äneas so weichherzig geblieben, wie man es einen Augenblick lang hätte erwarten können, als er, ob in aufkeimendem Mitleid oder um des Gedichtes schöner Spannung willen, zögernd zurückschreckte, den Todfeind zu erschlagen, hätte er sich da nicht alsobald eines Bessern besonnen und zur grausen Tat entschlossen, er wäre keineswegs zu einem Beispiel nachstrebenswerter Milde, vielmehr zu dem eines langweiligen Unhelden geworden, den darzustellen kein Gedicht hätte wagen dürfen; sei es Äneas, sei es sonst irgendein Held und seine Taten, es geht allüberall in der Kunst um das waaghaltende Gleichgewicht, um das große Grenzgleichgewicht entrücktester Ferne, es geht um ihr unsäglich schwebendes, unsäglich flüchtiges Sinnbild, und dieses nimmt überhaupt keine einzelnen Inhalte, sondern immer nur deren Zusammenhänge in sich auf, weil nur von hier aus die Absicht zu erreichen ist, weil nur in ihren Zusammenhängen die Gegensätzlichkeiten des Seins sich zum Gleichgewicht fügen, vereinigt die Gegensätze aller menschlichen Triebe – wie anders könnte Kunst sonst vom Menschen geschaffen und begriffen werden! – Milde und Grausamkeit vereinigt im Gleichgewicht der Schönheitssprache, im Sinnbild des Gleichgewichtes zwischen dem Ich und dem All, in der rauschhaften Verzauberung einer Einheit, die so lange währt wie der Gesang, doch nicht länger. Und nicht anders mußte es um Orpheus und um sein Gedicht bestellt gewesen sein, da er ein Künstler, da er ein Dichter gewesen war, ein Bezauberer der Lauschenden, Sänger wie Hörer gleicherweise dämmerungsumfangen, er wie sie dämonisch der Schönheit verhaftet, dämonisch trotz seiner göttlichen Gabe, ein Rauschbringer, doch nicht ein Heilsbringer der Menschen – und das durfte er niemals werden: der heilsbringende Führer nämlich hat die Sprache der Schönheit abgestreift, er ist unter ihre kalte Oberfläche, unter die Oberfläche der Dichtung gelangt, er ist zu den schlichten Worten vorgedrungen, die kraft ihrer Todesnähe und Todeserkenntnis die Fähigkeit gewonnen haben, an die Versperrtheit des Nebenmenschen zu pochen, seine Angst und seine Grausamkeit zu beruhigen und ihn der echten Hilfe zugänglich zu machen, er ist vorgedrungen zu der schlichten Sprache unmittelbarer Güte, zur Sprache der unmittelbaren menschlichen Tugend, zur Sprache der Erweckung. War es nicht auch eben diese Sprache, die Orpheus gesucht hatte, als er, Eurydike zu suchen, sich aufgemacht hatte zum Abstieg ins Schattenreich? war nicht er gleichfalls ein Verzweifelter gewesen, einer, der des Künstlers Ohnmacht zur Bewältigung menschlicher Pflicht erkannt hat? Oh, wen das Schicksal in den Kerker der Kunst geworfen hat, der vermag diesem kaum mehr zu entweichen; er bleibt von der unüberschreitbaren Grenze eingeschlossen, an der das entrückt schöne Geschehen abläuft, und ist er unzureichend, so wird er in solcher Abgeschlossenheit zum eitlen Träumer, zum Ehrgeizling der Unkunst, ist er jedoch ein echter Künstler, so wird er zum Verzweifelten, da er den Ruf jenseits der Grenze hört und ihn bloß im Gedicht festhalten, nicht aber ihn befolgen darf, verbotsgelähmt an die Stelle gebannt, ein Schreibender diesseits der Grenze, obwohl er den sibyllischen Auftrag entgegengenommen und fromm gleich Äneas, eidleistend, der Priesterin hohen Altar berührt hat leicht ist der Pfad, der zum Hades hinabführt, und immer findest du offen die plutonischen Tore, doch schwer ist die Rücckehr, denn sie ist bedroht von dunklen Forsten, bedroht vom kokytischen Strom, von seinen Buchten und Wirbeln, und sie glücket nur jenen, die tugendgekrönt oder von Göttergeblüt dem Jupiter selber genehm sind; du aber, lüstet dein Mut, dein Übermut nach solch zweifacher Fahrt über den Styx in des Tartaros Grauen, höre was nottut: geheiligt der unterweltlichen Göttin, sprießt inmitten dämmernder Täler, inmitten wildemsten Waldes, inmitten dichtesten Strauchwerks goldschimmernd ein Zweig mit goldenen Blättern, und nicht eher wird dir der Abstieg gelingen, eh du nicht Proserpina zu Ehren, ihrem Willen gemäß, von des Baumes goldenem Gelaub das sich ewig erneuert, den glänzenden Schößling gebrochen; nach ihm also hast du spähend zu fahnden, und ist das Schicksal dir hold, so wirst du mit flüchtigstem Griff bloßhändig den Zweig dir erpflücken, indes, weder mit stärkster Gewalt, noch mit schneidendem Stahl reißt du ihn ab, wird's dir vom Schicksal verboten, dem allesgebietenden, das zudem noch andere Pflicht für dich bereit hält, da vorerst, fordernd das Sühnopfer von dir, des entseelten Freundes unbestatteter Leib nach dem Grabe verlangt, sein Recht und deine Verpflichtung –

–, also vom Gott wie vom Schicksal berufen, gemeinsam ihr Wille, ist jenem die Grenze geöffnet, dem die Heiligkeit letzter Pflichterfüllung und Hilfeleistung zusteht, doch wen solch schicksals-göttlicher Doppelwille zum Künstler bestimmt hat, verdammt hat zum bloßen Wissen und Ahnen, zum bloßen Aufschreiben und bloßen Sagen, dem ist im Leben und Sterben die Entsühnung verwehrt, und selbst das Grabmal ist ihm nichts anderes als ein schönes Bauwerk, eine weltliche Behausung für den eigenen Leib, ist ihm weder Eingang noch Ausgang, weder Eingang des unermeßlichen Abstiegs noch Ausgang der unermeßlichen Wiederkunft; das Schicksal versagt ihm den goldenen Zweig der Führung, den Zweig der Erkenntnis, und Ju piters Schuldspruch trifft ihn darob. So war auch er zum Eidbruch und zugleich zur Preisgegebenheit des Eidbrüchigen ver urteilt worden, und sein Blick, erdwärts gezwungen, hatte bloß die drei über das Steinpflaster einhertorkelnden Komplicen des Eidbruches, die Bringer des Schuldspruches treffen dürfen, sein Blick durfte nicht tiefer dringen, nicht unter die Oberfläche der Steine, nicht unter die Oberfläche der Welt, nicht unter die der Sprache, nicht unter die der Kunst; verwehrt war ihm der Abstieg, verwehrt erst recht die titanische Wiederkunft aus der Tiefe, die Wiederkunft, an der das Menschliche sich bestätigt, verwehrt war der Aufstieg zur Erneuerung des Schöpfungseides, und hatte er es stets gewußt, er wußte jetzt deutlicher denn je zuvor, daß er von der Eideshilfe des Heilbringers aus geschlossen war, ein für allemal, weil Eideshilfe und Menschenhilfe einander bedingen und nur in ihrem Zusammenhalt die gemeinschaftstiftende, die menschheitstiftende Aufgabe des Titans sich erfüllt, erdgeboren, himmelszugekehrt, weil nur in der Menschheit, weil nur in der echten Gemeinschaft, spiegelnd die Ganzheit alles Menschentums, spiegelnd die Menschheit, der erkenntnisgetragene, erkenntnistragende Kreislauf göttlicher Frage und Antwort sich vollzieht, ausschließend den Hilfs unfähigen, den Pflichtunfähigen, den Eidunfähigen, ihn ausschließend, weil er sich von der titanischen Bewältigung und Verwirklichung und Vergöttlichung des Menschen-Seins, um das es da geht, selber ausgeschlossen hat; wahrlich, dies wußte er,

und er wußte auch, daß das nämliche für die Kunst zu gelten hat, daß sie desgleichen nur so weit besteht – oh, besteht sie noch, darf sie noch bestehen? – so weit sie Eid und Erkenntnis enthält, so weit sie Menschenschicksal ist und Seinsbewälti gung, so weit sie sich am Unbewältigten erneuert, so weit sie solches bewerkstelligt, indem sie die Seele zu fortgesetzter Selbstbewältigung aufruft und sie solcherweise Schichte um Schichte ihrer Wirklichkeit aufdecken, Schichte um Schichte tiefer dringen läßt, Schichte um Schichte ihres innersten Sein-Gestrüpps durchdringend, Schichte um Schichte hinabdringend zu den niemals erreichbaren, trotzdem stets erahnten, stets gewußten Dunkelheiten, aus denen das Ich stammt und zu denen es einkehrt, die Dunkelheitsregionen des Ich-Werdens und des Ich-Verlöschens, der Seele Eingang und Ausgang, doch zugleich auch Eingang und Ausgang alles dessen, was ihr Wahrheit ist, ihr angezeigt von dem wegweisenden, dem goldleuchtenden Zweig im Schattendunkel, vom goldenen Zweig der Wahrheit, der durch keine Gewaltsanstrengung gefunden und gebrochen werden kann, weil die Gnade des Fundes und die des Abstiegs ein und dieselbe ist, die Gnade eines Selbsterkennens, das eben sowohl der Seele wie der Kunst angehört, als ihre gemeinsame Wahrheit, als ihre gemeinsame Wirklichkeitserkenntnis; wahrlich, dies wußte er,

und so wußte er auch, daß in solcher Wahrheit die Pflicht allen Künstlertums liegt, die Pflicht zur selbsterkennenden Wahrheitsfindung und Wahrheitsäußerung, dem Künstler zur Aufgabe gesetzt, damit die Seele, gewahr des großen Gleichgewichts zwischen dem Ich und dem All, sich im All wiederfinde, damit sie das, was dem Ich durch die Selbsterkenntnis zuge wachsen ist, wiedererkenne als Seins-Zuwachs im All, in der Welt, ja im Menschentum überhaupt, und wenn dieser doppelte Zuwachs auch immer nur sinnbildhaft sein kann, gebunden von vorneherein an die Sinnbildhaftigkeit des Schönen, an die Sinn bildhaftigkeit der schönen Grenze, wenn es also auch immer nur sinnbildhafte Erkenntnis bleibt, sie ist gerade infolge solcher Sinnbildhaftigkeit imstande, die unüberschreitbaren innersten und äußersten Grenzen des Seins trotzdem, zu neuen Wirklichkeiten auszudehnen, keineswegs bloß zu neuen Formen, nein, zu neuen Inhalten der Wirklichkeit, weil sich eben hierin das tiefste Wirklichkeitsgeheimnis, das Geheimnis der Entsprechung auftut, die gegenseitige Entsprechung von Ich-Wirklichkeit und Welt-Wirklichkeit, jene Entsprechung, welche dem Sinnbild die Schärfe der Richtigkeit verleiht und es zum Wahrheits-Sinnbild erhebt, die wahrheitsgebärende Entsprechung, von der alle Wirklichkeitsschöpfung ausgeht, Schichte um Schichte vordringend, vortastend, vorahnend bis zu den un erreichbaren Dunkelheitsregionen des Anfangs und des Endes, vordringend zum unerforschlich Göttlichen im All, in der Welt, in der Seele des Nebenmenschen, vordringend zu jener letzten Gottesverborgenheit, die aufdeckungs- und erweckungsbereit allüberall und selbst noch in der verworfensten Seele da ist dies, die Aufdeckung des Göttlichen durch das selbsterkennende Wissen um die eigene Seele, das ist die menschliche Aufgabe der Kunst, ihre Menschheitsaufgabe, ihre Erkenntnisaufgabe und ebendarum ihre Daseinsberechtigung, erwiesen an der ihr auferlegten dunklen Todesnähe, weil sie bloß in solcher Nähe zur echten Kunst zu werden vermag, weil sie bloß darum die zum Sinnbild entfaltete Menschenseele ist; wahrlich, dies wußte er,

doch er wußte auch, daß die Schönheit des Sinnbildes, und sei es noch so sehr richtigkeits-scharfes Sinnbild, niemals Selbstzweck werden darf, daß immer, wenn solches geschieht und die Schönheit sich als Selbstzweck vordrängt, die Kunst in ihren Wurzeln angegriffen wird, weil dann ihre Schöpfungstat un weigerlich sich umkehrt, weil dann plötzlich das Erzeugende durch das Erzeugte ersetzt ist, der Wirklichkeitsinhalt durch die leere Form, das erkenntnishaft Richtige eben durch das bloß Schöne, in einer ständigen Verwechslung, in einem ständigen Vertauschungs- und Umkehrungskreis, dessen Insichgeschlossenheit keinerlei Erneuerung mehr zuläßt, nichts mehr erweitert, nichts mehr entdeckt, weder das Göttliche im Verworfe nen, noch das Verworfene in des Menschen Göttlichkeit, son dern sich einfach an leeren Formen, an leeren Worten berauscht und in solcher Unterscheidungslosigkeit, ja Eidlosigkeit, die Kunst zur Unkunst, die Dichtung aber zum Literatentum her abwürdigt; wahrlich, dies wußte er, wußte es sehr schmerzlich,

und ebendarum wußte er auch um die innersten Gefahren al les Künstlertums, ebendarum wußte er um die innerste Einsamkeit des zum Künstler bestimmten Menschen, um diese ihm eingeborene Einsamkeit, die ihn in die noch tiefere der Kunst und in die Sprachlosigkeit der Schönheit treibt, und er wußte, daß die meisten an solcher Vereinsamung scheitern, daß sie einsamkeitsblind werden, blind für die Welt, blind für das Göttliche in ihr und im Nebenmenschen, daß sie, einsamkeitsberauscht, nur noch die eigene Gottähnlichkeit, als wäre sie eine ihnen allein zukommende Auszeichnung, zu sehen vermögen, und daß sie daher solch anerkennungslüsterne Selbstvergötzung mehr und mehr zum einzigen Inhalt ihres Schaffens machen –, Verrat am Göttlichen wie an der Kunst, Verrat, weil auf diese Weise das Kunstwerk zum Un-Kunstwerk wird, zu einem un keuschen Mantel der Künstlereitelkeit, zu einem Flitterstaat, in dessen Unehrlichkeit sogar die selbstgefällig zur Schau gestellte eigene Nacktheit sich zur Maske verfälscht, und wenn auch das unkeusch Selbstgenießerische, das Schönheitsverspiel te und Wirkungsbedachte, das unerneuerbar Kurzfristige und unerweiterbar Begrenzte solcher Unkunst einen leichteren Weg zu den Menschen hat, als echte Kunst ihn je finden könnte, es ist nur ein Schein-Weg, ein Ausweg aus der Einsamkeit, nicht jedoch der Anschluß an die Menschengemeinschaft, den, die echte Kunst in ihrem Menschheitsstreben sucht, nein, es ist der Anschluß an die Pöbelhaftigkeit, ist Anschluß an deren eid brüchige und eidunfähige Nicht-Gemeinschaft, die keinerlei Wirklichkeit bewältigt oder schafft, auch gar nicht gewillt ist solches zu tun, vielmehr im Wirklichkeitsvergessen dahindämmert, wirklichkeitsverlustig wie die Unkunst, wirklichkeitsverlustig wie das Literatentum, die innerste und tiefste Gefahr aller Künstlerschaft; oh, wie sehr schmerzlich wußte er darum,

und er wußte deshalb auch, daß die Gefahr der Unkunst und des Literatentums ihn seit jeher umfangen gehalten hatte, ihn immerzu gefangen hielt, daß er daher – hatte er auch niemals gewagt sich dies ehrlich einzugestehen – seine Dichtung eigent lich nicht mehr Kunst nennen durfte, da sie, bar jeglicher Erneuerung und Erweiterung, nichts als unkeusche Schönheitserzeugung ohne Wirklichkeitsschöpfung gewesen war, da sie vom Anfang bis zum Ende, vom Ätnagesang bis zur Äneis lediglich der Schönheit gefrönt hatte, selbstgenügsam auf die Verschönerung von längst Vorgedachtem, längst Vorerkanntem, längst Vorgeformtem beschränkt, ohne richtigen innern Fortschritt, es sei denn der einer ständig zunehmenden Pracht und Überladung, eine Unkunst, die niemals imstande gewesen war, aus sich selbst heraus das Sein zu bewältigen und zu wirklichem Sinnbild zu erheben. Oh, an seinem eigenen Leben, am eigenen Werk hatte er die Verlockung der Unkunst erfahren, die Vertauschungsverlockung, die das Erzeugte an die Stelle des Erzeugenden setzt, das Spiel an die Stelle der Gemeinschaft, das Erstarrte an die Stelle der lebendig fortwirkenden Schöpfung, das Schöne an die Stelle der Erkenntnis, er wußte um diese Vertauschung und Umwendung, wußte es um so mehr, als es auch die seines Lebensweges gewesen war, des Unheilsweges, der ihn von der Heimaterde zur Großstadt geführt hatte, vom werk tätigen Schaffen bis hinab zur selbstbetrügerischen Schönrednerei, von der Verantwortungspflicht der Menschlichkeit bis hinab zu einem verlogenen Scheinmitleid, das die Dinge von oben herab betrachtet und zu keiner wirklichen Hilfe sich auf rafft, sänftengetragen, sänftendurchtragen, ein Weg von der gesetzesbedingten Gemeinschaft hinab in die zufallsüberantwortete Vereinzelung, der Weg, nein, der Absturz in die Pöbelhaftigkeit und dorthin, wo sie am ärgsten ist, ins Literatentum! War es ihm auch selten bewußt geworden, er war immer wieder dem Rauschhaften erlegen, möge es sich ihm als Schönheit, als Eitelkeit, als künstlerische Verspieltheit, als spielerisches Vergessen dargeboten haben, von hier aus war sein Leben bestimmt worden, als ob es von kreisend gleitenden Schlangenringen umfangen gewesen wäre, schwindelerregend der Rausch der unablässigen Umwendung und Umkehrung, der verlockende Rausch der Unkunst, und mochte er jetzt, da er auf dieses Leben zurückblickte, auch Scham darob empfinden, mochte er jetzt, da die Zeitengrenze erreicht war und der Abbruch des Spieles bevorstand, sich auch in kalter Rauschernüchterung sagen müssen, daß er ein nichtswürdig armseliges Literatenleben geführt hatte, nicht besser als das eines Bavius oder Mävius oder das irgendeines andern der von ihm so verachteten eitlen Wortemacher, ja, mochte sich gerade daran wieder zeigen, daß in jeder Verachtung auch ein Stück Selbstverachtung steckt, da diese jetzt mit einer so schamerfüllten und so schneidenden Schmerzhaftigkeit in ihm hochstieg und ihn aufwühlte, daß es nur noch eine einzige, zulässige und wünschenswerte Lösung gab, nämlich Selbstauslöschung und Tod, so war trotzdem das, was ihn überkommen hatte, etwas anderes als Scham, war mehr als Scham: wer ernüchtert auf sein Leben zurückblickt und hiebei erkennt, daß jeder Schritt seines Fehlweges notwendig und unvermeidlich, ja selbstverständlich gewesen war, daß durch Schicksalsgewalt und Göttergewalt der Umkehrungsweg ihm vorgeschrieben ist, daß es ihn deshalb unbeweglich an den Platz gebannt hält, unbeweglich bei all seinem Vorwärtsstreben, verirrt im Gestrüpp der Bilder, der Sprache, der Worte, der Töne, schicksalsbefohlen die Verstrickung im Gezweige des Innen und Außen, schicksalsverboten, götterverboten die Hoffnung des Führerlosen, die Hoffnung auf den golden auf leuchtenden Zweig im Gestrüpp der Kerkerwände, wer solches erkannt hat, wer solches erkennt, der ist noch mehr beschämt, der ist von Entsetzen erfüllt, denn er erkennt, daß für die Himmlischen alles Geschehen in Gleichzeitigkeit vor sich geht, daß eben darum Jupiters Wille und der des Schicksals zu einem einzigen hatten werden können, in furchtbarer Gleichzeitigkeit als unzersprengbare Einheit von Schuld und Strafe sich dem Irdischen offenbarend. Oh, tugendhaft ist nur der, den das Schicksal zur gemeinschaftstragenden, helfenden Pflichterfüllung bestimmt hat, nur er wird von Jupiter auserwählt, auf daß aus dem Dickicht das Schicksal ihn führe, doch wenn ihr gemein sames Wollen die Pflichterfüllung nicht zuläßt, dann gilt ihnen Hilfsunfähigkeit und Hilfsunwilligkeit gleich, und sie bestrafen beides mit Hilflosigkeit: hilfsunfähig, hilfsunwillig, hilflos in der Gemeinschaft, gemeinschaftsscheu und eingeschlossen in den Kerker der Kunst ist der Dichter, führungslos und führungsunfähig in seiner Preis gegebenheit, und wollte er sich auflehnen, wollte er trotzdem zum Helfenden, zum Erwecker in der Dämmerung werden, um damit zum Eid und zur Gemeinschaft zurückzufinden, er wäre mit solchem Streben – oh, daß er mit entsetzter Scham dessen gewahr werde, waren die drei zu ihm hergesandt worden! – von vorneherein zum Scheitern verurteilt; seine Hilfe wäre Scheinhilfe, seine Erkenntnisse wären Scheinerkenntnisse, und würden sie von den Menschen überhaupt angenommen werden, sie wären ihnen immer nur unheilbringende Mißleitung, fern jeder heilsweisenden Leitung, fern dem Heile. Ja, das war das Ergebnis: der Erkenntnislose als Erkenntnisbringer für die Erkenntnisunwilligen, der Wortemacher als Spracherwecker für die Stummen, der Pflichtvergessene als Verpflichter der Pflichtunwissenden, der Lahme als Lehrer der Torkelnden.

Wiederpreisgegeben war er, preisgegeben an eine wieder preisgegebene Welt, oh, keine Hand hielt ihn mehr, nichts war mehr da, das ihn barg und aufrichtete; er war fallengelassen worden, und hingebrochen über die Fensterbrüstung, leblos an die staubig heiße Leblosigkeit der Ziegel angeklammert, die Staubigkeit dieses überhitzten Ur-Lehms scharf unter den Fingernägeln spürend, angeklammert an das erstarrt Ur-Erdige, hörte er das schweigende Lachen im steinheißen, gestaltstarren Nachtschweigen ringsum, hörte er darin das Schweigen des vollzogenen Eidbruches, das verstockte Schweigen des sprachberaubten, erkenntnisberaubten, erinnerungsberaubten Schuldbewußtseins, das Schweigen der Vorschöpfung und ihres grausam anwachsenden Todes, für dessen Unbedingtheit es keine Wiedergeburt und keine Erneuerung der Weltschöpfung gibt, weil das von ihm verhängte Sterben keinerlei Göttlichkeit kennt: oh, kein anderes Geschöpf ist so unbedingt und so ungöttlich sterblich, wie der Mensch es ist, denn kein anderes kann so eidbrüchig werden wie der Mensch, und je verworfener er wird, desto sterblicher wird er, aber am eidbrüchigsten und sterblichsten ist jener, dessen Fuß sich der Erde entwöhnt hat und nur noch Steinpflaster berührt, der Mensch, der nicht mehr ackert und nicht mehr säet, für den sich nichts mehr nach dem Rund der Gestirne vollzieht, dem der Wald nicht mehr singt und nicht die grünenden Felder; wahrlich, niemand und nichts ist so sterblich wie der Großstadtpöbel, der durch die Straßen hinkrabbelt, hinschleicht, hinwimmelt und vor lauter Getorkel das Gehen verlernt hat, von keinem Gesetz mehr getragen, keines in sich tragend, die wiederzersplitterte Herde, verlustig ihrer einstigen Weisheit, unwillig der Erkenntnis, tierhaft, ja untertierhaft jeglichem Zufall anheimgegeben und schließlich dem Zufallsverlöschen ohne Erinnerung, ohne Hoffnung, ohne Unsterblichkeit; so war es ihm gleichfalls beschieden, ihm zusammen mit der aufgesplit terten Pöbelherde, der er als einer ihrer Splitter angehörte, so war es ihm mit Schicksalsnotwendigkeit auferlegt, unvermeidlich. Die Regionen des Schreckens hatte er hinter sich gelassen, doch nur, um mit Entsetzen zu sehen, wie er ins Pöbelhafte abgestürzt war, abgestürzt zu einer Oberfläche, die zu keiner Tiefe Einlaß bietet –, wird sich dieser Absturz noch weiter fortsetzen, sich noch weiter fortsetzen müssen? von Oberfläche zu Oberfläche bis hinab zur letzten, bis zu der des schieren Nichts? bis zur Oberfläche des letzten Vergessens? Immer ste hen die plutonischen Tore geöffnet, unvermeidlich ist der Absturz, von dem es keine Rückehr gibt, und im Rausch des Sturzes meint der Mensch, es sei ein Sturz nach aufwärts, meint es so lange, bis er dort, wo die Zeitlosigkeit der himmlischen Geschehnisse sich plötzlich als Gleichzeitigkeit und als ein Zusammentreffen im irdischen Bereich offenbart, bis er an solcher Zeitgrenze dem entgöttlichten Gott begegnet, eingeholt und überholt von ihm, der ummantelt und umflattert vom Äonengelächter gleicherweis abwärtsstürzt, sie beide in die selbige Ernüchterung und Selbstpreisgabe geschleudert, einem Entsetzen preisgegeben, das in verstockt trotziger Scham zwar noch lacht, doch zugleich auch schon ein künftiges, noch ent setzlicheres Entsetzen ahnt und dieses weglachen will: zu noch nackterem Entsetzen, zu noch nackterer Scham, zu noch nackterer Entlarvung ging die schicksalsgetriebene Fahrt, ging der Absturz, es ging in eine neue Vernichtung und Selbstvernichtung, ärger als alle bisherige, in eine neue Abgeschiedenheit, die alle bisherige Einsamkeit, alle Nachteinsamkeit, alle Welteinsamkeit übertreffen sollte, verlassen nicht nur von jedwedem Menschentum, sondern sogar auch von jedweder Dinglichkeit; die leere Oberfläche des unbewältigten Seins hatte sich mit einem Male da entblößt, und in der Unzulänglichkeit der inneren und äußeren Sphären hatte die Nacht, obwohl unverändert strahlend im vollen Rund ihrer Dunkelheit, sich zu einem Nirgendwo aufgelöst, das mit seiner Zufallsanheimgegebenheit so wohl Erkenntnis wie Wissen überflüssig macht und in Nutzlosigkeit hinschwinden läßt. Verschwunden waren Erinnerung wie Hoffnung, verschwunden vor der Gewalt des unbewältigten Zufalls, denn dieser war es, der sich in alldem zeigte, unentrinnbar der die Unschöpfung beherrschende Zufall, und umwittert vom Rausch und von der Unerinnerung aller vorschöpferischen Preisgegebenheit, umblinkt von den kalten Flammen der Vorschöpfung, von ihrer Ungeborenheit und Vorgestorbenheit, meldete er, der nackte Zufall, der die namenloseste Einsamkeit ist, nun seinen Herrschaftsanspruch wieder an –, dies war das Ziel der Fahrt, das nun sichtbare Ziel des Absturzes, das Namenlose selber.

Die namenlose Zufallseinsamkeit, ja, die sah er vor sich, der sturzbereit und doch schon stürzend hier am Fenster stand. Unbewältigt und unbewältigbar in ihrer Preisgegebenheit war die fremd gewordene Nacht vor seinen fiebernden Blicken auf getan, unverändert unbeweglich, dennoch fremd, wurde sie von des Mondes mildhartem Atem bestrichen, unverändert unbeweglich von der Milchstraße sanftleise durchflutet, einversenkt in das schweigende Sternsingen, einversenkt in die Schönheit und in ihre verzauberte Zaubereinheit, in die verschwebende Einheit der schöngewordenen Welt, einversenkt in deren erstarrt-erstarrende Überferne, und raumschön, raumstarr, raumgroß wie diese, dämonisch gleich dieser zu Fremdheit verzaubert, wurde sie mit ihr durch die Zeiten dahingetragen, Nacht und doch das Unsterbliche innerhalb der Zeit, äonisch und doch ohne Ewigkeit, fremdgeworden allem Menschlichen, fremd der Menschenseele, da die stille Einswerdung, die sich fernedurchtränkt, fernedurchtränkend so vollzog, keinerlei Teilhaftigwerden mehr erlaubte; der Vorhof der Wirklichkeit hatte sich zu dem der Unwirklichkeit verwandelt. Erloschen waren die Sphärenordnungen des Seins, es schwieg ihr stummklingender Silberraum, eingeschlossen und entfremdet vom Überunerfaßlichen, als Fremdheit das Überunerfaßliche jedweden Menschen tums in sich einschließend, und Mond und Milchstraße und Gestirne, sie hatten keine Namen mehr, unbekannt waren sie ihm im Unzugänglichen, in ihrer Abgeschiedenheit, die unüberbrückbar-unüberrufbar war und trotzdem auf ihm lastete, nie derzwingend und drohend, durchsichtig und heiß, die über hitzte Kälte des Weltenraumes; was um ihn herum war, um schloß ihn nicht mehr, und obschon von ihr umschlossen, stand er außerhalb der Nachthöhle, abgeschieden vom Schicksal, sowohl vom eigenen wie vom fremden, abgeschieden vom Schicksal der unsichtbar-sichtbaren Welt, abgeschieden von allem Göttlichen, abgeschieden von allem Menschlichen, ab geschieden von der Erkenntnis, abgeschieden von der Schönheit, denn auch die Schönheit der sichtbar-unsichtbaren Welt war im Namenlosen entschwunden, war kaum mehr Erinnerung –

– oh, Plotia, weiß ich noch deinen Namen? in deinen Haaren wohnte die Nacht, sternenübersät, sehnsuchterahnend, lichtverheißend, und ich, über ihre Nächtlichkeit gebeugt, trunken des glitzernd süßen Nachtatems, ich bin nicht in sie versunken! oh, verlorenes Sein, vertrauteste Fremdheit, fremdeste Vertrautheit, du fernste Nähe, allernächste aller Fernen, erstes und letztes Lächeln der Seele in ihrer Ernsthaftigkeit, du, o du, die du alles warst und bist, vertraut und fremd und ein nahfernes Lächeln, du schicksalstragende Blume, ich konnte dein Leben nicht in mich eindringen lassen ob seiner überschweren Ferne, ob seiner überschweren Fremdheit, ob seiner überschweren Nähe und Vertrautheit, ob seines überschweren Nachtlächelns, ob des Schicksals, ob deines Schicksals, das du in dir trugst und immer tragen wirst, unerreichbar für dich, unerreichbar für mich, das ich nicht auf mich nehmen durfte, da seine überschwere Unerreichbarkeit mein Herz gesprengt hätte, und ich habe bloß deine Schönheit, nicht dein Leben gesehen! oh, du zögernd Hinweggeeilte, die ich nicht zurückrief, du Sehnsuchtsbegnadete, die zurückzurufen mir verwehrt war, du nimmerwiederkehrender, ach, so leichter Schritt im unerforschlich Unerlauschbaren, du verlorener Schein hinter den Schatten, wo ist deine Heimkehr? wo bist du?! du warst; und du ließest mir den Ring von deinem Finger und stecktest ihn an meine Hand, und es war, mit Dunkel uns einschließend, die dunkelheits-umschlossene, dunkelheits-einschließende, die hinrauschende Zeit, oh, Plotia, ich weiß es nicht mehr –

– kaum mehr Erinnerung war das Entschwundene, das einstmals Wirkliche und mehr als Wirkliche, kaum mehr ein Name war die Frau, die er geliebt hatte, kaum mehr ein Schein, kaum mehr ein Schatten, sie war ihm ins unerforschlich Zufällige zu rückversunken, und nichts war geblieben als das verwunderte Wissen um ein Gewesenes, um ein Verklungenes, um die ver klungene Musik der Schönheit, um eine einstmalige Verwunderung und ein einstmaliges unerklärlich gewaltiges Vergessen, nach dem er mit all der verwunderten Beharrlichkeit eines Rauschsüchtigen gefahndet hatte, oh, selbst noch in der Erinnerung verwundert, daß es vorhanden gewesen war, daß Schönheit aufgeklungen hatte, daß sie hatte aufklingen können, daß sie, eingesenkt in das Menschenantlitz wie ein leiser, ewigkeitsgeborener, ewigkeitsentatmeter Rauch, immer wieder aus dem menschlichen Antlitz leuchtet, vertrautfernes, fremdnahes nachtlächelndes Schimmern und Verschimmern, verwelkbar wie weißer Liguster, das zarte Schleiergewebe des Sterbens, das über alles Menschliche gebreitet ist, der Schleier des Menschlichen, verdichtet in der Schönheit, doch zugleich auch in ihr durchsichtiger geworden, als hätte sich damit das Vergessen selber in die Seele eingeschmiegt, als hätte sich die Seele selber zu ihrer irdischen Unsterblichkeit in der Schönheit vergessen, zum Schönheitsvergessen schlechthin, als schimmerte in der menschlichen Schönheit noch ein letzter Rest jener längst entlarvten Hoffnung auf, die dem unerlauschbar unerreichbaren Wissen um das Sterben zugewandt ist: nichts war davon geblieben, nur der unbewältigbare Tod stand hinter der immerwiederkehrenden sterbenssüßen Gestalt, unbewältigt und großaufgerichtet erhob er sich im Unermeßbaren, aufgerichtet bis zu den Sternen, sphärenerfüllend, sphärenverbindend, und zusamt mit ihm, aufgerufen von seiner Stummheit, von ihr bewegt, sie erfüllend, sie seiend, war jählings all das aufgerauscht, was von ihm umfaßt wird, stummaufrauschend der Tod, stummaufrauschend das von ihm Umfaßte, das Todes verfallene, Todesgebannte, das Zufallsgeborene und Zufallsverhaftete, die todeserwartende Gestaltenvielfalt der Menschen, vervielfältigt das Hinkende, vervielfältigt das Fettwanstige, vervielfältigt das Schwabbelnde und Keifende, vervielfältigt zu einem so dichten Gestaltengewimmel, daß das leere Steingehäuse des Platzes davon überquoll, daß es in alle Sphärenräume drang, freilich ohne die Leere des Platzes, ohne die Leere der Räume zu verändern, daß es wie ein Aufbrechen und Ausschütten der Zeit selber war, die Totenherde der Gleichzeitigkeit, die irdisch-menschliche Mannigfaltigkeit, der irdische Mensch im Mannigfaltigkeitskreis seiner Abwandlungen, mitsamt seinem Knochengerüst und seinem Schädel, mit seinem Rundschädel, seinem Flachschädel, seinem Turmschädel, bewollt, begrast, beflachst, glatzig und besträhnt, Schädel an Schädel, der schädeltragende Mensch mit seiner Gesichtsvielfalt, tiergesichtig, pflanzengesichtig, steingesichtig, seltsam hautüberzogen, glatt oder finnig oder runzelig, fleischgepolstert oder schlaff, mit seinen Kau- und Sprechkiefern, steinern zahnbesetzt in seiner Gesichtshöhle, der gesichtstragende Mensch mit seinen vielfältigen Haut- und Höhlungsgerüchen, mit seinem Lächeln, dem blöden wie dem listigen, dem bleckenden wie dem hilflosen, mit seinem selbst in letzter Verworfenheit göttlich-rührenden Lächeln, das ihm das Gesicht öffnet, ehe das Lachen es wieder ihm schließt, auf daß sein Auge nicht das Unmenschliche der Schöpfungszertrümmerung sehe, der blickbegnadete Mensch, augengroß, au genstarr, augenkristallen, augendunkel, augenlebend, im Auge sein Schicksal enthüllend, sich selber im Auge verborgen, der schicksalstragende Mensch, gerade in seiner Augenkraft vom Schicksal zur Scham verurteilt, der schamerfüllte und dennoch sprechende Mensch mit seiner schamlos von Kiefer, Zunge, Lippe feucht gelenkten Stimme, der atemtragenden Stimme, der worttragenden, gemeinschaftstragenden Stimme, die aus ihm herausdringt, rauh, fett, schmeichlerisch, dröhnend, beweglich und steif, japsend, dürr, quäkend, bellend, und doch immer fähig, sich zum Liede zu verklären, der Mensch, dieses wunderbare und entsetzliche Ganzheitswerk aus anatomischem Sein, aus Sprache, aus Ausdruck, aus Erkenntnis und Nicht-Erkenntnis, aus stumpfem Dahindämmern, aus Sesterzenrechnerei, aus Begierden, aus Rätselhaftigkeit, dieses Ganzheitswesen, zerteilt in Organe, in Lebenszonen, in Substanzen, in Atome, vervielfältigt und abervervielfältigt, all diese Wesensvielfalt, dieses Gewirr von Menschenbestandteilen, kaum richtig zusammengesetzt, dieses Geschöpflichkeitsdickicht, irdisch in seiner Wirklichkeit, irdisch wie ihr steinernes Knochengerüst, irdisch wie das Knochengerüst des Todes, all dieses Leibergestrüpp, Gliedergestrüpp, Augengestrüpp, Stimmengestrüpp, dieses Dickicht der Halb-ErschafFenheit und Unfertigkeit, entstanden aus Zufallsbrunst und immer wieder auseinander hervorsprießend, in stets erneuter Zufallsbrunst verpaart, vermengt, verfickt, verflochten, verzweigt, immer weiter sich verzweigend und sich erneuernd, um dabei unaufhörlich abzusterben, so daß das Abgestorbene, das Verdorrte und Verwelkte zur Erde fällt, dieses Menschen-Dickicht in seiner pflanzlich-tierischen Lebendigkeit und Todgeweihtheit, es war nun mit der Gestalt des Todes aufgeflutet, war mit dem Tod aufgerauscht, aufgelärmt und aufgestummt, es war selber der sphärenfüllende Tod, das menschliche Zufallschaos, so zufällig und so sterblich, daß wir kaum wissen, ob der, welcher als Lebender zufällig vor uns auftaucht, nicht etwa schon im Einst verstorben oder noch nicht einmal geboren ist, in Vorgestorbenheit, in Ungeborenheit –, Plotia, o Plotia, niemals Gefundene, Unauffindbare! Oh, sie war ihm unauffindbar im Totengestrüpp, sie war ihm ins untergründig Wiederpreisgegebene zurückgesunken, und er hatte weniger Gemeinschaft mit ihr als mit einer Toten, da er selber gestorben war, abgestorben in den Vortod der Unschöpfung, abgestorben ins Meineidige, ins Hinkende, ins Verbogene, abgestorben in die Wiederpreisgegebenheit eines städtisch verpöbelten Literatentums, das in den Scheinweg seiner Scheinumkehrungen sogar auch noch den Tod einbezieht, den Tod mit der Schönheit, die Schönheit mit dem Tode verquickend, um an solch unkeuscher, verwesungslüsterner Gleichsetzung selbstbetrügerisch die Erreichung des Unerreichbaren zu gewinnen, um sich das unerlauschbare Sterbenswissen vorzutäuschen, sicherlich aber auch, um das Genießerische solcher Vertauschungen selbst auf die Liebe auszudehnen, ja um in ihr das spielerisch-unkeusche Spiel zu seinem eigentlichen Höhepunkt zu treiben; denn wer zur Liebe unfähig ist, wer unfähig ist zu ihrer Gemeinschaft, der muß aus der Brückenlosigkeit seiner Vereinsamung sich in die Schönheit retten, grausamkeitsgekitzelt wird er zum Schönheitssucher, zum Schönheitsanbeter werden, niemals zum Liebenden, wohl aber statt dessen zu einem Beobachter der Schönheit in der Liebe, zu einem, der Liebe durch Schönheit erzeugen will, weil er das Erzeugte mit dem Erzeugenden verwechselt, weil er auch in der Liebe den Rausch erahnt und aufspürt, den Todesrausch, den Schönheitsrausch, den Rausch des Vergessens, weil er in der dämmerigen Versunkenheit des Schönheitsspieles und der Todesliebe sich den Genuß dieses Vergessens verschafft, willig und willentlich vergessend, daß Liebe, obwohl zur Schönheitsschaffung begnadet, nimmermehr auf Schönheit, sondern einzig und allein auf ihre ureigenste Aufgabe gerichtet ist, auf jene menschlichste aller Aufgaben, die allzeit und ausschließlich Schicksal-auf-sich-Nehmen heißt; oh, dies allein ist Liebe, doch es halten die Toten keinerlei Gemeinschaft untereinander, sie haben einander vergessen –

– oh, Plotia! unvergeßbar Unvergessene! Schönheitsumflossene! oh, gäbe es Liebe, gäbe es der Liebe Schiedkraft im Menschen-Dickicht, es hieße, daß wir gemeinsam den goldenen Zweig finden dürften, daß wir gemeinsam hinabstiegen zum Quell des Vergessenheit-Nichts, zur letzten Unterwelts-Nüchternheit, daß wir hinabstiegen, wir selber traumlos nüchtern, hinab zum Urgrund, nicht durch die elfenbeinern schöne Traumespforte, die keinen mehr entläßt, sondern durch den nüchtern hörnernen Eingang, der uns die Rücckehr gestattet, den gemeinsamen Wiederaufstieg, heimbringend aus letztem Schicksalsverlöschen das neue Schicksal, heimbringend aus letzter Nicht-Liebe die Liebe, das neugeschaffene, das werdende Schicksal! oh, Plotia, du Kindhafte und doch nicht mehr Kindhafte! nur das werdende, nicht das gewordene Schicksal können wir auf uns nehmen, nur das werdende ist die Liebeswirklichkeit, die wir in allem frühlingshaft Keimenden und Aufblühenden, in jedem Grashalm, in jeder Blume, in jeder wachsend jungen Geschöpflichkeit, am innigsten aber wohl im Kinde suchen, aufnehmend des unentfalteten Schicksals Formungsbereitschaft um derentwillen wir uns allem Unberührten zuneigen, aufneh mend das Werdende in das Gewordene, aufnehmend den Knaben in die Formungsstärke des Mannes, oh, Plotia, es ist das werdende Schicksal, es ist dieses, das uns beschieden wäre, wenn es Liebe gäbe, wenn ihre Schiedkraft, enthoben aller Zufallsbrunst, wahrste Liebessicherheit verbürgen könnte, und es wäre dann das Schicksal selber die Liebe, wäre sie in ihrem Werden und in ihrem Sein, wäre sie als Abstieg in tiefste Un-Erinnerung und Wiederaufstieg ins All-Erinnerte, als Auslöschung zum Nichts und als Heimkunft ins unverändert Gleiche, wäre sie als Grashalm und Blume und Kind so unverändert, wie Grashalm, Blume, Kind es immer gewesen sind, dennoch gewandelt zur Liebe, überglänzt vom goldenen Zweig der Liebe, dem unauffindbaren –

– oh, von keinem goldenen Zweig überglänzt, halten die Toten keinerlei Gemeinschaft untereinander, sie haben einander vergessen, und Plotias Gestalt, Plotias unvergessen-vergessenes Sein, das ihm einstmals der Lichtschimmer hinter allen Schatten gewesen war, hatte sich in die Schatten verflüchtigt, war ununterscheidbar geworden im Schattenreich, war hineingesunken in das Totengewimmel, ein Teil und kaum mehr ein Teil in der Fülle der Abgestorbenheit, in der Fülle der Gesichter, der Schädel, der Gestalten, sie allesamt für ihn ununterscheidbar, sie allesamt für ihn namenlos, sie allesamt für ihn verschwunden und verflüchtigt, da sie für ihn von vorneherein verstorben gewesen waren, da er nicht einmal den Lebenden je wirklich werktätige Hilfe hatte sein wollen, vielmehr – vom Schicksal wie von den Göttern zu solchem Nicht-Wollen verdammt, unschuldig und trotzdem schuldig – schon für den ersten ungetanen Versuch zur Hilfe, schon für den ersten ungetanen Schritt, schon für den ersten ungetanen Scheinansatz zu solchem Scheinschritt ein ganzes Leben gebraucht hatte, außerstande, sich in irgendeine lebendige Hilfsgemeinschaft einzureihen, geschweige also, daß er irgendeines lebendigen Wesens Schicksal hiefür auf sich hätte nehmen können, oh, er hatte ein Leben in der Nicht-Gemeinschaft der Toten verbracht, er hatte immer nur mit Toten gelebt und desgleichen die Lebenden zu ihnen gerechnet, er hatte die Menschen immer nur als Tote gesehen, hatte sie immer nur als Bausteine zur Errichtung und Erzeugung von todeserstarrter Schönheit genommen, und es waren die Menschen ihm darum allesamt ins Unbewältigte entschwunden, in die Unerkenntnis ewiger Unerschaffenheit. Denn nur in den Aufgaben, die der Mensch menschlich auf sich nimmt, liegt auch sein Erkenntnisheil, und ohne Aufgabe hat er auch dieses verwirkt. Unfähig war er zur tätigen Hilfe, unfähig war er zur liebenden Tat, unbewegt hatte er Menschenleid beobachtet, lediglich um des zur Unkeuschheit erstarrten Gedächtnisses willen, lediglich um der unkeusch schönen Aufzeichnung willen hatte er die Geschehensfurchtbarkeit betrachtet, und ebendarum war es ihm niemals gelungen, wahrhaft Menschen zu gestalten, Menschen, die essen und trinken, die lieben und geliebt werden können, und noch viel weniger solche, die durch die Straßen dahinhinken und dahinfluchen, ungestaltbar für ihn, ungestaltbar in ihrer Tierhaftigkeit, ungestaltbar in deren übergroßer Hilfsbedürftigkeit, ungestaltbar erst recht das Menschenwunder, mit dem selbst solche Tierhaftigkeit begnadet ist; nichts waren ihm die Menschen, Fabelwesen waren sie ihm, schönheitsumhüllte Schönheitsschauspieler, und als solche hatte er sie gebildet, als Fabelkönige, als Fabelhelden, als Fabelhirten, als Traumgeschöpfe, an deren schönheitsverspielter, schönheitsverträumter, unwirklicher Gottähnlichkeit er selber, sogar noch hierin dem Pöbel gleichend, gerne teilgenommen hätte, vielleicht auch hätte teilnehmen dürfen, soferne sie echte Traumerscheinungen gewesen wären, indes, weit davon entfernt, waren sie nichts als bloße Wortgebilde, kaum lebend in seinem Gedicht, tot jedoch, so bald sie um die nächste Ecke biegen, aufgetaucht aus dem Dunkel des Sprachgestrüpps und wieder eingegangen in den Zufall, ins Ungeliebte, in die Erstarrung, in den Tod, in die Stummheit, ins Unwirkliche, genau so wie jene drei, die nun auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren. Und aus ihrer Entflüchtung dröhnte weltenzersprengend die böse Stummheit des Hohngelächters, von dem sie durchschüttelt worden waren, dröhnte als eine zweite Stille bösartig durch die Stille des Platzes und der Gassen da unten, dröhnte durch die Stille der Nacht, zufallsgeboren, fremdheitserfüllt, dröhnte raumzersprengend, raumaufhebend, freilich nicht zeitaufhebend das Gelächter des vollzogenen Eidbruches, das stumme Dröhnen der im Stiche gelassenen zersprengten Schöpfung.

Nichts war geblieben als die hohngeblendete Scham eines erloschenen Gedächtnisses, das zur Unkeuschheit eines toten Scheingedächtnisses geworden ist. Von keiner irdischen Flamme erweckt, waren die Feuer des Himmels zur Namenlosigkeit erschwiegen; es schwieg die Mitte, zugedeckt von den Steinplatten der Städte, sie waren einsgeworden mit den äußersten Grenzen, erkaltet unter dem Hauche des Nichts, und es er starrte nun auch die fließende Gleichzeitigkeit, in der das Ewige ruht: wehe den Scheinumkehrungen des Irrweges, sie täuschen den großen Kreislauf vor, in welchem das Vergangene und das Zukünftige sich zum ewigen Jetzt der Zeitlosigkeit binden sollen, wehe der eidbrüchigen Umkehrung, wehe dieser Schein-Zeitlosigkeit, die das Wesen alles Rausches ist und zur Aufrechterhaltung solcher Belustigung stets aufs neue das Erzeugte für das Erzeugende setzen muß, schönheitsdürstig, blutdürstig, todesdürstig, das Opfer umgelogen und umgebogen zum genießerischen Lustrausch, wehe der unkeuschen Eitelkeit eines Gedächtnisses, für das es niemals Wirklichkeit gegeben hat, und das sich bloß um der schieren Erinnerung willen erinnert, wehe dieser Umkehrung des Seins, unerneuerbar bleibt der Eid, unanfachbar die Flamme, das Spielerische muß da versagen und versagt, mag noch so viel Schönheit, noch so viel Blut, noch so viel Tod hiezu aufgeboten werden, wirkungslos bleibt es an der Zeitenwende, und an ihr zerreißt die irdische Unendlichkeit; wahrlich, solange Opferung nicht wieder zu echtem Opfer ge worden sein wird, ist das Unheil unabwendbar, gibt es keine Erweckung aus dem Dämmerschlaf, und gefangen im Unheilkreis bleibt der Überhebliche ein für allemal verkerkert, der Überhebliche, der sich zur Vernachlässigung seines Eides berechtigt erachtet, weil er die verlockende Gleichzeitigkeit des Innen und Außen, weil er die ein- und ausströmenden Gezeiten der Welt, weil er den verlockenden Anblick der schönheitsumsäumten Weltengrenzen, weil er die Verlockung als Erlaubnis zu jener Scheinumkehrung nimmt, die ebensowohl die des Erinnerungs- wie die des Vergessensberauschten ist, in beiden gleicherweise wirklichkeitsverlustig –, wehe dem Berauschten, der überheblich verstockt im Meineidigen verharrt und, ob erinnerungsüberflutet oder nicht, hiebei seines Menschentums vergißt, er hat die flammende Mitte des Seins verloren, und er weiß nicht mehr, ob er aufwärts oder abwärts stürzt, ob er vorwärts oder rückwärts blickt, richtungslos ist die Kreisbahn, aber sein Kopf ist in den Nacken gedreht, starr und lächerlich. Unerweckbar sind die Toten, unerweckbar war die Tote, der Raum des Vergessens war grauflutig über ihr zusammengeschlagen, und es, war, als hätten die Weiber in der Elendsgasse gewußt, daß da einer, der sein Leben nicht gesehen hatte, in seine letzte Ernüchterung und in sein letztes Vergessen getragen wurde. Hatte nun wirklich ihr Hohn sich gerechtfertigt? gab es wirklich nur noch den schamvollen Absturz ins Nichts und in die Regionen der leeren Oberfläche, die unter der Grenze des Nichts sich unterweltlich breiten? Oh, sie hatten recht behalten, und mit entsetzter Scham hatte er die höhnischen Verwünschungen hinzunehmen, denn die Unkeuschheit, deren er schuldlos sich schuldig gemacht hatte, war verworfener als jede noch so schamlose Zufallsunzucht der Pöbelmasse, denn er war der Unkeuschheit des freiwilligen Absturzes schuldig geworden, und wenn auch schicksalsbefohlen, er hatte sich frei willig eingereiht in das meineidige und verlorene Geschlecht, das bar jeder Bindung über die Steinfliesen des Nichts dahintorkelt, feuerlos wie das Tier, kalt wie die Pflanze, unerweckbar wie der Stein, verirrt im Gestrüpp und selber Gestrüpp, unter gegangen im Ununterscheidbaren einer endgültigen Versteinerung; er war der Bedrohung anheimgefallen, von der die Verworfenen, er verworfen mit ihnen, umfangen wurden, er war versteckt mit den Versteckten, und die Bedrohung, schicksalsgewaltig aus dem Überbedrohlichen stammend, durch keinerlei Lachensgedröhn aufzuhalten, schweigend und aberschweigend, tonzerstarrend, lichtzerstarrend in dem kristallenen Dunkel steinerner Unentrinnbarkeit, nachtaufgelöst und nachterstarrt, die Bedrohung stieg und stieg. Alles war bedroht, alles unsicher geworden, sogar die Bedrohung selber, da die Gefahr sich gewandelt hatte, übersetzt aus der Zone des Geschehens in die des Verharrens. Unerschütterlich verharrte die Nacht, kaltglühend ihr schwarzdurchsichtiger goldener Fittich, gespannt über das Menschenbehauste ringsum, das steinern auf der Erderstarrung lastete, bemalt von trockenem Mondlicht, und das Erstarrte trank das Licht der Gestirne tief in sich hinein, war bis in seine tiefsten Feuertiefen zu durchsichtigem Stein verwandelt, ward zum durchsichtigen Steinschatten in den geöffneten Kristallschächten der Erde, zum Kristallecho des Unerlauschbaren, hinabwebend bis ins Unerforschliche, heraufwebend bis ins Hörbare, so daß dieses wie ein letztes atemloses Atemringen der Versteinerung war, ein Steinkeuchen, flehend um den Atem des Seins; schattenversteinert, schattenversteinernd wallte es auf und ab, selbst die Postenschritte hinter der Mauer, nach wie vor beharrlich die Zeit abzählend, nahmen daran teil, sie waren dem Stein einverleibt, klingende, feierliche Schattenschritte des Nichts, die aus dem klingenden Pflaster heraus- und wieder in es hineinwuchsen, und während unter dem ständig härter werdenden Lichte nun der steifspitzige, scharfschattige Kamm der Eisenbolzen am Saume der Mauerkrone sichtbar wurde, tat sich nicht minder lichtaufgehellt und schattenklar der Schacht zwischen Mauer und Haus auf, bis in seine Tiefe silbergrün vom Sphärenschein durchflossen, lichtversteint, lichttrocken, lichtklingend vor Stummheit bis hin unter zum sandig-kiesigen Boden, bis in das scharfregungslose Ungefähr des Schachtgrundes, das im trockenen Schatten etlichen Gesträuches allerlei Rümpelwerk zeigte, kaum benennbar, halb von den grünversilberten Zweigen des Gestrüpps verdeckt, Bretterzeug und Gerät, selber schattenwerfend, dabei aber auf eine so fürchterliche Art feierlich, daß es wie einsames und seltsam würdeloses Echo zu der steinernen Allstummheit war, gefahrspiegelnd, rachespiegelnd, drohungspiegelnd, weil das Nichts sich im Nichts spiegelte, das Durchsichtige gespiegelt im Staube, das eine wie das andere bestrichen von dem unbewegten Fittich, beides von Trauer gelähmt, dennoch in beiden, zerhetzt und zerrissen, das unhörbare Keuchen des Todes –

– aber kikonische Weiber, die er aus Liebe zur Toten verschmäht, rissen in Stücke den Mann beim Feste der Götter im bacchantischen Taumel, und weit umher in den Feldern zerstreut westen die Glieder; auch sein Haupt war vom marmornen Nacken gerissen, allein es hatte noch Stimme, und, bereits vom väterlichen Strom des Hebrus im rollenden Strudel ergriffen, „Eurydike“ rief es mit fliehendem Hauche, „Eurydike, du Arme“, und von den Ufern am Strome „Eurydike“ hallt es zurück –

– und echolos war er, echolos toter Widerhall in den zu un abänderlicher Endgültigkeit emporgeschossenen Wüstenbergen des Tartarus, stummer Widerhall im regungslos versiegenden Innen und Außen, stummer Widerhall stumm-atemringenden Keuchens in den trockenen Schluchten und in den Kristallschächten der Versteinerung, er war ein blickloser Schädel, hingerollt in das Steingeröll am Schattengestade des Vergessens, hingerollt unter das dürr-undurchdringliche Ufergebüsch am Dämmerstrom, hingerollt zum Nichts, vor dessen Ausweglosigkeit sogar das Vergessen erlischt, er war nichts als ein blind starrendes Auge, er war rumpflos, stimmlos, lungenlos, atmungsentblößt, ja, so war er hingeschleudert zur unterweltlich luftleeren Blindheit: Schatten zu lösen war sein Auftrag gewesen, und er hatte Schatten geschaffen, der große Bündniseid der Erde war ihm auferlegt worden, und er war von vorneherein eidbrüchig gewesen, oh, es war der Auftrag an ihn ergangen, noch einmal die Steine des Grabes zu rücken, auf daß das Menschliche zur Wiedergeburt erstehe, auf daß die lebendige Schöpfung als Gesetz, auf daß diese ständige Gleichzeitigkeit in allem Zeitenablauf nicht unterbrochen werde, auf daß der Gott immer wieder vom Jetzt der Opferflamme zur Gleichzeitigkeit erweckt und zum Eide seiner Selbsterschaffung zurückgezwungen werden möge, vom Eide der Gott erschüttert, vom Eide die Erstarrung hintangehalten, vom Eide die Flamme geschürt, oh, dies war sein Auftrag gewesen, und er hatte ihn nicht ausgeführt, hatte ihn nicht ausführen dürfen; noch ehe es ihm gestattet gewesen war, zur Erfüllung des unbekannten Eides die Gruftplatten zu rücken, ja, auch nur anzutasten, noch ehe er die Arme hatte heben können, waren sie ihm schwer und gelähmt und durchsichtig geworden, waren hineingewachsen in die Steinversteinerung, sie waren hineingewachsen in das unbeweglich-ununterscheidbare, trocken-durchsichtige Steinfluten, und dieses unbewegliche Fluten, versteinert und versteinernd, aus allen Sphären bis zur Mitte herandringend und wie der zurückebbend bis zu den Sphärengrenzen, Lebendiges wie Unlebendiges ins Schattenkristallene aufsaugend, wurde ein einziger Stein, wurde zum Opferstein des Alls, unbekränzt, unerwärmt, unerschüttert, unverrückbar, wurde zum opferentblößten Weltengrabstein, der das Unerfaßliche zudeckt und selber es ist. Oh, Los des Dichters! Der Liebe Erinnerungsstärke hatte Orpheus den Eintritt in die Hadestiefe erzwungen, allerdings um ihm zugleich den letzten Abstieg zu verwehren, so daß er, verloren in der Unterweltlichkeit des Gedächtnisses, zur vorzeitigen Umkehr genötigt war, unkeusch noch in der Keuschheit und zerrissen im Unheil. Er hingegen, liebelos von Anbeginn, unfähig das liebende Gedächtnis voranzuschicken und von keiner Erinnerung geführt, er war nicht einmal in die ersten Tiefen des erzbeherrschenden Vulcanus gelangt, geschweige denn zu den Bereichen der gesetzes-stiftenden Väter, geschweige denn noch tiefer in die des weltgebärenden erinnerung-gebärenden, heil-gebärenden Nichts, und er war in der erstarrten Leere der Oberfläche geblieben. Die Unbewältigung, einmal geschehen, läßt nichts zurück, was noch zu bewältigen wäre, und, aufgesaugt vom großen Schweigen der erkenntnisentleerten, gesetzesentleerten Namenlosigkeit, waren nun auch die lebenstragenden Großgezeiten des Entflammens und Verlöschens erschwiegen; es erschwiegen die Gezeiten des Anfanges und des Endes, die Gezeiten der feuerleuchtenden Erschütterung und der mildrieselnden Beruhigung, es erschwieg ihre wechselseitige Zeugung, die das eine zum andern macht, es wurde die Weltganzheit unabänderlich ihres Atems, ihrer Dinglichkeit, ihres Geschehens, ihres Ablaufes verlustig, und umgeben vom Allschweigen wurde sie zum schweigenden Blick entblößt, zum Allblick der sichtbar-unsichtbaren Nacktheit schlechthin, entblößt zu ihrer blicklos blickenden, unabänderlich endgültigen Nicht-mehr-Vorhandenheit: steinern starrendes Auge oben, steinern starrendes Auge unten, oh, nun war es da, das seit langem Erwartete, immer Gefürchtete, endlich war es da, nun sah er es, nun mußte er hineinblicken in das namenlos Unerahnbare, in die unerahnbare Namenlosigkeit, um derentwillen er ein Leben hindurch geflüchtet war, um derentwillen er alles getan hatte, um diesem Leben ein vorzeitiges Ende zu bereiten, und es war nicht das Auge der Nacht, denn die Nacht war in die Versteinerung verflüchtigt, und es war nicht Furcht und nicht Entsetzen, denn es war größer als jede Furcht und jedes Entsetzen, es war das Auge der steinernen Leere, das aufgerissene Schicksalsauge, das an keinem Geschehen mehr teilhat, nicht am Zeitenablauf und nicht an der Zeitenaufhebung, nicht am Raum und nicht an der Raumlosigkeit, nicht am Tode und nicht am Leben, nicht an der Schöpfung und nicht an der Unschöpfung, ein unteilhaftiges Auge, in dessen Blick es keinerlei Anfang und keinerlei Ende und keine Gleichzeitigkeit gibt, abgelöst von allem Bestehenden und Noch-Bestehenden, mit diesem nur noch durch das Drohen und das dräuende Zuwarten, durch die Zeithaftigkeit der noch bestehenden Wartensfrist verbunden, widergespiegelt im Noch-Bestand des Bedrohten und in seinem drohungsfürchtenden Blick, aneinanderverbannt das Drohende und das Bedrohte im letzten Zeitenrest. Und es gab keine Flucht mehr, nur noch ihr atemloses Keuchen, es gab für sie kein Vorwärts mehr – wohin hätte sie noch führen sollen?! –, und das Keuchen glich dem des Läufers, der hinter dem Ziele erkennt, daß er nicht angelangt ist und niemals anlangen wird, weil im Unraum der Eidbrüchigkeit, durch den es ihn hindurchgehetzt hat, um ihn immer weiter zu hetzen, das Ziel nicht zu beschwören ist und unbeschworen bleibt, ziellos die Schöpfung, ziellos der Gott, ziellos der Mensch, echolos die Schöpfung, echolos Gott und Mensch im gesetzlos Wiederpreisgegebenen, das den Unraum gebiert. Was um ihn herum war, versinnbildlichte nichts mehr, war Nicht-Sinnbild, war das Unspiegelbare, das Nichts-mehr-Spiegelnde an sich, und darüber hinaus war es die Trauer der Sinnbildverarmung, jene Trauer des Unraumes, die unräumlich allem Raumgeschaffenen und auch schon dem schlafenden Ur-Humus träumend einversenkt ist, sinnbildent blößt, dennoch den Keim eines jeden Sinnbildes in sich bergend, enträumlicht, dennoch wie ein letzter Rest der Zeiten getragenen Schönheit vom Raume bedingt, die Traumestrauer, die auf dem Grunde eines jeden Auges wohnt, im Tierauge, wie im Menschenauge, wie im Gottesauge, ja, selbst auch noch im All-Auge der Leerheit gleich einem letzten Hauch der Schöpfung schimmert, trauernd und betrauert in der Qual einer fernsterinnerten Vorerschaffenheit, als höbe der Unraum in der Trauer an und doch zugleich auch die Trauer immer wieder im Unraume, als wäre in diese Einheit unabänderlich das Ur-Verhängnis aller Schöpfung eingekeimt, das Unheil, von dem alles Menschliche und alles Göttliche urschicksalhaft bedroht wird, ihrer bei der gemeinsame Schicksalsfurcht, ihrer beider gemeinsame Schicksalsstrafe, die Furcht des Meineidigen, der von vorneherein zum Abfall verdammt ist, und die von vorneherein für ungetanes Tun, für nicht begangene Untat verhängte Sühne, mit der das Schicksal selbst die Götter beherrscht, die vom unerkennbaren Gesetz verhängte Strafe des Erkenntnis Verlustes und der Verlassenheit im Kerker des blind-notwendigen Dahindämmerns, die Verlassenheit der Nicht-Erkenntnis in unerkennbarer Notwendigkeit: näher und näher rückte es heran, gehetzt von stumm keuchender, atemloser Unheilstraurigkeit, trotzdem unbewegt langsam, verloren in Trauer und Unheil, verloren in einer Inhaltlosigkeit, die sogar Trauer und Unheil in sich aufsaugte; aus allen Schächten des Innen und Außen stieg es steinbleiern auf, als Vollzug der Drohung, ansteigend die blickende Leere, gewittergleich stieg es auf, drohender und drohender wurde das Noch-nicht-Eingetroffene, steinerner die Blickeinschließung, herangeschoben als Schweigenswand, herangeschoben in einer betäubenden Stummheit, die ebensowohl die eigene wie die aller Sphären war, lastend und aberlastend, beklemmend und beklemmender, der blickwachsende Blick des Grauens, der sich der toten Mitte näherte, und das Ich, umfangen von der Mitte, eingekreist in ihr, eingepreßt zwischen den Blickwänden, gepreßt in die Ununterscheidbarkeit des Innen und Außen, er stickt von solch verdoppelter Trauer, von dieser grenzenlosen Alltrauer des noch bestehenden Seins, die jedwede Vielfalt und jedwede Verdoppelung ins Übermaß der eigenen Grenzenlosigkeit hebt und damit aufhebt, mitaufgehoben das Ich, aufgesaugt und erdrückt von der Grenzenlosigkeit und ihrer trauernden Leere, deren Grauensahnung den verdoppelten Schrecken, das verdoppelte Entsetzen heranträgt und zugleich in sich auflöst, mitaufgelöst das Ich, aufgelöst und einverstarrt in den Blick des ringsum Drohenden, das blickbedrohte Ich, längst selber nur noch starrender Blick, das drohungsunterworfene Ich, es ward auf den letzten Rest seiner Wesenheit zusammengepreßt, ward vernichtet zum Unraum seiner Unerschaffenheit, seines Undenkens, ward auf den kleinsten Punkt eines nicht mehr erkennbaren, nicht mehr erkennenden Dahinwesens zurückgeworfen, regungslos ausgeliefert der Leerheitsumschlingung, oh, es war zurückgeworfen und zurückgeschleudert, hineingeschleudert in die Zerknirschung seines Selbst, geschleudert in Zerknirschung und Aber-Zerknirschung, es war gedemütigt zur Notwendigkeit, ausweglos, zur Notwendigkeit seiner Zerknirschung, hineingedemütigt in die Zerknirschung des leeren, des schieren Nicht-mehr-Bestehens; das Ich war seiner selbst verlustig geworden, war beraubt seines Menschentums, von dem nichts geblieben war, nichts als die nackteste Nacktheits-Schuld der Seele, so daß auch sie, ich-verlustig und doch unzerstörbar als Menschenseele, nun nichts mehr war als zerknirscht leere Nacktheit, niedergezwungen und aufgesaugt von der spiegellosen Leere des drohungsschweigenden Auges, spiegellos die Zerknirschung, spiegellos das Ich, spiegellos die Seele, spiegellos preisgegeben der Kraft des erlöschenden Blickes und selber erloschen –; Schweigen, Leere, Unraum, stumm, aber hinter den schwarzkristallenen Wänden der Allstummheit, in der fernlosen Überferne grenzenloser Grenzenlosigkeit, ver schwindend und vernehmbar, gleichsam ein verlassenstes Hörbild des Seins und bereits jenseits allen Seins, dünn und hell und weiblich und fürchterlich in unsäglicher Kleinheit, tönte ein einziger Punkt, tönte der entlegenste Punktton der Sphären, tönte ein winziges Kichern, und es war das leere Kichern der Leerheit, das Kichern des leeren Nichts. Oh, wo war noch Rettung?! wo waren die Götter?! war das, was geschah, ihre letzte Machtausstrahlung, ihre Rache und die Vergeltung für ihre Wiederpreisgegebenheit, die Rache an den preisgegeben-preisgebenden Menschen?! waren es die Gottweiber, welche ob der menschlichen Zerknirschung sich erfreuten und darob kicherten?! freuten sie sich ob des verlorenen Menschentums, freuten sie sich ob der Unentrinnbarkeit des Welten-Meineides?! Ertaubt für jede Antwort, horchte er ins Ununterscheidbare hinein, und die Antwort kam nicht, denn der Meineidige vermag keine Frage zu stellen, so wenig wie das Tier zu fragen vermag, und tot war der Stein, tot und ohne Widerhall für die ungefragte Frage, tot war das Steinlabyrinth des Alls, tot der Schacht, auf dessen tiefstem Grunde frageentkleidet und antwortentkleidet das zum Nichts zerknirschte nackte Ich weset. Oh, zurück! zurück ins Dunkle, in den Traum, in den Schlaf, in den Tod! oh, zurück, noch ein einziges Mal zurück, oh, fliehen, noch einmal zurückfliehen ins Seiende! oh, Flucht! Indes nochmalige Flucht? gab es überhaupt noch Flucht? war überhaupt noch Flucht gemeint? Er wußte es nicht; er hatte es vielleicht gewußt, und er wußte nichts mehr, er war jenseits aller Wissensfähigkeit, er war in der Wissens-Leerheit, er war in der All-Leerheit und damit sogar jenseits alles Gehetztseins, ach der Zerknirschte ist bereits jenseits aller Flucht: aber nun, jenseits der Flucht, niedergezwungen vom Meineid, als müßte der Eidbrüchige selber gebrochen werden, als dürfte er nie und nimmermehr aufrecht stehen, fühlte er sich auf die Knie geschleudert; und tiefgebückt unter der ungeheueren Last der blind-unbewegten, unsichtbardurchsichtigen Weltenleere, fluchterstarrt, fluchtgelähmt, und die belasteten Schultern niedergebeugt, und mit trocken-leblosen Händen blindfingerig nach der Zimmerwand. suchend, blindfingerig den blindfingerigen Schatten auf der mondhellen, mondtrockenen Fläche berührend, tastete er sich an ihr entlang, begleitet von seinem neben ihm hergleitenden tiefgebückten Schatten, tastete er sich hartzitternd ins Dunkle zurück, unwissend dessen, was er tat oder nicht tat, tastete er sich zu dem Wandbrunnen hin, tierartig vom Wasser angelockt, tierartig nach dem Noch-Irdischen, nach dem Noch-Lebendigen, nach dem Noch-Bewegten lechzend; und so, schädelhängend, tierartig kroch er durch die erstarrte Trockenheit dem urtierischesten aller Ziele, dem Wasser zu, um in ur-tierischester Notwendigkeit tiefgebückt wie ein Tier an der silberrieselnden Feuchte zu lecken.

 

Wehe dem Menschen, der sich der ihm widerfahrenen Gnade nicht gewachsen zeigt, wehe dem Zerknirschten, der seine Zerknirschung nicht erträgt, wehe dem kreatürlichen Seinrest, der das Seiende nicht abtun will, ach, nicht abtun kann, weil das ausgelöschte Gedächtnis in Leerheit weiter besteht; wehe dem Menschen, der trotz seiner Zerknirschung und unabänderlich ungelöst zum Kreatürlichen verdammt bleibt! um ihn herum bricht aufs neue das Lachen auf, und es ist das Lachen des Grauens, kein Weibslachen mehr und kein Mannslachen, nicht das der Götter und nicht das der Göttinnen, es ist das leere Kichern des Nichts, es ist der für den Sterblichen niemals verschwindende Seinrest im Nichts, der kichert und zum Lachen aufbricht, der damit sich selbst als das Seiende im Nichts, als das Nichts im Seienden enthüllt, als die Vereinigung von Scheinsein und Scheintod, als das lachen-nahe Wissen um solch scheintotes Sein, als der furchtbare und furchttragende Wissensrest innerhalb der Leerheit, irrsinnsgeschwängert, irrsinnsverlockend in seinem stummen Lachen, das anschwillt und anschwillt, bis die Leerheit in nacktes Grauen umgeschlagen ist. Denn je mehr die Zerknirschung das Menschliche in seinen wesenhaften Eigenschaften ergreift, desto unmittelbarer greift sie auch das kreatürlich Tierhafte im Menschen an, desto unmittelbarer schießt ihr die tierische Angst entgegen, die entsetzensgejagte Angst des Menschen, der in seine kreatürliche Einsamkeit geschleudert worden ist und wie ein versprengt-verirrtes Herdenstück nicht mehr zur Herde zurückfindet; es ist die allem Herdengeborenen von Urbeginn an einverpflanzte Grauensangst vor einer außerkreatürlichen Todesleere, es ist – in letzter Angstübersteigerung, in letzter Angstausgeliefertheit, fast schon jenseits des Todes – das stumme Grauen des Tieres, das klein-einsam im unsichtbar Übermächtigen bewußtseinsbar und zitternd unter das dunkle Gebüsch kriecht, damit kein Auge es sterben sehen möge. Wehe dem Zerknirschten, dessen Seele unfähig ist, die ihm auferlegte Einsamkeitskleinheit auf sich zu nehmen, es wird ihm die Kleinheit zur Bewußtlosigkeit, und die Gnade der Demut verwandelt sich ihm zur leeren Erniedrigung. War es schon so weit? zerknirscht war sein Denken, soweit es noch statthatte, tierhaft war sein Tun, soweit noch etwas geschah, und im Unhörbaren stand blind das Gelächter; er war plötzlich und ohne irgendwelche Überlegung in das Bett geraten, und erbärmlich in dieses eingeduckt, zugeschnürt die Kehle, trockene Kälte in allen Gliedern, bewußtlos anheimgegeben der schwarzunsichtbaren, über der Zerknirschung und dem Tierhaften verdoppelt ausgebreiteten Übermacht, bewußtlos anheimgegeben einem Bereiche jenseits der Furcht, jenseits des Schreckens, jenseits des Entsetzens, jenseits des Todes, den noch einem neuen Aufbrechen von Furcht, Schrecken, Entsetzen, Tod preisgegeben, das Grauen im Unerfühlbaren erfühlend, im Unerkennbaren erkennend, war er fallen gelassen, dennoch gehalten, noch immer gehalten, hineingehalten in den Leerheitsraum des Grauens, oh, er war hineingehalten in das Grauen und zugleich vom Grauen erfüllt: Anfangserinnerung und Enderinnerung berührten einander, sie beide verirrt eingeschlossene Einsamkeit im Lebensdickicht, im Stimmendickicht, im Bilderdickicht, im Erinnerungsdickicht, niemals erloschen der Anfang, mochte er von noch so vielen Jahren verschattet sein, niemals erloschen die Erinnerung des versprengten Herdentieres, die Erinnerung des Ur-Grauens, die einzige, welche geblieben war, und alle anderen waren wie Abwandlungen dieser grauenvoll einzigen, die auf jedem Ast des Erinnerungsgestrüpps saß, höhnisch kichernd, höhnisch lachend ob der unbeweglichen Eingeschlossenheit des im Dickicht unrettbar Verirrten, selber ihn umschließend, selber das Dickicht, selber die Undurchdringlichkeit; unbewegt war die Erinnerungsfahrt, die Fahrt des unaufhörlichen Anfanges und des unaufhörlichen Endes, die Fahrt durch den Gedächtnis-Unraum, die Fahrt durch den Unraum der stillstehenden Verirrtheit, durch den Unraum des unerinnerbaren Scheinlebens, unbewegt ging sie dahin, die sausende Fahrt durch alle Abwandlungen des Unraumes, unentrinnbar von ihnen begleitet und von ihnen eingehüllt, unräumlich in ihrem Scheinstillstand, unräumlich in ihrer Scheinbewegung, immer aber in der Unräumlichkeit des Grauens, weil es der unentrinnbare, der immer vorhandene, der niemals verlassene Kerker bleiernen Scheintodes ist, in dem grauenumgeben das Scheinleben des Menschen sich abspielt –, er war hineingehalten in den Unraum des Scheintodes. Und obwohl er stilllag und nicht um die Breite eines Fingers sich in irgendeiner Richtung bewegte, und auch das Zimmer um ihn herum sich nicht im geringsten veränderte, war ihm, als ob er vorwärts getragen würde, ja, er wurde vorwärtsgetragen, vorwärtsgezogen ins Unsichtbare und vom Unsichtbaren, von seinem Vorwissen, von seiner Vorerinnerung, es huschte die Erinnerungsmannigfaltigkeit ihm voraus, als könnte sie ihn vorwärtslocken, als könnte und sollte die Fahrt hiedurch beschleunigt werden, er wurde vorwärtsgetragen von dem Grauen, in das eingehüllt er lag, vorwärtsgetragen zu dem Grauensziele, das am Anfang steht, und das Zimmer schwebte mit ihm, unverändert und dabei fahrtartig verformt, zeiterstarrt und dabei fortwährend sich verändernd. Starr lösten sich die Amoretten aus dem Fries und verblieben trotzdem darin, aus Malerei und Tünche lösten sich Akanthusblätter, menschengesichtig geworden und den Stengel zur gekrampften Adlerkralle ausgewachsen, sie wehten neben dem Bette dahin, die Fänge schließend und öffnend, als wollten sie deren Griffstärke erproben, es wuchsen ihnen Bärte aus dem Blattgesicht und wurden wieder darein verschluckt, sie wehten dahin im Unbewegten, oftmals sich überschlagend, oftmals wie in einem Wirbel der Unbewegtheit sich drehend, es wurden ihrer mehr und mehr, weit mehr als die Wandmalerei hergab, mochte sich diese auch ständig erneuern, sie entflatterten der Malerei, sie entflatterten der nackten Wand, sie entflatterten dem Nirgendwo, ausgespien von den kaltbrodelnden Vulkanen des Nichts, die überall auf brachen, im Sichtbaren wie im Unsichtbaren, im Innen wie im Außen, sie waren Vulkanlava, hauchiger Schutt des Vorentstehens und des Verfalles, mannigfaltiger und mannigfaltiger werdend, je mehr ihrer wurden, aus der Leerheit entstandene und entstehende Formen, die sich außerdem während ihres Dahingaukelns ineinander und auseinander verwandelten, ungestaltetes und ungestaltbares Zeug, Blattwehendes und Schmetterlingswehendes, vieles pfeilartig, vieles gabelschwänzig, vieles mit langen Peitschenschwänzen, vieles so durchsichtig, daß es bloß unsichtbar stumm gleich schweigenden Schreckensrufen umherflog, manches dagegen bloß harmlos und einem blöd-durchsichtigen Lächeln gleichend, das sonnenstäubchenhaft vervielfacht, mückenhaft unbekümmert leer umherschwärmte, den Kandelaber in des Raumes Mitte umtanzte, an den erloschenen Kerzen nippte, freilich sofort wieder durch Nachstürmendes, Nachsausendes, Nachtanzendes verdrängt und weitergedrängt, das Hohlgedränge der Gestaltlosigkeit, in dem neben Gesicht und Ungesicht, neben zwiegestalteten Szyllen und seltsamen Robben und gesträubten Hydren, neben blutig einhersausenden, blutig umbänderten Köpfen zerflattert zerschlängelten Haares, sich allerlei Verwachsenes tummelte, sausend allerlei Bekörpertes und Befußtes, allerlei Behuftes, kleinverkümmerte oder unfertige Zentauren und Zentaurenreste, geflügelte und ungeflügelte; es barst der orkusgeschwängerte Raum vor Fratzengetier, Krötiges und Eidechsiges und Hundspfötiges tauchte auf, Gewürm unbestimmbarer Beinzahl, beinlos, einbeinig, zweibeinig, dreibeinig, hundertbeinig, oftmals zappelschrittig im Bodenlosen, oftmals beingestreckthölzern, steifgestreckt dahin segelnd, oftmals eng aneinandergepreßt, als wollten sie sich, bei aller Geschlechtslosigkeit, fliegend begatten, oftmals einander pfeilgeschwinde durchdringend, als wären sie durchlässiger Äther, als wären sie Äthergeschöpfe, äthergeboren und äthergetragen, wahrhaftig, das waren sie, da ihr übereinanderkollern des, übereinanderkriechendes, übereinanderpurzelndes Fliegegewühl, obwohl sie einander verdeckten und überdeckten, bis zu den letzten Grenzen des mit ihnen vollgepackten Raumes und bis in die letzten Einzelheiten mühelos vom Blicke erhascht und erfaßt werden konnte, oh, sie waren das ätherbeschuppte, ätherbefiederte Äthergezücht aus dem Vulkan der Äonen, stoßweise emporgeworfen, sturzartig, flutartig, immer wieder verdampfend, immer wieder verflüchtigt, so daß immer wieder der Raum leer wurde, sphärenleer und leer wie das Weltall, nur noch durchtrabt von einem einsamen Roß, das gesträubter Mähne hoch in der Luft vorüberstampfte, nur noch durchschwebt von einem einsamen Mannstorso, dessen flachdurchsichtiges Gesicht, bettwärts gekehrt, sich zu einem leeren höhnischen Spiegellachen verzerrte, ehe es von der neuanschwellenden Ungezieferflut des Grauens wieder überschwemmt wurde –, und keines dieser Geschöpfe atmete, denn in der Vorgeborgenheit gibt es keinen Atem; zur Furienkammer war das Gemach geworden, und es bot Raum für das ganze Grauengeschehen, obschon dieses unaufhaltsam weiter wuchs: es brauchte sich die Zimmerdecke nicht zu heben, obschon der Kandelaber sich zum riesigen Baume entfaltet hatte, die Kerzenhalter unmäßig ausgestreckt zu uralt ragendem Gezweig dumpfschattender Ulme, und im Gelaube, Blatt für Blatt, gleißnerisch die Träume saßen, dichtgedrängt wie Tautropfen, es brauchten die Wände sich nicht zu weiten, obschon zwischen ihnen alle Städte der Welt lagen, sie alle brennend, die Städte der fernsten Vergangenheit und der fernsten Zukunft, menschenfauchende, menschenzerquälte Städte, namensferne Städte, die er trotzdem erkannte, die Städte Ägyptens und Assyriens und Palästinas und Indiens, die Städte der entthronten, ohnmächtig gewordenen Götter, gestürzt die Säulen ihrer Tempel, gesprengt ihre Mauern, zerbrochen ihre Turmhäuser, geborsten das Steinpflaster ihrer Straßen, und es reichte die Kleinheit des Gemaches für alle Weltgröße aus, obschon Stadt und Feld und Himmel und Wald sich in keiner Weise verkleinert hatte, vielmehr alles, groß und klein in einem, sich in einer beinahe übermächtigen Bedeutungsschwere und Bedeutungsgleichheit zeigte, bedeutungsglei/ch zulassend, daß unter dem Ulmengezweige, als sei der Laubschatten hochziehendes Gewittergewölk, sich in unübersehbarer Größe fürchterlich der Städte größte und verfluchteste auf baute, inmitten ewig wiederkehrender Zerstörung das gedemütigte Rom, durch dessen Gassen beuteschnuppernd die Wölfe strichen, ihre Stadt wieder in Besitz zu nehmen, es umschloß das Zimmer den Erdkreis, und der Erdkreis umschloß das Zimmer, es umschlossen die Städte einander, und keine war außen und keine war innen, schwebend sie alle, indes, hoch darüber, hoch über den Vulkanen, hoch über der Versteinerung, hoch über dem Gelaube, abgesondert von allem, im übergewaltig grauen Gewölbe des Himmels, zornklirrend unbewegten Erzfittichs, blinkend und sausend wie Stahlgebilde, lautlos die Haßvögel ihre schweren großen Kreise über den Ländern der Greuel zogen, feiggrimmig bereit mit jubelwütig geöffneten Fängen herabzustoßen, um die Krallen in die blutigen Felder des Landmannes und in die blutenden Herzen zu schlagen, eingeweidehackend, eingeweidefressend sich einzuordnen in den Zug der Schmetterlinge und der Wölfe neben dem Bette, fliehend mit ihnen zu den Gestaden der Schutzlosigkeit und Trostlosigkeit, zu den Gestaden der Feuerkrater und der Drachenpflanzen, niemals gekannt, niemals benannt, immer gewußt, die Schlangengestade der Tierheit. Welche Vulkane der Vorschöpfung mußten sich da noch öffnen? welch neues Ungetier würden sie noch ausspeien? war nicht ohnehin schon alles zur letzten Nacktheit geöffnet? wohnte in dem Tierischen ringsum nicht ohnehin schon das Höchstmaß alles ausdenkbaren Entsetzens? Oder wies die Durchsichtigkeit der Angst zu neuem Angstwissen hin, zu neuer, noch tieferer Angst, zu neuer Unerahnbarkeit auf noch tieferen Urebenen? Alles war geöffnet, nichts war mehr festzuhalten, nichts mehr durfte festgehalten werden, nur das scheinbewegte Hinfliegen blieb, beharrlich blieb das verdämmerte Graulicht kalter Richtungslosigkeit, in der keine Ferne und keine Nähe, kein Oben und kein Unten sich zeigt, doch er, mitfliegend mit dem Zuge des Ungetiers, fliegend mit ihm durch das kalte Licht, fliegend durch das Richtungslose, er war umklammert und gehalten, er war von einer körperlos fliegenden Pflanzenhand mit ungezügelten, unzügelbaren Fingern gehalten, und er erkannte den Scheintod, die graue Starrheit, durch deren Unraum er dahingetragen wurde: eisiges Grauen ohne Sinnbildhaftigkeit waren die Bilder, die um ihn flossen, das Geschwänzte ohne Tierhaftigkeit, klaffenden Rachens ohne zu beißen, gezückter Kralle ohne zu fangen, gesträubten Gefieders ohne zuzustoßen, giftspritzend ohne zu treffen, schweifschlagend, schweifringelnd, Durchsichtiges, das über Durchsichtiges herfällt, lediglich in stummer Drohung und trotzdem furchtbarer als jedes Heulen und jedes Zupacken; das Grauen selber war durchsichtig geworden, der Wesensgrund der Grauensblöße hatte sich aufgetan, und in ihrem tiefsten Grunde, in ihrer tiefsten Brunnentiefe lag die zum Kreise geschlossene Schlange der Zeit, eisig das rieselnde Nichts umschließend. Ja, es war das starre Grauen des Scheintodes, und das Tiergesicht, kaum mehr ein Gesicht, nur noch Durchsichtigkeit des Pflanzlichen, stengelentsprossen, stengelverwoben, versträngt in Schweifstengeln, gebändigt von Schlangenstengeln, emporgeschossen aus einem unermeßlichen, unauffindbaren Wurzel-Unten, emporgeschossen aus der Einheit unermeßlichen Wurzelgeflechtes, dessen Untierhaftigkeit sich ihm einverleibt, das Tiergesicht entblößte sich zum Grauen der Eigenschaftslosigkeit, gespeist vom Nichts der Mitte. Keine Angst vor dem Tode konnte sich mit dieser grauenvollsten messen, denn sie war das Grauen vor dem Scheintod, umgeben vom Untertierischen, Hintertierischen, keine Angst vor Verwundung oder vor Schmerz oder vor Erstickung reichte an dieses erstickende Grauen heran, dessen eigene Unfaßbarkeit nichts mehr festhalten ließ, weil in der noch nicht geschöpften Schöpfung, in ihrem Un-Atem, in ihrer Atemnot sich nichts festhalten läßt; die Atemnot der unvollendeten, der ungeschöpften Schöpfung war es, ihre schiere Durchsichtigkeit, in der Tier, Pflanze, Mensch, sie allesamt durchsichtig, einander bis zur Gleichheit ähneln und infolge ihres atemlosen Entsetzens, infolge ihrer ungelösten und unlösbaren Gebundenheit an das Nichts, ungelebt und doch voll Drang nach gesondertem Sein, infolge solch höchster Gleichheit und solch höchster Feindschaft einander ersticken, sie allesamt erfüllt von der Grauensangst des Tieres, das die eigenschaftslose Tierheit an sich im eigenen Unsein erkennt, oh, die Erstickungsangst des Alls! Oh, hatte sie nicht stets bestanden? war er jemals von ihr wahrhaft frei gewesen?! War es nicht immer nur ein vergebliches Wehren gegen den Grauenssturm gewesen?! Oh, Nacht für Nacht war es vor sich gegangen, in Jahren und Aber-Jahren, jugendfern und gestrignah, Nacht für Nacht hatte er in eitler Selbsttäuschung vermeint dem Sterben zu lauschen, und doch war es bloß Abwehr des Scheintodgrauens gewesen, Abwehr der Scheintodbilder, die sich Nacht für Nacht gemeldet hatten, und von denen er nichts hatte wissen wollen, die zu sehen er abgelehnt hatte, und die trotzdem geblieben waren –

... oh, wer mochte schlafen, wenn Troja brennt! wieder und wieder! und es schäumet die Meerflut, zerwühlt von gezogenen Rudern, zerschnitten von den furchenziehenden Schiffen, vom Stoß ihrer dreizähnigen Schnäbel ...

– unverscheuchbar waren die Bilder geblieben, Nacht für Nacht hatte ihn das Grauen durch das Schweigen der gespenstererfüllten Krater getragen, durch die Unerinnerung der Vorerschaffenheit, durch die zur unmittelbaren Nähe umgestülpte Äonenferne wiederpreisgegebenen Seins, durch die gelähmten Ödfelder aller Verlassenheiten, verlassen von allem Menschlichen und allem Dinglichen, wiederpreisgegeben die Schöpfung. Nacht für Nacht war er an die unerschütterlich kaltzwingende Unwirklichkeit herangeführt worden, an das unwirklich Wirkliche, das allen Göttern vorangeht, alle Götter überdauert und der Götter Ohnmacht besiegelt, er war der Moira ansichtig geworden, der unhold und dreileibig Wartenden, in deren Bildern sich alle Gestalten des Scheintodes abwandeln, und er hatte die Augen vor ihrer gelähmt-lähmenden gewaltlosen Gewalt schließen wollen, blindsüchtig in der Verirrung, taub gegen den funkenkichernden Hohn des Nichts, dem der hilflos Ernüchterte trotzdem nicht zu entgehen vermag, taub gegen das vorschöpflich flache Schicksalslachen, das ihm das Nicht-zu-Bewältigende des Unbenennbaren, Ununterscheidbaren, Ungeformten aufweist und ihn zur Zerknirschung auffordert, oh, so war es gewesen, das unausgesetzt Drohungsträchtige, das unausgesetzt Abgewehrte; es waren die Jahre wie eine einzige hinflutende Nacht, bilddurchströmt, bildumgaukelt, bildgetragen im Grauensstillstand, und das, was sich Nacht für Nacht angekündigt hatte, das Unausbleibliche, Unausweichliche, es war nun nicht mehr abzuwehren, es war der Grauenskrampf scheintoter Hingeworfenheit, in der er sarg-umfangen, grab-umfangen liegen wird, hingestreckt zur stillstehenden Fahrt, er, einsam und ohne Beistand, ohne Fürbitte, ohne Hilfe, ohne Gnade, ohne Licht, ohne Ewigkeit, umgeben von den unerschütterlich steinernen Gruftplatten, die sich zu keiner Auferstehung mehr öffnen werden. Oh, die Gruft! auch sie war in dem engen Zimmer anwesend, auch sie war vom Ulmengezweige berührt, auch sie war von den Furien umtanzt, vom Furienhohn umwittert, oh, sie war Hohn ihrer selbst, auch sie Hohn der Selbsttäuschung, von der er nicht hatte ablassen wollen, Hohn seiner kindischen Hoffnung, mit der er sich vorgelogen hatte, es werde die stille Unveränderlichkeit der neapolitanischen Bucht, es werde des Meeres heitere Sonnengröße, des Meeres unermeßliches Heimatsglänzen, es werde solche Landschaftskraft leise sich des Sterbens annehmen und es zu der niemals gesungenen, niemals ersingbaren Musik umwandeln, die das Leben, lauschend und erlauscht für immer, zum Tode erwecken soll, oh, Hohn und Aber-Hohn, da das Gebäude im unräumlich Landschaftslosen nun stand, da sich nichts dahinter auftat, kein Meer, keine Küste, kein Gefilde, kein Berg, kein Stein, nicht einmal des Ur-Lehms Ungeformtheit, nichts, nur unerfaßbare Kahlheit, unerfaßlich dräuend im Nichts, ein nacktes Hohngebäude, lediglich umgeben von derselbigen unablässig schwebenden Flutung, in der er mitsamt den Fratzengeschöpfen ringsum schwebte und hingeschwebt wurde, eingehüllt und schwimmend getragen von dem atemlos-unatembaren, untrinkbar dursthaften Ätherglast, der nicht Luft und nicht Wasser ist, von dem durch sichtigen Qualmhauch aller Angstfeuer, von diesem Unatem aller Vorgeschöpflichkeit, der wie trockenes Rieseln zwischen den Fingern verweht, und in eben diesem schaurig tiergesättigten, schaurig tiergebärenden, schaurig tierverrieselnden ätherischen Element – aufsaugend den, der ins Tierhafte zu rückgefallen ist – hockten Halbvögel auf dem Dachgesimse, schaurige Gruftvögel, fischäugige Scheinvögel in dichter Reihe, eulenköpfiges, gansschnäbliches, schweinsbäuchiges Graugefiedertes mit Füßen, welche schwimmhautbewehrte Menschenhände waren, aus dem Landschaftslosen hergekommene Hockvögel, deren Flug keiner Landschaft galt. So saßen sie dort in der Grauenskahlheit, glotzend und enganeinandergeschmiegt, so stand, von ihnen umbändert, die Gruft, ebensowohl noch im Erker hierinnen, wie draußen in unerreichbarster Zielferne. Alles war übereinandergelagert, die Kahlheit des Unhimmels überdeckte sich mit den Rundbögen der Erkerfenster, beides wölbte sich über die Gruft, beides war vom Unraum durchwoben, dennoch durchschimmert von der Samtschwärze des ganzen sterndurchwirkten Himmelsrundes, und ulmendurchwachsen waren die Weltgewölbe in einer unermeßlichen Vergrößerung aller Abstände und Entfernungen, die zugleich deren unermeßlichste Verkleinerung war; das Landschaftslose durchdrang die Landschaft und wurde von der Landschaft durchdrungen, der Unraum durchdrang den Raum und wurde vom Raume durchdrungen, sinnbildhaft im Sinnbildlosen, gleich wie das Tierhafte den Scheintod durchdringt und von ihm durchdrungen wird: erloschen waren die Sinnbilder des Lebens, erloschen die sinnerfüllt-sinnvollen Tierbilder des Himmels, sie waren erkaltet unter der sie überdeckenden Kahlheit, indes, die Sinnbilder des Todes waren geblieben, wenn auch nur im Sinnbildlosen der unausdrückbaren, unerdenkbaren, unerahnbaren Vorschöpfung, sie waren geblieben in den wesenhaft ausdrucklosen Tierfratzen, in diesen Grauensbildern, die aus dem Scheintod herauskrochen, gleichsam unmittelbar der Leerheit entstammend, das Nichts im Nichts spiegelnd und gespiegelt, Bild und Gegenbild vereinigt von der Ausdrucksvernichtung jener tiefsten Ur-Einsamkeit, die niemals erfaßbar, immer gewußt, immer gefürchtet, in der Äonentiefe der Zeiten und des kreatürlich Tierischen webt; der Kreis des Sinnbildhaften schließt sich im Ausdrucklosen, schließt sich dort, wo im verbindungsentblößt Unerschaffenen der Sphärendurchdringung sich die leere Äonenferne zur sichtbarnahen leeren Tierfratze umstülpt, als wäre das Wissensbild der Ur-Einsamkeit durch den ganzen unendlichen Bilderkreis hindurchgetragen worden, von Spiegelung zu Spiegelung, um am Ende aller Enden im Bildlosen sich zur letzten Nacktheit zu enthüllen, und in dieser Enthüllung, in diesem stummdröhnenden Durchbruch der Unerschaffung und ihrer Einsamkeit, hervorbrechend mit all der Bösartigkeit, welche die hilflos verwehte Angriffslust der leeren Tierfratze ausmacht, wurde das Unheil kenntlich, das hinter allem Geschaffenen und Unerschaffenen, das hinter der Vorschöpfung und hinter allen Einsamkeitsfernen erahnt wird, ahnungsdrohend aufgebrochen im Unheil des Scheintodes, ahnungsvoll dartuend, daß alle Wege der Umkehrung, daß alle Wege der Erstarrung, des Spieles und des Rausches unweigerlich zum Tierhaften führen, daß alle Wege der Schönheit unweigerlich im Grauensfratzigen enden. Und auf dem Dache der Gruft, die den Tod zur Schönheit hatte umgestalten wollen, saß die Kette der Unheilsvögel. Ringsum brannten die Städte des Erdkreises in landschaftsloser Landschaft, gestürzt ihre Mauern, zerrissen und zerborsten ihre Steinquadern, blutrauchend der Verwesungsdunst auf den Gefilden, ringsum tobte die gottlos-gottsucherische Opferungssucht, gehäuft Scheinopfer und Scheinopfer im Opferungsrausch, ringsum tobten die Opferwütigen, den Nebenmenschen erschlagend, um auf ihn den eigenen Scheintod abzuwälzen, des Nachbars Haus zertrümmernd und in Brand steckend, um den Gott ins eigene Haus zu locken, unheilswütig, unheilsjauchzend tobte es, Opfer, Mord, Brand, Steinzertrümmerung dem Gotte zu Ehren, der es selber so will, da er das eigene Grauen, das eigene Wissen um das Schicksal übertäuben muß und lachenslüstern, vernichtungslüstern hiezu der Menschen Zwietracht entfesselt hat, die Rauschzwietracht, die Opferzwietracht, an der er, ohnmächtig geworden, teilnimmt und die ihm wohlgefällig ist, Gott und Mensch von der gleichen vernichtungswütigen Angst gejagt und abergejagt, von der Angst vor der Versteinerung in der steinernen Einsamkeit des Scheintodes, von der Erstarrungsangst, stillstandsgejagt das mordspielerische Göttergejohle, das menschliche Mordspiel, der Nichtsvulkan der Seele, und dahinflutend im flutenden Un-Element standen die Feuer still; aschenlos brannten die Städte, es wippten die Flammen wie steifgereckte Zungen, wie aufgerichtete Geißeln, sie schlugen aus keiner Tiefe empor, ja unter der aufgerissenen, aufgefetzten, zum Ausbruch ihrer selbst auf geblätterten Oberfläche gab es keine zweite Oberfläche und noch viel weniger irgendeine Tiefe, es waren die Flammen nichts anderes als diese starraufgewühlte Oberfläche selber, und sie waren umtost von dem starrbrüllenden Gestrüpp der gelähmten Stimmen, deren Schreie nur noch gräßlich huschende, fangartige Schatten sind, sie waren umtost vom stummen Dröhnen der im Stiche gelassenen, der wiederpreisgegebenen zersprengten Schöpfung: ringsum wuchsen starr neue Bauwerke aus den Trümmern, sie wuchsen empor ins graufahle Licht, ins Un-Licht der lichtlosen Fahlheit, wuchsen aus der Leere und waren trotzdem schon vorher und immer vorhandengewesen, hoffnungslos seit jeher errichtet zur Verherrlichung des Dauermordes, zur Verewigung und Aufbewahrung des Unheils, die Bauten des Scheinlebens, die Bauten des Scheintodes, den Grundstein mit Blut übergossen, steinern auf dem Leben lastend, und kein Blut reicht hin, das Unheilserrichtete, das Unheilsummauernde, das Unheilsversteinerte in das Gesetz und in den Schöpfungsgang einzufügen, keinerlei Beschwörung reicht hin, eideserneuernd die eisige Schlange zerbersten zu lassen; stärker als die Schöpfung bleibt die Vorschöpfung, scheintot bleibt die Ungeschöpflichkeit, die den Kreislauf der Schöpfung unterbricht, die sich der Schöpfung entzogen hat und sich ihr entgegenstellt, die Ungeschöpflichkeit an sich, die ausschließlich sich selber verewigen will, die sich selber zum Denkmal setzt und sich selber zur Gruft macht, sie bleibt sprachberaubt und schuldbewußt und dem Atem entsunken, sie bleibt ungeachtet ihrer steinernen Denkmalhaftigkeit unverewigt und ohne Dauer, sie ist – da sie das Erschaffene von sich abgeschüttelt hat – zum Grabe ohne Wiedergeburt geworden. Da ward der Dom des Un-Raumes, der Dom des Un-Himmels selber zu einer einzigen Grufthöhle, eingebettet in den Schlangenringen der Himmelseingeweide, eingebettet in dem von den Göttern verschmähten, humustragenden Gekröse der Vor-Schöpfung, in der das Schicksal zuckt und zeitverachtend sich verkündet; in diese Höhle wurde er hineingetragen, als wäre es Rücckehr, dorthin ging die Fahrt, und obwohl ausge stoßen aus den Himmeln, er selber schlangendurchwachsen, er lag dennoch eingebettet in den Himmelseingeweiden. Welch eine Umkehrung des Innen und Außen! welch fürchterliche Umstülpung! Ringsum brannten die Gruftstraßen und die Gruftstädte der totenbewohnten Erde, ringsum starrte die steinerne Zwecklosigkeit menschlichen Rasens, menschlichen Siegesjubels, menschlichen Opferrausches, ringsum standen steif die zündungskalten irdischen Flammen, und es war die Entschöpflichung des Menschen, die Schöpfungsentthronung des Gottes, steinern umbleckt vom sterbensentblößten Schöpfungstode –, in Angstzwietracht verwirrt der Götter Ratschluß, nach dessen Willen es hatte geschehen müssen. Denn Schöpfung verlangt nach immerwährender Auferstehung; nur in immerwährender Auferstehung vollzieht sich Schöpfung, und nur solange Schöpfung besteht, nicht einen Augenblick länger, findet Auferstehung statt, oh, nur dasjenige ist Geschöpf, darf Geschöpf genannt werden, nur dasjenige, das immer wieder hinabsteigt zu den Flammen der Wiedergeburt, unablässig bemüht, daß das Unbesiegte nicht neuerlich aufquelle, daß das vormütterlich Unerschaffene nicht, neuerlich aufbreche zu steinerner Stummheit, oh, Geschöpf ist das Schöpfungsschaffende, das im Hinabsteigen sich selbst zum Opfer bringt, rückhaltlos und umwendungsbefreit, bar jeder Umkehrung zum Rausche, ja mehr noch, bar jeder Umkehrung zu irgendeinem Erkennen oder Wiedererkennen, abtuend jedwede kreatürliche Angst, abtuend auch den letzten kreatürlichen Wunsch, oh, wir sind bloß dann Geschöpf der Schöpfung, wenn wir das Kreatürliche gänzlich von uns abstreifen, wenn wir sogar der Erkenntnis, der kreatürlichen wie der außerkreatürlichen, uns zu entäußern gelernt haben, wenn wir uns aufraffen, demütig unsere letzte Zerknirschung auf uns zu nehmen, wenn wir unsere eigene Gruft zu zerstören vermögen! Und da ihm dieses innewurde, schwer und traumesferne, als läge er im Traume und als flüstere eine Stimme aus zweitem Traume in den ersten hinein, als werde der Götter Angst, der Götter Rache, der Götter Ohnmacht noch einmal durchbrochen, als übten sie noch einmal und vielleicht zum ersten Male mildtätige Barmherzigkeit, als stammte jenes geheimnisvoll wortlose Flüstern unmittelbar aus der noch einmal durchbrochenen Grauensfurcht der Götter und raunte ihm Mut zu, Mut zur Auslöschung, Mut zur Kleinheit, Mut zur Anheimgegebenheit, Mut zur Preisgabe an die Zerknirschung, da war in dieser flüsternden Wortlosigkeit, die wie Sprache außerhalb der Sprache war, eine noch engere Sinnverdichtung vernehmbar, wortloses Wort aus noch entfernterem Traume, als jener zweite es gewesen war, ein noch leiseres, noch dringlicheres Flüstern, unerfaßbar, dennoch zur Tat aufrufend, huschend und verklingend, dennoch härtester Befehl, unabweislich gebietend, daß alles, was dem Scheinleben gedient und es ausgemacht hatte, so sehr verschwinden müsse, daß es niemals gewesen war, aufgehend im Ungeschehenen, verfallen dem Nichts, abgeschieden von jeder Erinnerung, abgeschieden von jeder Erkenntnis, niedergezwungen alles Gewesene im Menschlichen wie im Dinglichen, oh, es war das Gebot, alles Getane zu vernichten, alles, was er je geschrieben und gedichtet hatte, zu verbrennen, oh, alle seine Schriften mußten verbrannt werden, alle und auch die Äneis; so hörte er es im Unhörbaren, doch ehe er der Gebanntheit sich entwand, mit der er zu dem Gebäudesims hinstarrte, zu der regungslos dort hockenden Scheinvogelreihe, da rann es wie eine unmerkliche Welle dort über das entfärbte Gefieder, fließend und ätherisch wehend, eine Welle und noch eine, und plötzlich, gleichsam in einer Gischt von Lautlosigkeit, war der Schwarm aufgeflogen, gleichsam unfliegend emporgehoben und ins Unsichtbare zerstäubt, so daß der vertraute Dachkranz für einen Augenblick sichtbar wurde, allerdings nur für diesen einzigen, denn in dem nächsten krachte das Gebäude in sich zusammen, nicht minder lautlos wie der Flügelschlag der Entflohenen, nicht minder ätherverwandelt ins Unsichtbare, ins saugende Nichts zerstäubt. Und da ihm dieses innewurde, da begann auch die Lautlosigkeit sich zu wandeln, und sie wandelte sich zur Stille: das Unbewegliche wurde zur Ruhe, die regungslose Fahrt seines eigenen Dahingetragenwerdens kam zu irdischem Stillstand, die Gespenster das Pflanzen- wie das Tiergestaltige und zum Schluß noch eine einzelne flammenhaarige Dämonin durchsichtig bleichen Leibes und mit wehendem Schopf – begleiteten ihn nicht mehr, sondern glitten an ihm vorbei, sie glitten dorthin, wo die Gruft versunken war, sie sanken ihr nach, eines nach dem anderen, aufgenommen von dem leerdämmernden Schattenkrater, und hatte ihm dieser noch soeben wie ein drohendes Gegenauge, dennoch sein eigenes, gräßlich entgegengestarrt, letztdrohend die gräßliche Leere, sie wurde, nachdem sich auch die letzte der Harpyien in ihr aufgelöst hatte, desgleichen von der Auflösung ergriffen, die saugende Kraft wurde zum allaufnehmenden Frieden, wurde zur Tiefe, wurde zum Auge der irdischen Nacht, zum Traumesauge schwer und groß von Äthertränen, grauundschwarzsamten auf ihm ruhend, gewichtlos ihn umfangend, traumesenthoben im Träumen, geöffnet zur Wiederkehr, die wiederaufgetane Nacht, und in der tiefsten Tiefe ihres Blickes flimmerte aufs neue die kleine gelbe Flammenspitze des Öllämpchens, schüchtern blinkend – oh, ein Stern der Nähe leuchtend in dem mondlos gewordenen, nächtlich ruhenden Gelaß, das in wiedergewonnener Milde und Schlafbereitschaft, kaum mehr erkennbar der Fries, dunkelgeworden die Wandflächen, nur noch irdischvertrauten Hausrat barg, als wäre es niemals anders gewesen; es war Rücckehr, trotzdem nicht Heimkehr, es war Bekanntheit, trotzdem ohne Erinnerung, es war mildes Wiederaufleben, und trotzdem, vielleicht noch milder, ein Ausgelöscht-Werden, es war Befreiung und Einkerkerung, unbeschreiblich einsverflossen in ganz mildem Erlöschen, wundersam werdend vor Hinnahme. Leise rieselte der Wandbrunnen, das Dunkel wurde zu leiser Feuchtigkeit, und ob schon nirgendwo sonst sich etwas regte, es entstummte das Stumme, es entstarrte das Starre, weicher und lebendiger wurde aufs neue die Zeit, entlassen der scheintoten Mondsprödigkeit und aufs neue bewegungsgeöffnet, so daß er, gleichfalls der Starre entlöst, sich langsam, wenn auch noch mit äußerster Mühseligkeit, wieder aufzurichten vermochte; die Handflächen mit gespreizten Fingern in die Matratze gestemmt, den zwischen hochgezogenen Schultern etwas eingesunkenen, vor Anstrengung etwas zitternden, fieberheißen Kopf ein wenig vorgestreckt, lauschte er ins Leise hinein, und sein Lauschen galt ebensosehr der wiedergekehrten, von keinem Fieber aufzuhebenden Milde des Lebensstromes wie der kaum aufgetauchten, kaum erhaschten, kaum mehr erhaschbaren Traumesstimme, jenem flüsternden Traumbefehl, der ihm die Vernichtung seiner Schriften geheißen hatte und den er nun wahrhaft hören wollte, hören mußte, auf daß er der Rettung gewisser werden dürfe: unausführbar war das verborgene Gebot, sosehr er es zu hören und zu befolgen wünschte, unausführbar blieb es, ehe nicht das Wort zu der flüsternden Wortlosigkeit gefunden worden war, und in dem geheimnisvoll groß ihn umraunenden Unbestimmbaren webte zwingend das Gebot, zum Worte zurück zufinden; noch immer standen die Schweigenswände um ihn, doch nun waren sie nicht mehr Drohung, oh, noch immer hielt der Schrecken an, doch es war Schrecken ohne Furcht, war Furchtlosigkeit im Schrecken, oh, noch immer waren die äußersten und innersten Grenzen ineinander gewendet, doch er spürte, wie sein Lauschen sie auflöste und verband, freilich nicht zur früheren Erkennensordnung, freilich nicht zu der Menschenordnung, zur Tierordnung, zur Dingordnung, nicht zu der Weltenordnung, in der er sich einstmals bewegt hatte und die, ausgelöscht mit seinem ausgelöschten Gedächtnis, nicht mehr bestand, niemals mehr bestehen wird, und es war auch kaum die Einheit der Schönheit, nicht der verschimmernden Weltenschönheit Einheit, die sich damit auftat, nein, auch sie war es nicht, wohl aber die eines klingenden Flutens im Unerahnbaren, nachteinströmend, nachtausströmend, es war die eines unerinnerten Erinnerns an ein Stillehalten, in dem das Unvollendbare sich vollendet, verbunden zur Schöpfungssehnsucht letzter Ur-Einsamkeit im unaussprechbar Unerreichbaren, in einem unerahnbar neuen Gedächtnis von sehr großer Reinheit und Keuschheit, und das, was sein Lauschen vernahm, war in dem sehnsüchtigen Fluten enthalten, stammte aus der äußersten Finsternis und klang zugleich in seinem innersten Ohre auf, in seinem innersten Herzen, in seiner innersten Seele, wortlos in ihm, wortlos um ihn, die heischende und zerknirschende stillgroße Gewalt verdoppelt raunenden Ur-Grundes, ihn haltend und ihn erfüllend, je tiefer er ihr lauschte, allein es war sehr bald auch kein Raunen und kein Flüstern mehr, sondern weit eher ein ungeheures Dröhnen, freilich eines, das durch so viele Schichten des Erlebens und Nicht-mehr-Erlebens und Noch-nicht-Erlebens, durch so viele Schichten der Erinnerung und der Unerinnerung, durch so viele Schichten der Finsternis herbeigetragen wurde, daß es nicht einmal Flüsterstärke erreichte, nein, es war kein Flüstern, nein, es war der Zusammenklang unzähliger Stimmen, mehr noch, es war der Zusammenklang aller Stimmherden, aufklingend aus allen Räumen und Unräumen der Zeit, singend und erzen und dröhnend vor Geborgenheit und Verborgenheit, furchtbar vor Milde, tröstlich vor Trauer, uner reichbar vor Sehnsucht, unerbittlich, unwiderlegbar, unabänderlich trotz der großen Entfernung, befehlender und befehlender werdend, verlockender und verlockender singend, je kleiner sein Ich herab sich demütigte, je mehr es seinen Widerstand aufgab, je mehr es dem Klang sich öffnete, je mehr es daran verzweifelte die Stimmengröße wahrhaft zu erfassen, je mehr sein Wissen um die eigene Unwürdigkeit wuchs; also bezwungen von der ehernen Übermacht, bezwungen von ihrer Sanftheit, bezwungen zur Unterwerfung und zum Verlangen nach Unterwerfung, bezwungen zur Angst um das Werk, das ihm entrissen werden sollte, bezwungen zu dem Wunsche nach dem Urteilsspruch, der solches befehlen wird, bezwungen zur Angst wie zur Hoffnung, bezwungen zur Auslöschung und Selbstauslöschung um des Lebens willen, eingekerkert und befreit in der Größe seiner Kleinheit, wissend-unwissend unter der Gewalt der unformbar ersehnten Stimmenallheit, vermochte er endlich das Längstgewußte, Längsterlittene, Längstvernommene zu erhaschen, und es entrang sich ihm wie ein winziger, unzulänglicher, niemals ausreichender Ausdruck für das äonengroß Unausdrückbare, entrang sich ihm in einem Atemzug, in einem Seufzer, in einem Schrei: „Die Äneis verbrennen!“

 

Hatten sich Worte in seinem Munde geformt? er wußte es kaum, er wußte es nicht und war trotzdem nicht erstaunt, als ein Widerhall kam, fast eine Antwort: „Du riefst?!“, so tönte es zart und vertraut, fast heimatlich aus einem Nirgendwo, unerahnbar nahe oder unerahnbar fern. Der Klang schwebte im Ununterscheidbaren, wenn auch nicht im Unendlichen, wenn auch nicht im ersehnten Raume der Stimmen-Allheit, ja für einen Augenblick meinte er Plotia, meinte er die schwebende Dunkelheit ihrer Stimme zu hören, als hätte er sie in der wiederbefriedeten, wiederbetauten, wiederversammelten Nacht erwarten dürfen und sogar erwarten müssen, allerdings, um mit womöglich noch größerer Selbstverständlichkeit und im nächsten Augenblick schon zu erkennen, daß es die Stimme des Knaben gewesen war, und die unverwunderte Selbstverständlichkeit, mit der er dessen Wiederkehr hinnahm, trug ihn so ruhigen Flusses zwischen den irdischen Ufern dahin, unbekümmert geradezu, unbekümmert um Freude oder Enttäuschung, trug ihn in so leichter Irdischkeit, daß er sehr besorgt wurde, er könnte durch ein Hinschauen oder eine Kopfwendung dieses Fließen unterbrechen; geschlossenen Auges lag er, und er rührte sich nicht. Und er wußte auch nicht, wie lange dies so währte. Aber dann war es ihm, als formten sich wieder Worte in seinem Mund und als sagte er: „Warum bist du zurückgekommen? ich will dich nicht mehr hören.“ Wiederum wußte er nicht, ob er es laut ausgesprochen hatte, und er wußte auch nicht, ob der Knabe sich wirklich im Zimmer befand, ob eine Antwort zu erwarten war oder nicht; es war ein schwebendes Warten, fast als würde irgendwo eine Leier gestimmt, ehe das Lied aufklingt, und wiederum klang es ganz nahe, unverwunderlich nahe, trotzdem ganz ferne, gleichsam vom Meere her, mondverweht und ganz leise glitzernd: „Stoße mich nicht fort.“ „Doch“, erwiderte er, „du verstellst mir den Weg, ich will die andere Stimme hören, du bist nur eine Scheinstimme, ich muß zu der andern hinfinden.“ – „Ich war dein Weg, ich bin dein Weg“, sagte es hierauf, „ich bin das Mitklingen, das zu dir gehört, von Anfang an und über jeden Tod hinaus, für ewiglich.“ Das war wie Versuchung, war voll süßer Verlockung, war voller Einfachheit und voller Traum, ein Traumrufen, auf daß er sich noch einmal zurückwende, Echo aus dem Kinderland. Und die leise, fernnah heimatliche, leidenentlösende Knabenstimme fuhr fort: „Ewig ist der Widerhall deines Gedichtes.“ Da sagte er: „Nein, ich will den Widerhall meiner Stimme nicht mehr hören; ich erwarte die Stimme, die außerhalb der meinen ist.“ „ Du kannst das Mitklingen der Herzen nicht mehr zum Schweigen bringen; ihr Widerhall ist bei dir, unabänderlich wie dein Schatten.“ Es war Versuchung, und ihm war befohlen, sie abzulehnen: „Ich will nicht mehr ich sein; ich will in der tiefsten Schattenlosigkeit meines Herzens und in seiner tiefsten Einsamkeit verschwinden, und dahin muß mein Gedicht mir vorausgehen.“ Es erfolgte keine Antwort, es wehte wie Traum aus dem Unsichtbaren, traumeslang, traumeskurz, und schließlich hörte er: „Hoffnung will Mithoffnung, und selbst die Einsamkeit deines Herzens ist die einstige Hoffnung deines Anfanges.“ – „Mag sein“, gab er zu, „doch es ist Hoffnung auf die Stimme, welche mir Beistand sein wird in der Einsamkeit meines Sterbens ; wird sie mir versagt, so bin ich ohne Zuspruch, für immer ohne Trost.“ Wieder dauerte es unbestimmt lange, bis die Entgegnung kam: „Niemals mehr kannst du einsam sein, nie und nimmermehr, denn was aus dir geklungen hat, war größer als du selber, ist größer als deine Einsamkeit, und du kannst es auch nicht mehr vernichten; oh, Vergil, in dem Gesang deiner Einsamkeit sind alle Stimmen, sind alle Welten, sie sind bei dir samt ihrem Widerklang, und sie haben für immerdar deine Einsamkeit durchbrochen, für immerdar mit allem Künftigen verwoben, da deine Stimme, Vergil, von Anbeginn die Stimme des Gottes war.“ Ach, so war es einstmals vorgeträumt gewesen, in einem Irgendwann, das im Vergangenheitslosen lag, es war Rückwendung zu einer Vorverheißung, die er sich einstmals selber gestellt hatte und die nunmehr wie Erfüllung war, leidenentlösend und hoffnungsfroh in ihrer Selbstverständlichkeit, nichtsdestoweniger trügerische Hoffnung, die spielerische Hoffnung eines Knaben, eines Kindes, die sich in Selbsttäuschung verflüchtigt. Und unvermittelt fragte er: „Wer bist du? wie heißt du?“ – „Ich bin Lysanias“, antwortete es, diesmal unverkennbar nähergerückt und aus genauerer Richtung, etwa von dorther, wo sich die Eingangstüre befinden mußte. „Lysanias?“, wiederholte er, als hätte er nicht recht verstanden und als hätte er eigentlich einen andern Namen erwartet, „Lysanias ...“, und regungslos daliegend, den Namen vor sich hin murmelnd, war er bei aller Selbstverständlichkeit des Geschehens nun doch verwundert, nicht nur über die sonderbare Unstimmigkeit des Namens, sondern auch darüber, daß er nach dem Namen gefragt hatte: war er nicht einstmals gewillt gewesen, den kleinen Nachtgefährten in der schwebenden Namenlosigkeit zu belassen, aus der er zu ihm gekommen war? hatte er ihn nicht darum in die Namenlosigkeit zurückgeschickt? Und verwundert fragte er weiter: „Ich habe dich doch fortgeschickt... warum bist du nicht gegangen?“ – „Ich bin ja auch gegangen“, klang es zurück, nunmehr völlig nahe und mit der vertraut heitern, ein bißchen dörfischen Knabenstimme, hinter deren Bescheidenheit drollig eine kleine Bauernschlauheit sich versteckte, hinterhältig eine nächste Frage abwartend. Ohne sich dessen bewußt zu werden, ging er darauf ein: „So, du bist gegangen ... bist aber trotzdem hier.“ – „Du hast mir nicht verboten, vor deiner Türe zu warten ... und jetzt hast du gerufen.“ Das war wahr und doch nicht ganz wahr, Lüge schimmerte hindurch, wenn auch nur kleine und kindliche Lüge, dennoch wie ein Widerhall der großen, von der sein eigenes Leben durchzogen gewesen war, Echo jener schlauen und mehr als schlauen Scheinwahrheit, die sich ans Wort hält und der wirklichen Wirklichkeit niemals gerecht wird, Scheinwahrheit, seit jeher geübt, ach, schon von dem Kinde, da es von der Übertölpelung des Todes zu träumen begonnen hatte; Wahrheit und Lüge, Rufen und Nicht-Rufen, Nähe und Ferne verflossen ineinander, sie verflossen ineinander, wie sie es seit jeher getan hatten; sehr unverständlich wurde es, daß der Knabe hinter der Türe gewacht haben sollte, während gleichzeitig, ja wie für alle Ewigkeit bestimmt, Entsetzenumwittertes auf der Gasse unter dem Fenster sich zugetragen hatte, die Unholde dort dahingetorkelt waren; ach, unverständlich war es, unverständlich blieb es, unbegreiflich als eine Gleichzeitigkeit, welche stattgehabt hatte und trotzdem weiter andauerte, als eine zweite Wirklichkeit ohne Ablauf, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, und eben damit auch in die neugewonnene Irdischkeit hineinreichend, fast als eine Scheinwirklichkeit unter falschem Namen, bar des Jenseitsgewinnes, der allem Verluste innewohnt; und das Bangen vor solcher Rätselhaftigkeit des Schicksalsablaufes, das Bangen vor dem Lachen, das schicksalszersprengend dort erschollen war, das Bangen vor dem Namenlosen und vor der Nötigung nach dem Namen zu fragen, der stets aufs neue sich als zufälliger und unrichtiger erweisen muß, oh, das Bangen vor dem Rätsel des Wiedererkennens, es wurde zur Abwehr der Gleichzeitigkeit, wurde zur Flucht vor dem Gewesenen und Stattgehabten, wurde zur Flucht in die Eindeutigkeit des Jetzt, zur Flucht ins körperlich Unmittelbare, da er die Augen aufschlug; drüben im Fenstergewände lagen noch die Streifen des abgewanderten Mondlichtes, schattenumwandet war der Raum geschlossen, und wenn es auch noch immer nicht ratsam schien, die Regungslosigkeit zu stören und den Kopf zu wenden, so war es doch sicher, daß dort vor den verschatteten Umrissen der Türe – sandte man blinzelnd den schrägen Blick hin – sich zart und kaum wahrnehmbar die Gestalt des Jungen abzeichnete; all dies war schwebende, seltsam schwebende, seltsam leichtgewordene irdische Gegenwart, enthoben jeglicher Gleichzeitigkeit, vergangenheitsenthoben, zukunftsent hoben im Hier und Jetzt, namenlose Irdischkeit ohne Namen: bis hierher hatte der Knabe ihn geführt –, wollte er ihn nun etwa zurückführen, da er ungerufen sich wiedergemeldet hatte, ungerufen und unter seltsam fremdem Namen? die Führung im Irdischen war zu Ende, im zukunftslos Irdischen bedurfte es keiner Führung mehr, und gab es noch führenden Beistand, so war es nicht mehr des Knaben Amt, ihm solchen zu spenden, denn nur die gerufene Hilfe ist wirksam, und wer die Hilfe nicht zu nennen vermag, dem kann sie auch nicht gewährt werden. Und als die Knabengestalt sich von der Schattentüre abzulösen begann, wehrte er, wie zur Bekräftigung, nochmals ab: „Ich habe nicht nach deiner Hilfe gerufen ... du irrst, ich habe nicht gerufen ...“, und leiser setzte er hinzu, „Lysanias.“ Der Angesprochene, uneingeschüchtert von der Abwehr, war aus dem Hintergrundsdunkel in den stillen Lichtkreis des Öllämpchens getreten; auf die Nennung seines Namens hin öffnete sich das traumdämmernde Jungengesicht zu einem hell unbefangenen, zutraulichen Lächeln: „Hilfe dir? Hilfe dem Helfenden? Du gibst Hilfe, selbst wenn du Hilfe verlangtest... lasse mich doch nur den Wein dir mischen“; und er hantierte bereits am Anrichtetisch. Was wußte der Knabe von Hilfe? was wußte er von der Hilfsunfähigkeit eines ganzen Lebens? was wußte er von der Grauensernüchterung des Hilfelosen, der die Hilfe nicht einmal zu nennen vermag, so daß sie ihm für immer versagt ist? oder wußte er um den hilfsunwilligen Meineid und um die Sühne der Auslöschung? oder wollte er eben doch zu neuer Umwendung auffordern, unentrinnbar die schicksalsbestimmte Scheinumwendung zum Rausche? fast ward es Wiederkehr des Entsetzens, und ungeachtet seines fiebrigen Durstes verneinte er mit jäher und erschreckter Gebärde: „Keinen Wein, nein, nein, keinen Wein!“ Seltsam wiederum und eigentlich wiederum überraschend war daraufhin die Erwiderung des Knaben; zwar hatte er, von der Ablehnung flüchtig getroffen, den Mischkrug sinken lassen, allein er nahm ihn sofort wieder auf und, zwischen den Händen ihn wägend, meinte er mit zu frieden beruhigter, seltsam beruhigender Miene: „Für das Trankopfer bleibt noch immer mehr als genug darin.“ Oh, für das Opfer! nun hatte er es ausgesprochen! ja, um das Opfer war es gegangen, um das Opfer ging es! es ging um die Wiederherstellung der Opfereinheit, um die Wiederherstellung der Sinnbildhaftigkeit, in der die Einheit sich spiegelt, es ging um die Wiederüberwindung des Opferrausches, des Blutrausches, des Weinrausches, es ging um das Weltenopfer der eigenen Selbstauslöschung, um die schöpferische Auslöschung des Gewesenen und Geschaffenen, in der er, Opfernder und Opfergabe zugleich, Vater und Kind zugleich, Mensch und Werk zugleich, selber zum Gebet werden soll, eingekehrt in die vollkommene Wachsamkeit des Vaters und in die vollkommene Kleinheit des Kindes, helfend vor Hilfeverlangen, schattenumwoben und selber dem Schatten verwoben in vollkommener Ausgelöschtheit, auf daß im irdischen Zusammenschluß des Bilderkreises, auf daß im letzten Aufrauschen der Dunkelheitstiefe, verdoppelt aufsteigend in der tierisch-pflanzlichen Kreatur, das Blut im Weine, der Wein im Blute gespiegelt, das äonenfern Unerahnbare sich echogleich lichtklingend dem Erschaubaren entlöse: es ging um die Wiederreinigung des Opfers, und würde er, dem solches auferlegt worden war, würde er versuchen, die keusche Handlung hier in dem furienverseuchten Zimmer zu vollziehen, ja würde er, dem Gräßlichen kaum noch entronnen, hierauch nur einen einzigen Tropfen des Weines berühren, es würde sich dieser gräßlich zu noch gräßlicherem Blute rückverwandeln, unrein bliebe das Opfer, und die Vernichtung des Werkes wäre nichts als eine sinnlos-bedeutungslose Manuskriptverbrennung; nein, keusch mußte der Opferplatz sein, keusch die Opfergabe, keusch der Opfernde, Keuschheit in Keuschheit beschlossen, und spendend den lauteren Wein, opfernd in salziger Flut unter den Strahlen des aufgehenden Tagesgestirnes, perlmuttern auf zitternd die Schale frühmorgendlichen Himmels, so sollte es geschehen am Meeresstrande, verzehrt das Gedicht in der bebenden Flamme und doch, war solches Vorhaben nicht verruchtes Wiederaufleben jenes glatten Schönheitsspieles mit Worten und Geschehnissen, das schicksalhaft den Eidbruch des Lebens bestimmt hatte? war die Anordnung von Meeresstrand und Morgendämmerung und Opferflamme nicht eben jenes schlafwandlerische Spiel, in dessen blut- und mordgeschwängerter Unkeuschheit sich die Welt bewegt, sobald sie sich der Schönheit hin gibt? war es nicht das starr-mordende Scheinopfer, das darin wieder auferstand, befohlen von den Göttern, sie selber hiezu befohlen, unentrinnbar das Scheinleben in besungener Scheinwirklichkeit, unentrinnbar das scheinwirkliche Zwischenreich der Dichtung? Nein und abernein, ohne Opferanordnungen, ohne Weinausgießung, ohne Schönheitsriten hatte es unverzüglich zu geschehen; er hatte keinen Augenblick zu verlieren, er durfte den Sonnenaufgang unter keinen Umständen abwarten, nein, jetzt mußte er es tun, und mit einer verzweifelten Anstrengung setzte er sich auf: unverzüglich wollte er ins Freie, irgendwohin, wo ein Feuer brannte, er wollte die Last der Manuskriptrollen hinschaffen, vielleicht würde ihm der Knabe dabei helfen, und irgendwo in der Sternennacht sollten des Gedichtes Worte zur Asche werden; die Sonne sollte die Äneis nicht mehr sehen. Dies war sein Auftrag. Er hielt die Augen auf den Manuskriptkoffer geheftet – indes: was war mit dem Koffer geschehen? als wäre er plötzlich in ganz weite Entfernung gerückt, war er zwergig klein geworden, ein Zwergenkoffer, verloren im zwergig gewordenen Hausrat, und obwohl bei alldem das Stück sich nach wie vor auf gleicher Stelle befand, man konnte nicht hingelangen, konnte nicht hinübergreifen. Und außerdem stand der Knabe dazwischen, uneingeschrumpft inmitten all der Einschrumpfung; in seinen Händen die gefüllte Trinkschale. Der sagte nun: „Nimm einen Schluck, nur als Schlaftrunk nimm ihn.“ Es war mit all der eifrigen Besorgnis gesagt, die ein unversehens ins Verantwortungsvolle gewachsener Sohn seinem Vater gegenüber hegen mag, freilich auch ein wenig kindisch, ja rührend kindisch, da Verantwortungswille und Verantwortungsfähigkeit nicht übereinstimmten und daher eine kleine, in ihrer Geringschätzigkeit geradezu spaßhafte Überheblichkeit ergaben: ein Schlaftrunk wurde ihm angetragen, als ginge es nicht darum, die Erwachensangst, die des Gottes wie die des Menschen, noch einmal zu besiegen, als wäre nicht die Wachheit jetzt das Notwendigste und Dringlichste, um die Schöpfung noch einmal aufzunehmen! Oder war die Geringschätzung etwa gar berechtigt? war das Einschrumpfen der Äneis zur Zwergenhaftigkeit, war das Einschrumpfen ringsum, das die Gestalt des Knaben unberührt ließ, nicht etwa gar ein Zeichen für sein Recht zur Überheblichkeit? war seine Geringschätzung nicht das Zeichen einer höheren, die aus dem Jenseitigen stammt, einer Geringschätzung, welche anzeigen soll, daß das Opfer überhaupt nicht angenommen werden könne? daß man ihn ein für allemal als unwürdig erklärt hat, priesterväterliches Opferamt anzutreten? mußte er also in seinen Traum eingeschlossen bleiben – verwehrt der Abstieg, verwehrt die Wiederkehr, verriegelt die elfenbeinerne und erst recht die hörnerne Pforte? Und trotzdem! trotzdem gab es noch Hoffnung, oh, trotzdem konnte selbst er noch, er, der Verirrte, zu jener keuschen Begnadung hingeführt werden! Gewiß, unabgebüßt war die Verderbnis geblieben, ungeachtet aller Pein, aber die Vorhölle des Scheintodes hatte ihn entlassen, und vielleicht sollte der Knabe, erwachsen geworden, nun zum richtigen Führer werden, vielleicht war es dieser richtige Führer, der ihn, den Siechen und Schwachen, durch die Gnadenpforte tragen sollte! Oh, wie ein leuchtendes Strahlengefäß wurde die Trinkschale von dem Knaben emporgehalten, und nach ihr streckte er die Hand aus. Allein ehe er noch das Leuchtende ergreifen konnte, war alle Erwachsenheit von der Knabengestalt gewichen; entweder hatte das Eingeschrumpfte ringsum zur früheren Größenordnung zurückgefunden, oder das war nicht ohne weiteres ausfindbar – es hatte der Knabe sich nun seinerseits ins Zwergige verkleinert: sollte also die Knabengestalt wirklich nicht wachsen dürfen? drohte ihr wirklich das Zwergige? Hilflos und führerlos und allein war er gelassen worden, auf daß er bis zum Schluß allein die Entscheidungspflicht trage, und er durfte den Trunk nicht annehmen: „Ein Schlaftrunk? nein ... ich habe genug geschlafen, allzulange; es ist Zeit zum Aufbruch, hohe Zeit aufzustehen ...“ Mühselig und irdisch war es da wieder; der Knabe wollte nicht nochmals wachsen, wollte ihm keine Hilfe leisten, wollte ihn nicht stützen, weder beim Aufbruch noch beim Opfer, geschweige noch weiter – oh Enttäuschung, oh Angst, oh Bitte um Hilfe! Aber es konnte nur zu einem Zurücksinken in die Kissen werden, zu einem enttäuscht-müden, atemberaubten, stimmlosen Flüstern: „Kein Schlaf mehr.“ Doch nun kam, hilfegleich, zum dritten Male eine überraschende Antwort: „Niemand hat so viel gewacht wie du, mein Vater; ruhe nun. Die Ruhe gebührt dir, mein Vater, oh wache nicht mehr.“ Leise schlossen sich die Lider unter der Vateranrede, die wie ein Geschenk war, wie ein Lohn für Ausgelöschtheit, Gnadenlohn für eine Wachsamkeit, die gültig geworden, gültig erst jetzt, seit dem ihre Bereitschaft sich zur rückhaltlosen Zerknirschungsbereitschaft, und das wachsame Dienen am Vergangenen und Zukünftigen sich zum Ungeschehen einer freien Demut, zum Gewährenlassen des Jetzt gewandelt hatte: es war der Gnadenlohn steten Neubeginns, der Gnadenlohn, der unendlich wie Sühne vor aller Geburt und jenseits allen Tuns liegt. Denn Opfer und Begnadung sind eines, sie folgen nicht aufeinander, sondern gehen auseinander hervor, und nur derjenige ist würdig Vater genannt zu werden, der begnadet ist hinabzusteigen in den Schattenabgrund, damit er, selber zum Opfer gebracht, die Priesterweihe seines opfernden Amtes empfange, damit er ein gegliedert werde in die erhaben unendliche Reihe der Väter, die zu der erhabenen Unzugänglichkeit des Anfangs führt und hier von dem schattenumschart thronenden Ur-Ahn, machtvoll vor Auslöschung, unablässig die Kraft unendlichen Neubeginns erhält, den Segen des menschlichen Seins für immer, segenspendend der Ur-Ahn, der Städtegründer jenseits der Erstarrung, der Namengeber, der das Gesetz gehoben hat, enthoben jeglichem Anfang und jeglichem Ende, enthoben der Geburt, ewig enthoben dem Ablauf. War er wirklich ausersehen, vor das erhabene Antlitz zu treten? konnte ein Knabe, konnte dieser Knabe wirklich die Pforte entriegeln? Als wäre es ein und dasselbe, war der Zweifel an sich selbst sehr sonderbar mit dem an des Knaben Berufung verknüpft, es war ein sonderbar zeitenentbundener Zweifel, und Frage war der Blick, mit dem er aufs neue die jungen Züge durchforschte, Frage war es, als er, auf die bittende Gebärde hin, sich die Schale reichen ließ und trank: „Wer bist du?“ fragte er aufs neue, nachdem er abgesetzt hatte, und die Beharrlichkeit, mit der es in ihm und aus ihm fragte, erstaunte ihn desgleichen aufs neue: „Wer bist du? ich bin dir schon begegnet... es ist lange her.“ – „Gib mir den Namen, den du weißt“, entgegnete es. Betroffen sann er nach, und er wußte bloß, daß sich der Knabe selber Lysanias genannt hatte, ja dies wußte er gerade noch, und es verdämmerte; es verdämmerte und verdämmerte, er fand den Namen nicht mehr, er fand keinen Namen, nicht einmal den, mit dem einstens seine Mutter ihn gerufen hatte. Und doch war es, als hätte die Mutter ihn eben jetzt gerufen, als riefe sie eben aus diesem entschwindend Unauffindbaren, als riefe sie ihn, daß er in eine Namenlosigkeit einkehre, die im Mütterlichen und jenseits alles Mütterlichen beheimatet ist. Ach, namenlos ist der Mutter das Kind, und immerzu trachtet sie das Kind vor dem Namen zu schützen, nicht nur vor dem falschen, dem unheilbringenden Zufallsnamen, sondern auch, und vielleicht noch mehr, vor dem richtigen, der zufallsenthoben in der unendlichen Ahnenreihe aufbewahrt wird, denn dieser Name, gehoben nur von dem, der selber namenlos hinabgestiegen ist, um in der Wurzelsphäre aller Wesenheit mit der Weihe väterlicher Priesterschaft ausgestattet zu werden, der Name ist im Opfer einbeschlossen und schließt das Opfer in sich ein: aber die Mutter, verhaftet dem Schöpfungsopfer der Geburt, das sie ist, schrickt vor dem Opfer der Wiedergeburt zurück, sie scheut es für das Kind, das sie geboren hat, sie scheut die nochmalige Schöpfung, sie scheut das Unbewältigte, Unbewältigbare, das Unerreichbare, das in der unnahbar abgründigen Wahrheitshelle eines Namens erahnt werden könnte, sie scheut die Wiedergeburt im Namen wie etwas Unkeusches, und sie will das Kind lieber im Namenlosen wissen. Namenlos wird das Sein, namenlos wird es, wo die Mutter ruft, und durchzittert von der Namenlosigkeit solchen Vor-Erwachens, aufatmend in der namenlosen Umhegung, sagte er: „Ich weiß keinen Namen.“ – „Du, mein Vater, du weißt sie alle, du gabst den Dingen ihre Namen; sie sind in deinem Gedicht.“ Namen und Namen, die Namen der Menschen, die Namen der Gefilde, die Namen der Landschaften, der Städte und alles Geschaffenen, Heimatnamen, Trostnamen in der Bedrängnis, die Namen der Dinge, geschaffen mit den Dingen, geschaffen vor den Göttern, jene mit der Heiligkeit des Wortes immer wieder auferstehenden Namen, immer wieder gefunden von dem wahrhaft Wachenden, dem Erwecker und göttlichen Gründer! nimmermehr darf der Dichter solche Würde in Anspruch nehmen, ja mehr noch, selbst wenn es letzter, eigentlichster Auftrag der Dichtung wäre, die Namen der Dinge zu heben, ja, selbst wenn es ihr im Aufklang ihrer größten Augenblicke gelungen wäre, einen Blick in das Niemals-Erstarrende der Sprache zu werfen, unter deren Tiefenlicht unberührt und keusch das Wort der Dinge schwebt, die Keuschheit der Namen auf dem Grunde der Dingwelt, sie vermag im Gedicht wohl die Schöpfung im Worte zu verdoppeln, hingegen vermag sie nicht das Verdoppelte wieder zur Einheit zusammenzufassen, sie vermag es nicht, weil die Scheinumkehrung, weil die Ahnung, weil die Schönheit, weil all dies, was sie als Dichtung bestimmt und sie zur Dichtung macht, ausschließlich in der Weltverdopplung statthat, es bleiben Sprachwelt und Dingwelt getrennt, zwiefach die Heimat des Wortes, zwiefach die Heimat des Menschen, zwiefach der Abgrund der Wesenheit, zwiefach aber auch die Keuschheit des Seins und damit verdoppelt zur Unkeuschheit, die gleich einer Wiedergeburt ohne Geburt alle Ahnung wie alle Schönheit durchtränkt und den Keim der Weltenzersprengung in sich trägt, die Ur-Unkeuschheit des Seins, welche von der Mutter gefürchtet wird; unkeusch ist der Mantel der Dichtung, und nimmermehr wird Dichtung zur Gründung, nimmermehr erwacht Dichtung aus ihrem ahnenden Spiel, nimmermehr wird Gedicht zum Gebet, zu dem opfergültigen Wahrheitsgebet, das dem echten Namen der Dinge so sehr innewohnt, daß für den Betenden eingeschlossen vom Opferwort, sich die Weltverdopplung wieder schließt, daß für ihn und nur für ihn Ding und Wort wieder zur Einheit gelangen –, oh, Keuschheit des Gebetes, unerreichbar der Dichtung, und doch, oh doch ihr erreichbar, soferne sie selber geopfert, soferne sie überwunden und vernichtet wird. Und wieder entrang es sich ihm in einem Seufzer, in einem Schrei:„Die Äneis verbrennen !“ – „Mein Vater!“ Das tiefe Erschrecken, das aus dem Rufe herausklang, empfand er, wohl mit Recht, als Ablehnung seines Vorhabens; unmutig erwiderte er: „Nenne mich nicht Vater; es wacht der Augustus, er wacht über Rom, ihn nenne Vater, nicht mich ... nicht mich ... der Dichter gehört nicht zu den Wachenden.“ – „Du bist Rom.“ – „Das träumt jeder Knabe, vielleicht habe auch ich einmal so geträumt ... aber ich habe bloß die Namen verwendet, die römischen Namen.“ Der Knabe schwieg; dann allerdings tat er etwas Unerwartetes: mit der etwas tolpatschigen Geschicklichkeit eines Bauernjungen schwang er sich, als wäre es Ulmengezweige, an einem Ast des Kandelabers empor, brach einen der erloschenen Kerzenstumpen ab und entzündete ihn an dem Flämmchen der Öllampe –, was wollte er damit? doch ehe sich noch eine Erklärung finden ließ, hatte der Junge den Stumpen mit dem abtropfenden Wachs an einem Teller befestigt, und nun kniete er vor dem Koffer: „Magst du das Gedicht haben? ich will es dir reichen...“ War es nicht der Knabe Vergil, der dort kniete? oder der kleine Bruder Flaccus ? so hatten sie oft miteinander auf dem Boden gekniet, manchmal im Garten unter der Ulme, manchmal vor einer Spielzeugschachtel –, wer war der Knabe? nun schlugen die Kofferriemen hart zurück, der Lederdeckel sprang mit leisweichem Luftlaut auf, eine Hauchwolke von Papier und Lederduft, eine Hauchwolke längstgeschehenen, weichkratzenden Schreibgeräusches drang blaßheimatlich aus dem aufgeklappten Gehäuse, in dessen Innern, sauber eingeordnet, die Enden der Manuskriptrollen sichtbar wurden, Rolle an Rolle, Gesang an Gesang sauber aneinandergereiht, der vertraute, verführerisch-beruhigende Anblick der Arbeit. Vorsichtig hob der Knabe einige der Stücke heraus und legte sie auf das Bett: „Lies sie“, bat er und schob den Teller mit der Kerze näher, um ihm besseres Licht zu bieten. War er nicht doch im Vaterhause? war es nicht doch der kleine Bruder? warum lebte dann die Mutter nicht mehr, wenn der Flaccus lebte? warum hatte sie dem Kleinen aus Kränkung in den Tod nachfolgen müssen? war es nicht die nämliche Kerze, die damals auf dem Tische in dem verschatteten Zimmer geleuchtet hatte, während draußen, von den Alpen besäumt die weichen mantuanischen Felder lagen und grau der langsame Herbstregen in die Abenddunkelheit fiel? Er sollte lesen –, ach, lesen! war dies noch möglich? war er dazu überhaupt noch imstande? hatte er je lesen, ja auch nur buchstabieren gelernt? zögernd, beinahe ängstlich öffnete er eine der Rollen, zögernd, beinahe ängstlich glättete er das aufgerollte Ende, schüchtern befühlte er das Papier, schüchterner noch die trockenen Schriftzüge, und mit all der Scheu, die einer unantastbaren Opfergabe gilt, ließ er den Finger darüber hingleiten, aber es war beinahe schlechtes Gewissen, weil es wie Wiedererkennen war, ein kleines Wiedererkennen des Handwerks und der einstigen Handwerkslust, darüber hinaus aber ein großes, ein nicht mehr eingestehbares Wiedererkennen, das hinter jedes Erinnern und jedes Vergessen zurückgriff, dorthin, wo es kein Erlernen mehr gab, keine Ausführung mehr, nur noch Planung, Hoffnung und Wunsch; nicht sein Auge las, nur seine Fingerspitzen lasen, sie lasen buchstabenlos, wortlos eine wortlose Sprache, sie lasen das sprachlose Gedicht hinter dem Wortgedicht, und was er las, bestand nicht mehr aus Zeilen, sondern war unendlich ungeheurer Raum von unendlich vielen Richtungen, in dem die Sätze nicht aufeinander folgten, sondern in unendlicher Verkreuzung einander überdeckten und nicht mehr Sätze, sondern Dome der Unausdrückbarkeit waren, der Dom des Lebens, der Schöpfungsdom der Welt, geplant im Vorgewußten: Unausdrückbares las er, unausdrückbare Landschaft und unausdrückbares Geschehen, die entschöpflichte Welt des Schicksals, in der die Schöpfungswelt gleich einem Zufall eingebettet liegt, und wo immer diese geschaffene Welt, die er hatte nachschaffen wollen, hatte nachschaffen müssen, sich nun hier zeigte und zum Ausdruck entwickelte, an all den Stellen, an denen die Satzwellen und Satzkreise sich überschnitten, da zeigte sich kriegfordernd Zwietracht und Blutopfer, da zeigte sich der unlebendige, der erstarrte Krieg, geführt von Menschen, welche Tote waren, da zeigte sich die Götterfehde im Entgöttlichten, da zeigte sich das namenlose Morden im Namenlosen, vollzogen von Schemen, die bloße Namen sind, voll zogen im Auftrag des Schicksals, das die Götter im Bann hält, vollzogen in der Sprache, durch die Sprache, im Auftrag der unendlichsten Sprache, in deren götterbeherrschender Unausdrückbarkeit ewiglich das Schicksal anhebt und sich beschließt. Ihn schauderte. Und obwohl er nicht mit den Augen gelesen hatte, wandte er den Blick von dem Blatte ab wie einer, der nicht mehr weiterlesen will: „Die Sprache vernichten, die Namen vernichten, damit wieder Gnade sei“, kam es flüsternd von seinen Lippen, „so hat es die Mutter gewollt... schicksalslos die Gnade ohne Sprache ...“ – „Die Götter haben dir die Namen geschenkt, und du gabst sie ihnen zurück ... lies das Gedicht, lies die Namen, lies sie ...“ Da mußte er über die Dringlichkeit der nochmaligen Aufforderung beinahe lachen; ja, es belustigte ihn, daß der Knabe nicht begriff, was gemeint war, und vielleicht nicht einmal begreifen durfte, worum es ging: „Lesen? gehört dies auch zu dem Schlaftrunk, kleiner Mundschenk?... nein, wir haben keine Zeit; laß uns aufbrechen, komm und hilf mir ...“ Doch der Knabe – und auch dies war seltsam richtig – machte keinerlei Anstalten ihm aufzuhelfen, und da er es nicht tat, wurde gleichzeitig sehr klar, daß er gar nicht die Berechtigung besaß es zu tun: mochte auch die Zeit stillhalten, mochte auch der Kreis sich runden und das Erflammen mit dem Erlöschen zu Einem werden, mochte auch die mutterumhegte Unterworfenheit des Kindes ununterscheidbar sein von der Unterwerfung in Demut, mochte auch alles Vollendete ewiglich Planung bleiben, ja mochte er sogar niemals, o niemals, sprechen gelernt haben, es reichen Führung und Hilfe nicht über die erste Runde des Kreises hinaus; es war die Stimme des Knaben zum Echo geworden, das wohl noch antwortet, aber als bloßes Echo nichts mehr begreift, ein Vor-Echo, das aus einem Vor-Erwachen stammt, und sie war vorleuchtender Spiegel für die endgültig große, unsäglich erwartete Auslöschung, sie war Vor-Verkündigung für eine Stimme, die das Wort im Wortlosen sein wird, vereinigt das Noch-nicht-Gesagte mit dem Nichtmehr-Gesagten im Unausdrückbaren, das im Abgrund aller Sprachräume leuchtet. Unerlernbar war die Sprache, unerlesbar, unerlauschbar. „Nimm die Rollen fort“, befahl er, und diesmal gehorchte der Knabe, wenn auch nicht sehr willig, vielmehr mit kindisch enttäuschtem Trotz und einer kleinen Hinterhältigkeit, die ihn die Manuskripte auf den Tisch statt in den Koffer legen ließ. Auch dies war ein wenig belustigend. Und da er nochmals, als wäre es ein letztes Mal, die Züge des Knaben betrachtete, die hellen Augen darin, die sich nunmehr verfinstert hatten, obwohl sie noch immer erwartungsvoll blickten, da war ihm unversehens das vertraute Gesicht merkwürdig fremd geworden, und mit leiser Nachgiebigkeit, gleichsam zum Abschied, sagte er noch einmal: „Lysanias.“ Es war ohne Ungeduld. Spinnwebartig knisternd flackerte das Kerzenlicht auf dem Tische, Echolicht und Vor-Echo eines jenseitig-künftigen leuchtenden Dröhnens, das unter den Sternen wartete, das Opfer erwartend, die Flamme der Auslöschung erwartend, aber schattenhaft weich murmelte hier das Rieseln des Wandbrunnens. Und halb über den Tisch gebeugt, halb stehend und solcherart halb lesend, halb aus freiem Gedächtnis, erst schüchtern dann lauter werdend, die kleine Faust taktierend auf der Tischplatte, begann der Knabe – war es eine letzte Verlockung? – die Verse herzusagen, die Verse der römischen Namen, und die Verse glitten in die Nacht und in das nächtlich murmelnde Wasserrieseln:

 

„Alles um ihn herum verlockte den Geist und die Blicke,

Schwer von Vergang'nem die Gegend und trächtig von Taten der Vorzeit.

Und so lauschte Äneas den stumm sich eröffnenden Sagen,

Lauschte dem Fürsten Euander, dem Gründer der römischen Veste.

Faune und Nymphen – so kündete jener – bewohnten das Land hier,

Freilich daneben auch menschliches Waldvolk, baummarkgeboren

Zufallsgefüttert von Waldfrucht und ungeordnetem Jagdtrieb,

Knorrig wie Eiche, ein wildes Geschlecht, unkundig des Landbaus

Und seines sammelnden Fleißes, unkundig der Zähmung des Stieres,

Ungezähmt auch sie selber. Zu ihnen, den Wilden, um Zuflucht

Kam Saturn ins Gelaß ihrer Landschaft; er nannte sie Latium,

Da sie ihn barg vor dem zornigen Zeus, der ihm Himmel und Welten

Und seine Herrschaft geraubt. Und von ihm, dem Saturnus, empfingen

Nun die Schweifenden Satzung, sie wurden sittig und seßhaft,

Ruhten begnadet in goldener Zeit, in goldenem Frieden.

Nicht aber ruhte die Zeit. Entartung trug sie im Werden,

Niedere Lüste entfesselte sie, Gier, Habsucht und Kriege,

Machte saturnischen Boden erobernden Fremdlingen hörig,

Machte latinische Namen ausanisch, später sicanisch;

Albula selbst, der Strom, ließ seinen Namen vergessen,

Wurde zum Tiber, zu Ehren des Thybris, der rauh und gewaltig

Aus der Reihe der neuen, der fremden Gebieter hervorragt.

Ich, Euander jedoch, der Sohn der Nymphe Carmentis,

Folgend ihnen zuletzt, war wieder ein armer Verbannter,

Bis mir die Schicksalsgewalt zum Glück sich gewandelt, indem sie

Unabwendbar notwendig vom fernsten Gestade mich hertrieb

Und den Suchenden zwang in diesem Lande zu siedeln,

Wie es die Mutter befahl, apollinischem Spruche gehorchend.

So erzählte Euander, und nun mit dem Gast sich ergehend,

Wies er ihm Tor und Altar, zum Ruhme gebaut der Carmentis,

Daß noch heute der Römer der Mutternymphe gedenke,

Die als erste geweissagt den Glanz des Äneas-Geschlechtes,

Die palatinische Größe. Sodann gelangten sie weiter

Hin zu dem mächtigen Hain, den Romulus weihte als Freiplatz,

Weiter zum Lupercal, steinkühl von Felsen beschattet,

Nach des lycäischen Pan parrhasischer Sitte bezeichnet;

Nun zeigt Euander den schaurigen Wald, Argiletum geheißen,

Weil dort Argus, sein einstiger Gastfreund, ermordet gefallen,

Führt zum tarpejischen Felsen, zum capitolinischen Hügel,

Heute prangend in Gold, doch damals dorniges Buschwerk.

 

Immer schon – sprach er – beschlich ehrfürchtiges Grauen das Landvolk

Vor diesem Ort, und mit Beben nur sah'n sie den Wald und den Felsen;

Denn im laubigen Gipfel, im Haine dort wohnt eine Gottheit,

Unbekannt welche und unbekannt bleibend; den Jupiter selber

Glaubten Arkader zu seh'n, mit der himmelverfinsternden Ägis

Stürme erregend. Und drüben erblickst du zertrümmerte Mauern

Zweier Städte und Mäler von altehrwürdigen Männern;

Eine der Burgen hat Janus, die andre Saturnus gegründet,

Davon zeugen die Namen: Janiculum so wie Saturnia.

 

Unter solchen Gesprächen erreichten sie endlich

Euanders Einfache Wohnstatt und sahen verstreut die brüllenden Herden

Da wo das römische Forum heut5 steht und die Pracht der Carinen.

 

Diese Schwelle – so sagte Euander beim Eintritt –, der Sieger

Herakles schritt über sie; ihn empfing diese Königsbehausung.

Bring's über dich, mein Gast, dem Göttlichen gleichend in Würde,

Prunk nicht erheblich zu achten und Dürftigkeit nicht zu ver schmähen.

Sprach es, und unter das Dach der erhabenen Wohnstatt geleitet

Er den großen Äneas, zu dem ihn erwartenden Lager,

Laubgeschwellt und bedeckt mit dem Fell der lydischen Bärin.

Nacht stieg empor und umfing mit braunen Schwingen die Erde.“

 

Nacht stieg empor, Nacht steigt empor ... die vorlesende Stimme war leiser und leiser geworden, dann war sie völlig verebbt. Geschahen die Verse noch weiter? geschahen sie noch außerhalb der Stimme? oder waren auch sie völlig verschwunden, um vermeintlichen Schlaf zu schonen? vielleicht war er wirklich eingeschlafen gewesen und hatte nicht einmal bemerkt, daß der Knabe sich mittlerweile entfernt hatte: geschlossenen Auges, als wäre keinerlei Vergewisserung statthaft, wartete er, ein lauschender Gast gleich Äneas, wartend, daß die Stimme sich nochmals erheben werde, allein sie blieb stumm. Nichtsdesto weniger klangen die letzten Verse noch weiter im Ohre, sie klangen nach, und sie veränderten sich dabei mehr und mehr, sie veränderten, oder richtiger, sie verdichteten sich zu etwas, das fast ein sinnliches Bild war, aber Bild außerhalb eigentlicher Bildhaftigkeit, genauso wie der mondhelle Fensterausschnitt zwar noch hinter geschlossenen Lidern als Bild haftete und doch schon in Form und Licht beinahe ins Klangliche spielte; es war Nachklang im Ohr, Nachbild im Auge, beides unsinnlich-sinnenhaft, und sie verwebten sich ineinander zu einer Einheit, die bereits jenseits des Erschaubaren und des Erlauschbaren nur noch im Erfühlbaren zu fassen war und in die, seltsam dazugehörig, desgleichen seltsam zur Einheit gepaart, Stimme wie Lächeln des Knaben einflossen, gleichsam um für immerdar aufbewahrt zu werden. Wollte Saturn die von ihm verliehenen Namen wieder zurücknehmen? Die Landschaft der Verse, die Landschaft der Erde, die Landschaft der Seele wurde namenlos, und je länger er, geschlossenen Auges eingeschmiegt in die saturnische Fläche, dieser unsinnlich-sinnenhaften Erscheinung nachfühlte und nachspürte, je tiefer er sich in sie einfühlte und einspürte, ja je mehr er ihre Rückverwandlung zur Vollwirklichkeit herbeiwünschte, je mehr er die Rücckehr des vorlesenden Knaben ersehnte, desto mehr wünschte er zugleich, daß dies alles verschwände, denn all die leidenentlösende Verlockung, die,von dem Knaben ausgegangen war, hatte ihn nicht nur gefangengenommen, hatte ihm nicht nur als Vor-Verkündigung und Vor-Echo für das Endgültige geklungen, sondern hatte ihm auch den Weg zu der endgültigen Stimme verstellt, hatte ihm die Eingangspforte zu dem Unabsehbaren nicht nur geöffnet, sondern auch vermauert. War nicht auch jene großflüsternde, sanftdröhnende, jene befehlsgütige, fernnah unerahnbare Allstimme, die er gehört hatte, ohne sie hören zu können, dahinter verborgen? Tiefer als alles Irdische, wenngleich noch im Irdischen, liegt das verborgene Geburtsgrab der Stimme, die Gruft des Anfanges, der Quellraum des gebärenden Endes, tief unter allem Sichtbaren und Hörbaren liegt der Stimmen Ver sammlungsort, der sie alle enthält, aus dem sie hervorgehen und in den sie wieder eingehen, der Ort ihrer Unerlauschbarkeit, ihrer unerlauschbarsten Verbindungen und Zusammenklänge, ihr Allzusammenklang und daher selber wohl Stimme, die mächtigste und einzigste, die alle anderen in sich einschließt, alle, nur sich selber nicht. Alles Leben in sich einschließend und doch außerhalb jeglichen Lebens –, war dies die Stimme des Sterbens, war sie es schon? war sie es, oder war das Verborgene noch größer als sie? er lauschte ins Unerlauschbare, er lauschte mit all der Kraft und der Innigkeit, deren sein Wille fähig zu werden vermochte, aber über den Meeren des Schweigens, über den verhüllten Landschaften des Urklanges, verhaucht im Ur-Anfang und im Ur-Ende, unter dem schweigen den Klanghimmel des Ur-Erkennens, schwebte nur noch ein verhauchender Hauch, von Vergessenheit eingeschlossen, Vergessenes einschließend, zartester Tau, aufgehaucht aus den farblos tönenden Wiesen der Durchsichtigkeit, aus ihren stumm tönenden Feldern, das Bild der Knabenstimme, allein noch vorhanden, allein noch enthüllend, freilich selber sich bereits wieder verhüllend, ein irdischer Nachhall, nicht mehr Wort, nicht mehr Vers, nicht mehr Farbe und Farblosigkeit, nicht mehr Durchsichtigkeit, nur noch ein Lächeln, das Bild des Einst, das Bild eines Lächelns. Namen? Verse? war es ein Gedicht, war es die Äneis gewesen? Entschwindend blinkte es in dem Namen nochmals auf – Äneas? als wäre in diesem die Ahnung des großen und gütigen Befehles, des für immer verlorenen, enthalten gewesen, doch nichts ließ sich mehr finden: alles Gelebte, alles Geschaffene, die ganz breite Daseinsverflossenheit mit all ihren Inhalten, all dies verschwamm, all dies war weggewischt, er fand keine Jahre und Tage und keine Zeit in seinem suchenden Gedächtnis, er fand nichts von dem, was ihm bekannt gewesen war, er lauschte in seine Erinnerung, und sein Lauschen gewahrte nur ein gläsernes Gewirr, das sich, obzwar noch irdisch, bereits der irdischen Zeit entlöst hatte, enthoben der irdischen Erinnerung, ein aus dem Nichtzeitlichen gewachsenes, im Nichtzeitlichen ausgedehntes, gläsern-fiebrig singendes Formengewirr, und je mehr sein Gedächtnis nach der Äneis fahndete, desto rascher und spurloser löste sie sich, Gesang um Gesang, in der klingenden Verwobenheit des Glastes auf: war es Heimkunft zu des Gedichtes Ursprung? das inhaltlich Erinnerungsfähige verging; was immer von dem Gedicht besungen worden war, Meerfahrt und Sonnenufer, Krieg und Waffenlärm, Götterlos und die Gezeiten der Sternbahnen, dies und noch vieles mehr, Aufgeschriebenes und Unaufgeschriebenes, es fiel ab, es ward abgestreift, das Gedicht hatte es abgeworfen wie ein unnützes Kleid und kehrte in die hüllenlose Nacktheit seiner Vorgeborenheit zurück, in die klingende Unsichtbarkeit, der alle Dichtung entstammt, wiederaufgenommen von der reinen Form, in ihr sich selber findend gleich einem Echo seiner selbst, der Seele gleichend, die in ihrem Kristallgehäuse sich selber erklingt. Abgeworfen war das Überflüssige und war trotzdem aufbewahrt, haltbar geworden in einer unverlöschlichen Form, deren Reinheit kein Vergessen zuläßt und sogar dem Vergänglichsten noch die Eigenschaft der Ewigkeit ver leiht. Gedicht und Sprache bestanden nicht mehr, aber ihre gemeinsame Seele bestand weiter, hatte Bestand im kristallenen Spiegel ihrer selbst, des Menschen Seele war abgestorben zu tiefster Erinnerungslosigkeit, aber die Sprache seiner Seele lebte und hatte Bestand in der singenden Klarheit ihrer Form; Seele und Sprache, voneinander abgeschieden, dennoch ineinander verwoben und einander spiegelnd empfingen sie nicht dieses Spiegellicht aus jenem unnahbaren Abgrund, der aller Ausgang und alle Heimkehr ist? waren sie, jedes für sich abgeschlossen, nicht gemeinsam eingeschlossen in jener Heimatstimme, die immer wieder jede Grenze sprengt, da sie, jenseits aller Grenzen tönend, das Ziel, den Zuspruch, den Beistand, den Trost verheißt? Oh, Stimme des Einst im Werden und Vergehen, weiche Wiegenstimme, die einstmals erklungen war, einhüllend und weltenthüllend, Sternenstimme der Wiegennacht, sanfte mitgesungene Einheit! „Ich bin allein“, sagte er, „niemand ist für mich gestorben, niemand stirbt mit mir; ich habe die Hilfe erwartet, ich habe um sie gerungen, ich habe um sie gefleht, und sie ist mir nicht geworden.“ – „Noch nicht und doch schon“, erwiderte es so traumleise aus seiner eigenen Brust, daß es kaum mehr die Stimme des Knaben war, sondern weit eher die der Nacht und aller Nächte, die Stimme des silbernen Raumes, der die Nachteinsamkeit ist, des unendlich oft gesehenen, niemals erforschten Nachtgewölbes, dessen Wände er unendlich oft abgetastet hatte und das nun zur Stimme geworden war. „Noch nicht und doch schon“, hold und herrisch, verführerisch und verpflichtend, nachtglitzernd und tiefverborgen, das unmittelbar aufklingende Wort und die unmittelbar aufklingende Seele, die Einheit von Sprache und Menschentum, und es war wie ein Abschiednehmen vom alterslosen Jugendeinst alles Ir dischen und doch schon Gruß nichtendenwollender Heimat, da selbst der Stein sich ins Durchsichtige gewandelt hatte und die Grabplatten so durchsichtig wurden, als wären sie Kristall und Äther zugleich. So schritt er hindurch, nein, er schritt nicht, er stand plötzlich inmitten des Traumgewölbes, das nichts war als strahlende Stimmlichkeit, er stand im strahlend Bodenlosen, im strahlend Wandlosen, im strahlend Deckenlosen, im Gewölbe der strahlenden Durchsichtigkeit, und sehend im Unsichtbaren, sah er sich selber nicht, er war durchsichtig geworden. Ohne einen Schritt getan zu haben, ja ohne den leisesten Versuch zum Ansatz eines Schrittes oder sonst irgendeiner Bewegung war er vorwärtsgeschritten, freilich nicht hindurchgeschritten; immer noch war es der Vorhof der Wirklichkeit, der ihn umfing, immer noch hatte er das Irdische nicht verlassen, immer noch war es irdischer Traum, und er wußte, Traum im Traume, um die Traumhaftigkeit dessen was ihm geschah; es war Traum an der Grenze des Traumes. Denn obwohl in der unaufhörlich zunehmenden Helle der strahlenden Durchsichtigkeit nichts mehr an das einstige Dinggetöse erinnerte, und obwohl nichts Dingliches und nichts Menschliches und nichts Tierhaftes zu erblicken war, ja, obwohl sogar die Erinnerung daran sich nicht mehr finden ließ, überflutet von dem leuchtenden Getön der unhörbaren Stummheitswellen, er wußte trotzdem, daß er nach wie vor in der ausweglosen Verstricktheit des Stimmengetöses sich befand, nur daß die Stimmen, die Dinge, die Kreaturen, daß Pflanze, Tier und Mensch, daß sie allesamt zu unfaßbarsten Wesenheiten geworden waren, zu einem Klarheitsgefüge, in dem sternengleich noch Namen schimmerten und gleich wieder verschimmerten: er befand sich in einem Bereich, in dem nur noch die Anzahlen, die Ordnungen, die Zusammenhänge des Irdischen galten, gleichsam bloß die Erkenntnisse, die von jenen Seinsgebilden und ihrer einstmaligen Ge staltung ausgingen, und es war Geschehen und Erkenntnis und Sicht und Aussage in einem einzigen leuchtenden Wahrhaben, es war unbegreifliche Nacktheit der Schöpfungsvielfalt, bar ihrer Inhalte, dennoch vollzählig, war die Allheit jedweden Geschehens und jedweder Geschehensmöglichkeit, myriadenhaft vereinzelt, dennoch ununterscheidbar, das inhaltlich Inhaltlose umgestaltet zur reinen Form, zu einer Formnacktheit, die nichts als kristallische Helligkeit mehr war, ein undurchdringlich durchsichtiges Gefunkel, unseiend im Seienden, ohne Ursprung. Es war der Bereich des schlechthin Unendlichen. Die Straßen der Jahrmillionen zeigten sich als unendlich richtungslose Strahlenbündel, sie trugen das Unendliche herbei und brachten das Endliche in die äußerste Ewigkeit, es hatte das Geschaffene wie das Unerschaffene nämliches Gewicht, es verkreuzte sich Gut und Böse mit nämlicher Eindringlichkeit in nämlicher Strahlungskraft, und ausweglos war die sehende Blindheit, die hörende Taubheit des Traumes, ausweglos war das Traumgewölbe, das Traumgefunkel, das entscheidungsfremd keinen Weg zum Guten frei gab, gestadelos, uferlos, ein Fluten. Und silbernes Zücken träumenden Strahlens – trifft es die Seele, trifft es den Gott? Oh, mag der Traum noch so irdisch sein, er ist jenseits irdischen Menschentums, und der träumende Mensch hat seine menschliche Geburt, seine menschliche Gezeugtheit verloren, er ist ohne Vater und ohne Mutter von Urbeginn an: er ist im vor mütterlichen Gewölbe des reinen Schicksals, im Gewölbe letzter Unentrinnbarkeit. Keiner lacht im Traume, keiner lacht im Ausweglosen, der Traum ist unsprengbar. Oh, wer wagte zu lachen, da selbst die Auflehnung verstummt ist! Es gab keine Auflehnung gegen den Traum, es gab bloß Verwobenheit und Hinnehmen, Verwobenheit ins träumende Geschehnis. Und ein verwoben in das Strahlengestrüpp, ein verwoben in das verästelte Innen und Außen des Traumes, einsgeworden mit jedem einzelnen Traumpunkt, mit jedem einzelnen Kristallstrahl der Myriadendurchsicht, er selber durchsichtig, er selber heimat- und wurzellos, träumende Waise von Urbeginn an, er selber Geschehen und Wissen in einem, sich selber im Traume geschehend, den Traum in sich wissend, er selber der Traum, er sprach, und er sprach aus einer Brust, die nicht mehr Brust war, er sprach aus einem Munde, der nicht Mund mehr war, sprach in einem Hauche, der nicht Hauch mehr war, sprach Rede, die nicht Rede mehr war, er sprach:

 

Schicksal, du gehst allen Göttern voran,

Warst vor-vorbereitet vor jeglicher Schöpfung,

Des Ur-Anfangs Nacktheit bist du, treu nur

Dir selber, allesdurchdringende Form und kalt.

Schöpfung und Schöpfer in einem,

Geschehen und Wissen und Deutung zugleich,

Durchdringt deine Blöße den Gott und den Menschen,

Befiehlst das Erschaffene.

Und da du's befahlst, entlöste der Gott sich

Dem eigenen Unsein und wurde zum Vater,

Rufend die Namen des Lichts aus der Stummheit,

Aus dem Schoß der ur-urnächtlichen Mutter,

Ununterschiedliches ins Benennbare rufend.

Zur Gestalt das Gestaltlose.

Ur-Schweigen ward da zu Sprache, und singend das Urgetöse

Singen die Sphären dein Wort.

Doch im Traume, oh Schicksal, nimmst du dir's

Wieder zurück, schweigst es zurück in die Nacktheit

Furchtbar allesverbergend in deiner Entblößung,

Und als kristallene Flocke senkt sich der Gott

Strahlenzerlöst in das leere Gewölbe des Traumes.

 

Unbewegt leuchtend vernahm das Traumgewölbe, stumm sie widerspiegelnd, die stummen Worte, trug sie davon ins Echolose des letzten Lichtes, und es war, als wären sie selber der Strahlung Echo gewesen. Da sprach er weiter:

 

Traumdurchtränkendes, traumkaltes Schicksal, du

Offenbarst dich im Traume, machst ihn zur Größe

Des Einst, in dem die Wirklichkeit ruht, machst ihn

Zu der Schöpfung Gefäß, wirkend durch dich, und mit dir

Zeitlos; denn du kennst kein Vorher und Nachher,

Wirklichkeit, die du bist.

Strömend schwebt dein Geschehn, o Ur-Form, schwebt

Verzweigt und wesenheitsträchtig zwischen den Blitzgewölken

Stummgewaltiger Einheit, zwischen der Nacht und dem Licht

Der von dir zur Schöpfung befohlenen Schöpfung; du aber

Verwandelst dich mit den verschlungenen Strömen

Deines Schwebens aus dem einen ins andere; lichtwärts

Willst du strömen – gelingt's dir? – doch wo

Deines Strömens Vielfalt sich zielhaft verkreuzt,

Strom am Strome bedingt, hier nur entfaltest du Ruhendes,

Ding und Namen weltlicher Wahrheit, ineinandergeeint,

Aufgerufen zur Einheit, auf daß sie dich spiegeln;

Schicksalsgeprägt die Ur-Form des Seins,

Die Urform der Wahrheit.

Traumform entsteht aus Traumform, verkreuzt und entfaltet,

Im Traum bist du ich, bist meine Erkenntnis, bist

Geboren mit mir als ungeborener Engel

Jenseits des Zufalls, leuchtende Allgestalt

Von Wesen und Ordnung erkennenden Werdens,

Gestalt meiner selbst, mein Wissen.

Götterenthobenes, göttervernichtendes Schicksal,

Endlose Wirklichkeit, endlos bin ich mit dir,

Ein Sterblicher, göttervernichtend im Traume, da ich

In dir mich begebend, entschwebend in deiner Strahlung

Kindheitsumschlossen selber der Götterraum bin.

 

War es der letzte Raum? war es die letzte Ruhe? bewegte sich nicht auch diese noch? mußte er sie nicht vorwärtsbewegen? Er versuchte einen Schritt zu tun, er versuchte die Arme zu heben, er versuchte dem Strahlenraum, der er war, sich selber mitzuteilen, er versuchte es mit großem Willen und großer Anstrengung, und obwohl die gläserne Durchsichtigkeit, in die ihm die eigene Wesenheit entschwunden war, keinerlei Bewegung gestattete, es gelang: ein traumfernes Zittern durchlief ihn, oh, es war kaum die Ahnung eines Zitterns, oh, kaum ein Wissen um solche Ahnung, allein, es war zugleich – wie hätte es anders sein können – wie ein Mit bebendes Traumgewölbes, ein Hin- und Zurückfluten, als ginge das Zittern durch die unbeweglich dahin gleitenden Strahlenstraßen, durch die Verkreuzungen, durch ihre Richtungen und Richtungslosigkeiten, durch ihre leuchtende Aussagbarkeit und Unaussagbarkeit, als sei es eine letzte und erste Erschütterung, kaum merklich, dennoch erahnbar, das Hauchen einer Abschattung, hauchlos schier, den noch Erinnerung an das Irdische. Da sprach er weiter:

 

Unentrinnbares! bin ich zu dir aufgestiegen oder

In deine Tiefe gestürzt?

Abgrund der Form,

Abgrund des Oben und Unten, Abgrund des Traumes!

Keiner vermag im Traume zu lachen, doch auch

Keiner zu sterben; siehe, so überaus nahe

Ist das Lachen dem Tode, siehe, so ferne

Sind beide dem Schicksal, daß vor lauterer Form

Kein Tod das Lachen gelehrt hat

Schicksal, dein Selbstbetrug.

Ich aber, Sterblicher, ich, todesgewohnt,

Vom Tode zum Lachen gezwungen, ich lehne mich auf

Und glaube dir nicht. Traumblind und traumwissend

Weiß ich dein Sterben, weiß um die Grenze, die dir

Gesetzt ist, Grenze des Traumes, die du verneinst.

Weißt du es selber? willst du es selber?

Stockt dein Geschehn auf deinen Befehl ? oder gehorcht es

Noch stärkerem Willen? Steht hinter dir, größer als du,

Unentrinnbarer, unerschaubarer noch

Ein anderes Schicksal und weiter und weiter

Schicksal an Schicksal, Leerform an Leerform gereiht,

Das nimmererreichbare Nichts, der gebärende Tod,

Dem nur noch der Zufall entspricht?

Zum Zufall wird alles Gesetz, zum Fall in den Abgrund,

Zum Zufall auch du, oh Schicksal, mitgerissen

Vom Zufall des Endes, rasend in deinem Bereich;

Jäh stockt das Wachstum, und das Erkenntnisgezweige,

Ast dem Aste entsprossen, jählings zerfällt es

Zu vernichteter Sprache, vereinzelt im Ding,

Vereinzelt im Wort, zerfallen die Ordnung,

Zerfallen die Wahrheit, Gemeinschaft und Einheit

Erstarrt in der Halbheit, erstarrt im Gestrüppe

Scheinwirklichen Seins.

Unvollkommenes bringst du hervor, duldest den Zufall,

Mußt das Unheil erdulden, die Halbheit, den Trug, und

Unverwirklicht du selber, nimmermehr endlos die

Erstarrende Form, Schicksal des Schicksals, stirbst du

Des Unheils, im Kristall noch mit mir.

 

Nicht er sprach, der Traum sprach, nicht er dachte, der Traum dachte, nicht er träumte, es träumte das Schicksalsgewölbe er strahlend im Traume, es träumte das Unerreichbare, das unausschreitbare Gewölbe der Lichterstarrung, unheilserstarrt, un heilserstarrend, und unbewegt eingeflossen in die kristallenen Kaskaden des Lichtes war es das Gewölbe seiner unerreichbaren Seele. Hauchlos das Licht, hauchlos das heilsträchtige Rund des Unheils, hauchlos der Hauch.

Und ohne Hauch sprach der Traum weiter:

 

Form, wenn selbst Urform, sterblich dem Sterblichen,

Sterblich dem Gotte, in UnWirklichkeit sterbend,

Sterblich ob des Gewühles scheinbarer Einheit.

Unrettbare! mag auch das Halbe zur Ganzheit sich lügen,

Mag es sich auch zurückflüchten wollen in den Schoß.

Mütterlich einstiger Urnacht, mag es sogar sich selber

Zum Aufruf setzen und selber die Ganzheit

Sich anmaßen, die Würde des rufenden Vaters,

Nichts rettet dich, Schicksal, vor dem Heimfall ans Nichts;

Vom eigenen Schicksal berauscht, wendest leer du dich um,

Und die Welten, unausschreitbar, unaufhaltsam ihr leerer

Kreislauf in Schönheit, sind deiner trunken,

Sind trunken des Todes,

Denn Schöpfung ist mehr als Form, Schöpfung ist Unterscheidung,

Ist Scheidung des Bösen vom Guten, oh, allein die Schiedkraft

Ist wahrhaft unsterblich.

Hast du, da Form du nur bist, den Gott und den Menschen

Zur Wahrheit gerufen, auf daß sie statt deiner

Unterscheidungsbetraut für immer die Weltform erfüllen:

Hast du hierfür mich verpflichtet und in die Schöpfung gefügt?

Unzulänglich bist du und Werkzeug des Bösen.

Unheilerschaffend bist du, bist selber das Unheil, dem du erliegst;

Oh, das Göttliche ist ermattet, und das Menschliche gar

Blieb unerstarkt – beides, dein Werk, ist Zufall mit dir

In dem größeren Schicksal, und der Gerufene,

Gleich dir nur noch Form und verlustig des Namens, ist

Unerreichbar, er wendet sich nicht, keinen Ruf

Hört er mehr im vergehenden Traum.

 

Ja, er war unerrufbar; Stummheit umgab seine eigene Stummheit; nichts sprach mehr zu ihm, und nichts vermochte er mehr zu sprechen; nichts rief ihn, und nichts vermochte er mehr zu errufen. Aber glitzernd undurchdringlich, unbewegt und unabsehbar war das Traumstimmliche um ihn gebreitet, glitzernd vor götterüberwältigendem Unheil, unentrinnbar, allumfassend, schöpfungsauf hebend, Gut und Böse ineinander verquickt, zahllos die Verkreuzungen, unendlich die Strahlenstraßen, überirdisch das Licht, dennoch im Zählbaren, dennoch endlich, den noch irdisch, bestimmt zum Absterben –, verging der Traum? und mit dem vergehenden Traum, verging da auch der Träumende? Nichts war erinnert, und doch alles Erinnerung, eingesenkt in das unheilig unheilvolle, in das schattenlos schöne Licht der Nichtunterscheidung, in das Licht des unausschreitbaren Grenzraumes, erinnerungstief eingesenkt in des Schicksals schillernd unbewegtes Grenzspiel, dessen Grenze trotzdem überschritten werden kann, überschritten werden muß, sobald das Spiel sich erschöpft haben wird, ausgelotet bis zur äußersten Tiefe seiner Mannigfaltigkeit, ausgezählt seine Vereinzelungen, und Verkreuzungen, zur Neige geleert das Einheitsgemenge von Gut und Böse, oh, das Unheil zur Neige geleert, die Schicksalsform erschöpft, abgestorben in erstorbener Erinnerung, die sich ihrer selbst nicht mehr erinnert. Oh Erinnerung, oh Verlöschen des Lichtes und des Sphärengesanges, oh der Welten unendliche Reihe, Kreislauf der Schicksalsabfolge im irdischen Verlöschen und Wiederentzünden, Vorversuch um Vorversuch der Schöpfung, immer wiederholt und zur Wiederholung gezwungen, bis das Böse aus dem Licht gestürzt werden wird, ausgeschieden das unerschaffen Erstarrte aus dem Sich-selbst-Erschaffenden, damit – endgültig der wiedergewölbte Himmel wieder das Endgültige werde und leuchte, emporgehoben das Menschenantlitz bis an die Sphärengrenze, emporgehoben in das unsichtbare Linienspiel der Sterne, emporgehoben in des Himmels kühlsteinernes Sternenantlitz. Und als hätten die in der Strahlenstummheit vor übermäßigem Glanze verschwundenen Sternbilder des Innen und Außen sich noch einen Rest Atmung bewahrt, als besäßen sie, die Unerrufbaren, noch einen Rest dunkelster Leuchtkraft, als könnte die Leier des Himmels und des Herzens noch einmal auftönen, als sei das Seiende noch nicht zur Gänze in Kristall verwandelt, sein Gleichgewicht noch nicht zur Gänze hergestellt, die Waage des Alls noch nicht völlig zum Stillstand gekommen, so daß es noch Wissen gab, noch Wissen geben durfte, das Wissen des Kristalls um sich selbst, das Wissen des Traumes um sich selbst, das Wissen um das Künftige und Endgültige, um das Immergewesene, Nimmer erreichte, silbertönend offenbart aus des Alls verborgenster Eigenerinnerung, in der des Traumes Kristallsprache ruht, das Vor-Echo künftigen Klanges, also sprach es in einer letzten Stummheit:

 

Wann, oh wann?

Wann war formenbefreite Schöpfung,

Sie, oh wann, ohne Schicksal? oh, sie war, und

Traumlos war sie, war nicht Wachen, nicht Schlaf,

War ein Augenblick nur, ein Gesang, einmalig

Die Stimme, unerruf bar ein lächelnder Ruf

Einstmals war der Knabe;

Einst war die Schöpfung, einst wird sie sein,

Zufallsenthoben das Wunder.

 

Wollte da das Rund des Himmels wieder im Traumgewölbe aufschimmern, tragend das Kreuzgestirn in nächtlich funkeln der Mitte, getragen vom strahlenden Schilde? wollte es wieder aufscheinen im Wirklichkeitsglanze neugeschöpfter Schöpfungstat? Als Erwartung hatte es sich angekündigt, als Erwartung war es schon da, doch es erschien noch nicht. Denn über die schweigenden Leuchtstimmen des Traumes hatte sich wundersam ein noch tieferes Schweigen gebreitet, und dieses Schweigen wurde zum Warten, war das Warten, schweigend und wun dersam in sich selbst, ein Warten, das sich wie eine zweite, wie eine reichere Form um die regungslos weiterschimmernde Strahlenform der Schicksalsnacktheit legte, wie eine zweite Beleuchtung des Lichtes, als wäre Warten bereits Reichtumszuwachs, obwohl eine noch stärkere Bereicherung, eine noch stärkere Strahlung, vielleicht sogar eine zweite und noch stärkere Unendlichkeit zu erwarten war, ja erwartet werden mußte, aufdaß ihr das Göttliche neuerstrahle und wiederstrahle, für ewig und unheilsaufhebend. Ein richtungsloses Warten war es, richtungslos wie die Strahlung, und es richtete sich trotzdem an den Wartenden selber, richtete sich an den Träumer, war gleichsam Aufforderung an ihn, daß er mit einer letzten Anstrengung, mit einer letzten Schöpfungsanstrengung sich außerhalb des Traumes stelle, außerhalb des Schicksals, außerhalb des Zufalls, außerhalb der Form, außerhalb seiner selbst. Von woher kam diese erwartungsvolle Aufforderung? aus welchem Außerhalb, aus welcher Richtungslosigkeit hatte sie sich, richtungslose Ganzheit sie selber, in die Ganzheit des Traumgewölbes gesenkt? traumstark sie selber, war sie kein Ruf und nicht etwas, das von irgendwoher kam und ihn von irgendwoher erreichte, sie hatte ihn bloß plötzlich erfüllt, wie sie den Traum erfüllt hatte, als Glanz in den Glanz gesenkt, Durchsichtigkeit in die Durchsichtigkeit, sie rief nicht den Traum zur Wahrheit zurück, nicht die Richtungsmannigfaltigkeit ins eindeutig Gerichtete, sie war überhaupt nicht Rückkehr, nicht Schöpfungsverlust, nicht Wiedereinverengung, nein, obwohl den Traum überwindend und zur Überwindung auffordernd, verblieb sie im Traume, hieß sie im Traum verbleiben, war sie Aufforderung, im Wissen des Traumes zu neuem Wissen zu gelangen; in schweigend strahlender Erinnerung war sie da, niemals gesehen, trotzdem wiedererkannt, trotzdem verstanden in ihrem Traumesgebot. Und er, eingeschlossen in den Traum und den Traum in sich ein schließend, verwoben seine Durchsichtigkeit mit der des Traumes, er erhob sich zu der von ihm erheischten ungeheuren Gottesanstrengung, und in einer letzten Zersprengung der Traumgrenze, in einer letzten Zersprengung jeglichen Bildes und jeglicher Aussage, in einer letzten Zersprengung der Erinnerung, wuchs der Traum mit ihm über sich selbst hinaus; sein Denken wurde größer als die Form des Denkens, und da es dies tat, wurde es zum Wissen um die Sphäre, die größer als das Schicksal, größer als der Zufall ist, wurde es zur zweiten Unendlich keit, die erste in sich einschließend und von dieser eingeschlossen, wurde es zum Gesetz, in dem der Kristall wächst, wurde es zum Gesetz der Musik, ausgesagt im Kristall, ausgesagt in Musik, doch darüber hinaus gehoben die Musik des Kristalls aussagend; es war die zweite Erinnerung, gedächtnislose Weltzeiterinnerung und Alleserlebtheit, die weltüberschauert, formüberschauert sich zur zweiten Form aufgelöst hat, es war die zweite Sprache des Menschen, vorbestimmt zur Ewigkeit, wenn auch noch nicht das Ewige selber, das Unwiederbringliche im Wiedergebrachten; und in dem wiederaufgetanen, wiedergewölbten Himmel kreisten aufs neue die Sterne, kreisten im Gesetz ihres Seins, im Unvergänglichen ihrer Vergänglichkeit, zufallsentbunden als ewig währendes Wunder, als die kühl unsterbliche Musik der Nacht, sanft von des Mondes mildhartem Atem leise bestrichen, unbeweglich dahinziehend, unbeweglich von der Milchstraße durchflutet, der klingende Silberraum, vom Überunerfaßlichen eingeschlossen, aber das Überunerfaßliche jedweden Menschentums in sich einschließend, die Heimkehr, die zweite Heimkehr des Traumes –

– Oh Heimkehr! oh Heimkehr desjenigen, der nicht mehr Gast zu sein braucht! unwiederbringlich ist das Lächeln, in dem wir einstmals eingebettet waren, unwiederbringlich die lächelnde Umarmung, die Seinsganzheit des Erwachens und Noch-nicht-Erwachtseins, aufgehellt und immer noch dunkel, unwiederbringlich ist die Milde, in die wir unser Gesicht vergraben haben, damit das Gesehene nicht zum Zufall werde; oh, alles war unser, da uns alles wieder geschenkt wurde, nichts war uns Zufall, nichts war vergänglich, denn unvergänglich dauerlos war die Weltenzeit, oh, die Weltenzeit, in der es für die stummen Augen des Kindes nichts Stummes gegeben hatte, und alles neue Schöpfung gewesen war –

– oh Heimkehr, oh Musik des Innen und Außen! eingesenkt in uns ist sie uns geblieben als ein Wissen des Einst, eingesenkt in uns hat sie uns in ihr größeres Sein gehoben, und wir, eingesenkt in sie, größer als wir selber, wir finden sie jenseits des Zufalls; oh Musik des Innen und Außen! bloß was geborgen ist in unserem Ich ist größer als wir, ist uns unsterblich und zufallsenthoben, mitsingend das Wort der Sphären, doch was wir nicht in uns tragen, es ist uns Zufall und bleibt uns Zufall, es ist uns sterblich, nimmermehr ist es größer als wir, nimmermehr schließt es uns ein –

– oh Heimkehr! alles wird vom Kinde eingeschlossen, alles wird ihm Musik, alles unsterblich, alles die Größe der Ganzheit, mit ihrem Lächeln immerdar das Kind umhüllend und erfüllend, da es in ihre Umarmung hineinzuflüchten vermag, Auge in Auge gesenkt, das All; oh, unwiederbringlich ist es uns, denn unwiederbringlich ist alles im leeren Wachstum! und mögen wir noch so sehr wachsen, so sehr, daß unsere Arme wie Ströme sich verzweigen, hingebreitet unser Körper über Länder und Ozeane bis zu den Grenzen der Welt, der Mond in unseren Haaren, wir selber Raum, wir selber die Sternkuppel der Nacht, das glitzernde Traumgewölbe, endlos, endlos, ein einziges Strahlen, wir bleiben außerhalb unser selbst, wir bleiben ausgestoßen, keine Nacht umfängt uns und kein Morgen wird uns umfangen, weil wir fest gebannt sind, ohne Flucht und ohne Fluchtziel, unhingegeben uns selber, weil unsere Arme nichts an unser Herz gezogen haben –

– oh Heimkehr! Heimkehr ins Überunerfaßliche, das uns geschenkt werden soll, wenn wir wieder fähig werden, zu ihm zu flüchten, oh, das Überunerfaßliche, das wir selbst im Traume noch suchen, da sogar das Schicksal, unser Schicksal, traumhaft im Traume uns erfaßlich wird, vergänglich der Traum, vergänglich das Schicksal, sie beide Zufall, so daß wir festgebannt selbst noch im Traume, festgebannt von Vergänglichkeit, fest gebannt vom Zufall, fest gebannt vom Tode, zwar dem Traum zu entfliehen suchen und doch die Flucht fürchten, ja vor ihr zurückschrecken, verzagend vor der Unerreichbarkeit; oh, sterblich ist uns das Zufällige, das von uns nicht eingeschlossen wird, und von dem wir nicht eingeschlossen werden, wir erfassen an ihm nur den Tod; wahrlich allein im Zufall enthüllt sich uns der Tod, wir aber, uns selber nicht einschließend, von uns selber nicht eingeschlossen, den Tod in uns tragend, werden von ihm nur begleitet, er steht als Zufall neben uns –

– oh Heimkehr! Heimkehr ins Göttliche, Heimkehr ins Menschliche! sterblich ist uns der Nebenmensch, dessen Schicksal wir nicht auf uns genommen haben, dem wir keine Hilfe haben angedeihen lassen, der ungeliebte Mensch, den wir nicht in uns einschließen und den wir damit unfähig gemacht haben uns mit seinem Sein einschließend zu umfangen, oh, ungöttlich ist er uns, ungöttlich sind wir mit ihm, so sehr Zufall mit dem Zufall, daß wir kaum wissen, ob der, welcher als Lebender vor uns auftaucht, der an uns vorbeigeht, an uns vorbeitorkelt und um die nächste Ecke biegt, ob er, Schicksalsgeschöpf wie jeder, Schicksalsgeschöpf wie wir, nicht etwa schon längst gestorben oder auch noch nicht einmal geboren ist –

– oh Heimkehr! oh, Plotia! –

– oh Heimkehr! unwiederbringliche Heimkehr; sterblich sind wir mit dem Sterblichen, sterblich sind wir uns selber, wir, die wir kein Schicksal auf uns genommen haben, wir, die wir uns damit selber zum Zufall gemacht haben; unentrinnbar ist unser Geschehen und Sein und Erkennen an die bloße Form des Schicksals verhaftet, sterblich inmitten der Unsterblichkeit sind wir, sterblich unter der Sternenmusik, sterblich aus Schuld, verirrt im Gestrüpp der Stimmen, umzingelt von dem stummtosenden Licht der Ununterscheidung, verfallen dem Traumtod, verfallen einem Tod wachsender Grausamkeit, der nichts Unsterbliches mehr in sich birgt –

– oh Heimkehr! ein Ruhen und Lauschen im unendlich Hingebreiteten des saturnischen Gefildes, in der saturnischen Landschaft der Welt und der Seele, in dem heimatgoldenen Frieden ewiger Irdischkeit, gefeit gegen Janus, obwohl es ein zwiefaches Lauschen ist, aufwärts und abwärts gekehrt, lauschend nach den von Saturnus gehobenen Namen der Dinge in den Tiefen des Himmels wie in den Tiefen der Erde, zwiefach verbunden ein zwiefaches Ruhen, gefeit gegen die Todesgrausamkeit der Zwietracht und des Krieges, gefeit gegen Vernichtung, obwohl das Lauschen zugleich ein Vergessen ist, ein Vergessen der Namen, ein Vergessen kraft ihrer Heimatlichkeit –

– oh Heimkehr! wer heimkehren darf, der kehrt in die Schöpfung zurück, er kehrt dorthin zurück, wo er hinter der fließenden Grenze des Anfangs und des Endes, jenseits alles Erfaßlichen und Unerfaßlichen, die letzte Satzung ahnt, er entflieht der Ununterscheidbarkeit, in der das Gute und das Böse zur bloßen Schicksalsform erstarrt sind, er birgt sein Gesicht im überunerfaßlich Vertrauten, von dessen strengmilder Stimme schicksalsgebietend und vorschicksalhaft der Richterspruch ausgeht, das Sein wieder der Form entlösend und zur Rechten und Linken sondernd –

– oh Heimkehr! oh Leidenentlösung im Leide, das Wunder der Unsterblichkeit! oh, wir dürfen es berühren, wir dürfen, vielleicht nur für die Dauer eines Herzschlages, wunderempfangend das Herz, dennoch für ewig das Unerfaßliche ahnend erfassen, wenn unser Schicksal, einschließend und umschlossen, das andere auf sich nimmt, größer geworden und geweitet in der Hingabe, eingeflüchtet und selber das andere bergend, wenn mit dem Wunder des zweiten Ichs, das wir durch die Brände tragen, uns die zweite Kindschaft beschieden wird, gewandelt und dem Vater gehörend, Erkenntnis, erkennend und erkannt, Zufall, der zum Wunder geworden ist, da er alle Erkenntnis, alles Geschehen, alles Sein umfaßt hat, Schicksalsüberwindung, noch nicht und doch schon, oh Wunder, oh so sehr wieder erwachte Musik des Innen und Außen, geöffnetes Antlitz der Sphären, oh Liebe –

– oh Heimkehr! denn Liebe ist Unterscheidung! oh Heimkehr für immerdar! denn Liebe ist Schöpfungsbereitschaft –

–: und Unterscheidung war das Erkennen, das traumgeboren und trotzdem sich selber gebärend, geschehensgleich und trotz dem unbewegt ihm solcherart aus dem Sichtbar-Unsichtbaren zugeflutet wurde, ein Erkennen im Sprachlosen und Wortlosen, eine letzte Anstrengung des Traumes, der sich selbst erweckt und seine Grenze erkennt, die stete Heimkehr des Traumes in die eigene Geburt, eingeschlossen in deren Dunkelheit und trotzdem noch die Dunkelheit strahlengroß umschließend. Das Erkennen war nicht in ihm, es kam kristallinisch aus dem unsichtbaren Kristall des Gefüges; es war der Kristall des Traumes. Erkennen so die Genien, erkennen so die Engel, wenn sie, die lauschenden Boten, eingeboren in die Schöpfung, ungeboren in ihr schwebend, den Götterbefehl vernehmen? schwebte er mit ihnen außerhalb der Traumgrenze, schwebte er mit ihnen im Traume, schwebte er mit ihnen in der Erinnerung? Die ungeheure Anstrengung der Traumzersprengung, der Schicksalszersprengung wich nicht, nein, sie wuchs, sie wurde immer dringlicher, immer zielgerichteter, immer erkenntnisgerichteter, und je mehr sie wuchs, desto erfüllter wurde die Traumsichtbarkeit, desto mehr verwob sich ihr unabsehbares Strahlen mit all der irdischen Gewesenheit erinnerten und vorerinnerten Wissens, das inhaltserkennbar bei aller Formverwandlung wie ein zweiter Traum in das Gewölbe des ersten hineinragte, sich in das Gewölbe einschmiegte und es anreicherte, Bild zu Bild eintragend, Landschaft über Landschaft spreitend, vorhanden hier, wie es einstens vorhanden war als Traumsein der Kindheitsfrühe, durchsichtig vor Gedächtnistiefe, umrankt von Gewässern und Kränzen, funkelnd Sternschicht um Sternschicht der unerschauten Himmel darüber gebreitet, Stummheit und Musik zum Kristall vereinigt, immer erlebt, niemals erinnert, immer vernommen, niemals erfaßt. Und da, hingegeben dem Bildgeschehen, da hörte er das Herz des Traumes, leise erst, dann deutlicher und deutlicher, er hörte das Herz des Traumes pochen. Denn in der Erinnerung, die zu ihm aufstieg oder in die er einsank, unentscheidbar die Richtung in der Unbewegtheit des Geschehens, in dieser aufquellenden und einsaugenden Strahlung, in dieser Begegnungsverschwebung unbewegtesten Ineinandergleitens war nicht minder unbewegt und bildhaft enthalten, was er je in Sprache oder Gedicht gesucht hatte, und war doch wieder ausgelöscht um der Erkenntnis willen, ver nichtet jegliche Sprache, vernichtet jegliches Gedicht, so daß nur noch der letzte Wurzelabgrund des Traumes hindurchschimmerte, gleichsam als letzte Form des Schicksals innerhalb der unentrinnbaren Formmannigfaltigkeit, gleichsam die Form aller Formen innerhalb des strahlend Unentrinnbaren, das verkreuzt und verschlungen, fließend und erstarrt, aber in jeder Form, in jeder Gestalt unendlich unabsehbar über die Lichtgefilde des Traumes hinerstreckt, traumhaft sich zur Geburt des Traumes aus seiner Wurzeltiefe aufgetan hatte: oh sie, diese Tiefe war es, die zum Herzen emporschwebte, oh, in sie schwebte das Herz hinein, aufstrahlend und einstrahlend, beides ineinanderverstrahlt zu sprachunerfaßlichstem Erkennen, diese Tiefe war das Herz des Traumes, eingegangen, eingepulst, einver flossen in das menschliche Herz zu kristallinischer Einheit und Endgültigkeit, und es dünkte ihm, als müßte in dem bebenden Lichtpochen, zu dem er hinabsank, das zu ihm aufstieg, die Wiederverwandlung des Schicksals beginnen, als müßte hier in diesem letzten Wurzelabgrund aufs neue die Verwandlung der Form zum ewigen Inhalt vonstatten gehen: das Erwachen. Oh, die Erweckungsqual geträumten Erwachens, schicksalsbedingt auch noch dieses, grenzumschlossen innerhalb des Traumes, der sogar noch im Erkennen sich selber geschieht, dennoch schon Überschreitung der Traumgrenze, dennoch schon Sonderung ist, da das Herz, hat es einmal zu schlagen angefangen, stets öffnungheischend und wirklichkeitsbereit bis zu den Grenzen bebt und an ihrer Pforte pocht –

– denn Liebe ist harrende Bereitschaft, in ihr ist alles geduldiges Harren, denn Liebe ist Schöpfungsbereitschaft: noch nicht und doch schon, an dieser Schwelle steht Liebe, sie steht im Vorhof der Wirklichkeit, dort wo die Pforte sich auftun soll, auf daß die geöffnete Grenze vom Sterblichen überschritten werden könne, geöffnet zum Erwachen, geöffnet zur Wiedergeburt, geöffnet zur wiedererstandenen, wiedererstehenden, niemals gehörten, immer ersehnten Sprache der Auferstehung in letzter und erlösender Endgültigkeit, geöffnet zu dem endgültigen Richterspruch, der außerhalb jeglichen Traumseins, außerhalb der Welt, außerhalb des Raumes, außerhalb der Zeit erschallen soll, oh, vor solcher Schöpfungserneuerung steht Liebe, selber noch dämmerungsumfangen, selber noch lauschend, und doch schon erweckende Hilfe, beginnende Erweckung –

– und über sich selbst hinaus, herzschlaggleich, bebte das Leuchten des Traumgewölbes, bebte das Gewölbe selber, bebte in der endlosen Stimmfülle seiner strahlenden Ganzheit, in seinen Vereinzelungen, Vereinigungen und Verschlungenheiten, in der Unabsehbarkeit seiner Strahlenbahnen und Leuchtwege, und die Sternkuppeln bebten mit ihm, Traumganzheit, die sich selber ein- und ausatmete, wartend das Atmen, wartend der Traum, wartend im Abgrund seines Herzens, wartend das kristallische Gefäß der Sphären. Wird sich die neue Sprache, das neue Wort, die neue Stimme aus solchem Atmen entringen? wird es sich auftun zum Stimmenquell des Zeitenanfanges und des Zeitenendes, aufdeckend den Verkreuzungspunkt, das Ziel aller Wege in des Traumes Abgrundunendlichkeit? wird, oh wird aus dem Traume jener sich selbst wiedererklingende Echoakkord der Welteneinheit, der Weltenordnung, der Weltenallerkenntnis ertönen, der die letzte Lösung der Weltenaufgabe sein wird, sein soll, von der Stimmenganzheit umfaßt und sie umfassend? Bloßes Ahnen war es noch, kaum mehr als ein Ahnen, ein ahnendes Herzaufheben aus den Traum wurzeln, doch ein Hinheben schon bis zu den fernsten Traumfernen, stimmenschließend, stimmenlösend im zitternden Leuchthauch des Geschehens, irdisch war noch des Herzens Pochen, doch überirdisch schon war es in seinem Warten, irdisch noch war es als Traum Werkzeug der Schicksalsgewalt, die unausgesondert das Unheil, das Böse, den Zufall, den Tod in sich trägt, doch schon überirdisch war es vor Bereitschaft dem Befehl zu gehorchen, überirdisch vor Erwachensbereitschaft. Wahrlich dem Unirdischen näher als jede andere war diese Bereitschaft zum Erwachen, näher sogar als die Bereitschaft zum Tode, die mit dem Sterben an das Irdische gebunden ist, durchtränkt von Ichsucht und Ruhmsucht, von Rausch und von Haß, wahrlich näher war sie der Todesentfaltung, war ihr näher als seine eigene Todesbereitschaft, unter deren unablässig-unabwehrbare Herrschaft er sein Leben gestellt hatte, wähnend, er werde durch das Opfer seiner selbst, durch seinen Tod die Heimkehr erzwingen, die Grenze überwinden und ihre Stimme erlauschen, ja sogar nachahmen und kraft der Nachahmung für sich gewinnen können. Unnachahmlich war sie gewesen, ungewinnbar ihr Weckruf, unnachahmlich, ungewinnbar ist diese Stimme. Denn sie, Stimme der Stimmen, außerhalb jeglicher Sprache, gewaltiger als jede, gewaltiger sogar als die der Musik, gewaltiger als jeg licher Sang, sie, die ein Herzschlag ist, ein einziger Herzschlag, weil sie nur so die Erkenntniseinheit des Seins herzschlagrasch, augenblicksrasch zu umfassen imstande sein wird, sie, eine Stimme der Unerfaßlichkeit, das Unerfaßliche ausdrückend, das Unerfaßliche seiend, unerreichbar der menschlichen Sprache, unerreichbar dem irdischen Sinnbild, Urbild aller Stimmen und aller Sinnbilder dank unerreichbarster Unmittelbarkeit, sie kann solch unausdenkbarer Grenzjenseitigkeit bloß dann genügen, ist nur dann möglich, wenn sie selber alles Irdische übertrifft, und wäre doch wieder unmöglich, ja unausdenkbar, würde sie dem Irdischen nicht ähneln; mag sie also auch mit irdischen Stimmen, mit irdischem Wort und irdischer Sprache nichts mehr gemein haben und kaum mehr irdisches Sinnbild sein, sie kann das Urbild, auf dessen unirdische Unmittelbarkeit sie gerichtet ist, erst dann offenbaren, wenn sie es in einer irdischen Unmittelbarkeit spiegelt: Bild an Bild gereiht, so führt im Irdischen jede Sinnbildkette zu einer irdischen Unmittelbarkeit, zu einem irdischen Geschehen, und muß trotzdem – ein äußerster Zwang für den Menschen – darüber hinausgeführt werden, muß für jede irdische Unmittelbarkeit die ihr zugehörige und doch höhere jenseits der Grenze finden, muß das irdische Geschehen über seine Diesseitigkeit hinaus zum nochmaligen Sinnbild erheben, und ob die Sinnbildkette auch immer wieder an der Grenze zu zerreißen droht, zerbrechend an der Grenze des Überirdischen, vergehend am Widerstand der Unerreichbar keit, für immerdar unfortsetzbar, für immerdar zerrissen, es wird die Gefahr gebannt, wird immer wieder gebannt, es wird die Sinnbildkette immer wieder geschlossen, sooft das Unerreichbare sich selber ins Erreichbare verwandelt und, immer wieder, ins Irdische herabsteigt, um sich selber zum irdischen Geschehen, zur irdischen Tat zu verdichten, zu verkleinern, zu versichtbarlichen, um kraft solcher Selbstversinnlichung selber die Grenze aufzuheben, so daß auch die Kette des Ausdrückbaren zu einem Auf- und Absteigen werden kann, und sie sich zum Kreise schließe, zum Wahrheitskreis, zum ewigen Sinnbildkreis, wahr in jedem seiner Bilder, wahr durch das immer währende Kreisgleichgewicht, das um die geöffnete Grenze spielt, wahr im ewigen Austausch der göttlichen und der menschlichen Tat, wahr in ihrer beider Sinnbildhaftigkeit und im Sinnbild ihrer gegenseitigen Spiegelung, wahr, weil darin die Schöpfung sich für immerdar erneuert, eingegangen in das Gesetz, in das Gesetz der steten Wiedergeburt, das den Zufall, die Erstarrung, den Tod zu überwinden gesetzt ist; keinerlei irdische Todesbereitschaft, und sei sie noch so sehr ahnende Nachahmung göttlicher Opferung, vermag diese irdische Tat des Überirdischen zu errufen, allein die harrende Erweckungsbereitschaft ist hier wahrhaft gültig, und der Träumende, traumgebunden wie das Schicksal, unerlöst und dem Tod verschlossen wie dieses, fremd jeglicher Todesbereitschaft, birgt in seinem Traum immer nur die Bereitschaft zur Erweckung, ihr allein ist er wissend geöffnet, unbetrügbar in seinem Traumwissen, in seinem untrüglichen Wissen um die Erweckung und ihr Allgültigkeit, für die der Traum sich geöffnet hat im Stimmenabgrund seiner unerforschlichen Tiefe, wissend im dunkelstrahlenden Wurzelabgrund seiner Leuchtschächte, wissender noch sein Herz, bebend geöffnet der Stimme, die nicht Stimme mehr ist, sondern schon Tat, da sie hinabsteigt den Namen zu holen, da sie mit dem Namen schicksalgebietend zur Umkehr, zur Rückkehr, zur Heimkehr aufruft –

– oh Heimkehr in die Tat, welche die Liebe ist, denn nur die dienend hilfreiche Tat, da sie den Namen gibt und die leere Schicksalsform erfüllt, ist stärker als das Schicksal –

– noch nicht und doch schon! und es war Wissen um das Herz einer unerfaßlich liebenden Ferne, die einversenkt ist in das Herzinnerste des Traumes, es war Wissen um das Ineinanderverströmen des Gleichen, Herz des Diesseits, Herz des Jenseits, ineinandergepulst und ineinanderschlagend, das göttliche Sinnbild eingeflammt in das menschliche zur gemeinsamen Sprache, zur Sprache des göttlich-menschlichen Bündniseides, zur Sprache der fortdauernden Schöpfung in Gebet und Aber-Gebet, aufsteigend und absteigend im Schöpfungsbilde, und es war das Wissen um diese Sprache der erlösenden Tat, um diese Sprache einer Liebesaufopferung, die so hoch über jeder menschlichen Aufopferung schwebt wie die Stimmjenseitigkeit der Allstimme über dem Stimmengewühl im Irdischen, wie die Liebesjenseitigkeit der Ganzheitserkenntnis über jeder Liebe, die von Mensch zu Mensch geübt wird, das göttlich-menschliche Herz eingeschlossen vom Gotte, eingeschlossen vom Menschen, den Gott und den Menschen umschließend; doch es war auch das Wissen um denjenigen, der – weil die irdisch vernehmbare Stimme stets eines Künders bedarf – zum Träger der Tat bestimmt ist und gleich dieser im doppelten Ursprung zu stehen hat, in irdischer Geburt aus unirdischer Zeugung, denn derjenige nur, welcher schon in seinem Ursprung dem Zufall enthoben ist, der vermag auch den Zufall wieder mit dem Wunder einer letzten Gesetzlichkeit zu vereinen, deren Macht selbst das Schicksal unterworfen ist denn derjenige nur, welcher selber aus dem Überschicksalhaften stammt und dennoch das Schicksalsunheil bis zur Neige ausschöpft, der ist auch begnadet, das Unheil wieder ins Heil zu wenden, der ist begnadet, zum Heilbringer zu werden, oh, ihm und nur ihm, dem gottgezeugten Heros menschlicher Gestalt, ist es Vorbehalten, den Vater durch die Brände des Unheils zu tragen, oh, ihm und nur ihm ist die Rettung des Vaters Vorbehalten, er nur darf den, der ihn gezeugt hat, auf die Schultern nehmen, hintragend ihn zu den Schiffen und zur heimkehrenden Flucht ins neue Land, ins verheißene, das stets die Heimat des Vaters gewesen ist. Noch nicht und doch schon! Das Land lag vor ihm im Wissen des gebietenden, des namengebenden Vateraufrufs, der das Göttliche dem Menschen einverleibt, das Menschliche dem Gotte einvergeistet, es lag vor ihm in Strahlung und Rückstrahlung, es lag vor ihm im Wissen um den Heilbringer und in des Heilbringers Wissen, menschlichkeitserfüllt; so lag es vor ihm, und die Brände des Unheils schienen zur reinen Opferflamme verwandelt, das Erstarrte gesprengt, der Grabstein der Mitte gehoben, das Gute vom Bösen geschieden und geläutert, Gott und Mensch zur wiedererstandenen Schöpfung erweitert, das Künftige, zukunftsgeheiligt in des Vaters Namen, zukunftsgeheiligt in des Sohnes Namen, zukunftsverlobt im Geiste – noch nicht und doch schon, das Verheißene. War das, was er sah, bereits Erkenntnis? war es die Erkenntnis des Traumes? war es bereits das Erwachen? Oh, es war noch diesseits der Grenze, und bebte der Traum an ihr, er hatte sie nicht durchbrochen; unerfaßbar war das Geschaute, es war nicht Erkennen, es war bloß Wissen, Traumwissen, Traumerinnerung, ferne Erinnerung an die niemals gehörte, immer erklingende Stimme des Einst, fernste Erinnerung an das niemals betretene, immer durchwandelte Land der Grenzjenseitigkeit, ferngroß, fernklein, der Ursprung, die Mündung, es war erinnerungsstark die unendliche Annäherung an die Grenze, doch es war noch Gebanntheit und bloß ein Beben, ein pochen des wartendes Leuchten. Und ebendarum, eben in diesem schauenden Wissen, in dieser höchst durchsichtigen Blindheit, die, ohne Erkenntnis zu sein, wie Form der Erkenntnis war, eine durchsichtige Binde vor seinen Augen, ja ebendarum, obwohl eingesunken in die Traumgefilde und von ihrem Emporwachsen überrankt, fand er sehr plötzlich sich auf den Gipfel eines außerordentlich hohen Berges gestellt, gleichsam herbefohlen, daß er über die Grenzen hinschaue, er, ein Erschauer, dennoch kein Verkünder, hingestellt und gehalten von ehern sanfter Hand, hineingehalten in ein Künftiges, unablässig Gewesenes, umpocht vom Pochen eines Herzens, das, eingeschlossen in ihm, doch als ein Größeres ihn umschloß, atmend vor Wirklichkeit; und von dem Pochen durchpulst, vermochte er die Arme aus des Kristalles Durchsichtigkeit zu lösen und sie aufwärts zu strecken, aufwärts zu den Leuchtkuppeln, in denen die Sterne glänzten und große Sonnen zu kreisen begannen, ein Stern über ihnen allen: hinschaute er über die Gefilde des Traumes, über die Gefilde der Länder, die vor-vorbestimmt waren der Schauplatz der Tat zu werden, Schauplatz waren sie seinem Schauen, unberührbar, unbetretbar, dennoch sein eigen von Urbeginn an, hinschaute er, der hier Festgebannte, der Traumesgebannte, der aus seinem Traum sich nicht scheiden, sich nicht entfernen durfte, hinschaute er über diese für ihn unberührbare, für ihn unbetretbare Landschaft, in die er mit seiner eigenen Traumstrahlung, mit seinem Traumleuchten sich hineinerstreckte, und Landschaft wie Traum überblickend sah er deren gegen seitige Überlagerung, sah er inmitten der Landschaft all die kristallinischen Gebilde, all die Strahlenkuben, Strahlenkreise, Strahlenpyramiden, Strahlenbündel des Traumes, sah er in den Traumesverschränkungen und Traumesunabsehbarkeiten der träumenden Lichtbahnen weithinerstreckt die Landschaft ein gebettet, erinnerungsreich, erinnerungsdurchsichtig, erinnerungsaufzaubernd; ja, sie war in den Traum eingebettet mit all ihren Tages- und Nachtzeiten, wechselnd zwischen Helle und Dunkelheit, aufblassend und abblassend unter der zwiefachen Dämmerung des Morgens und Abends, erfüllt von jedweder irdischen Seinsgestalt, erfüllt vom Gewühl aller Wesenheiten, er füllt vom Gewühl aller irdischen Stimmen, erfüllt von Rausch und von Qual und von Sehnsucht, erfüllt von der geschaffenen und gewordenen Schöpfung, erfüllt von der Stille der Ufer und der zitternden Felder und der vergehenden Gipfelgebirge, einsamkeitstragend die Höhe, stadttragend die Ebenen, friedenserfüllt und kriegserfüllt, erfüllt vom ruhenden Glanz menschlichen Seins und Hausens, erfüllt aber auch vom Knistern und Krachen der Unheilsbrände, endlos, endlos, endlos, alles durch wandelbar, nichts betretbar, Traum und Landschaft ineinander gebettet, ineinanderverglänzt, ineinanderverschattet, gemeinsam im Warten, gemeinsam in der Sehnsucht, gemeinsam in der Erwachensbereitschaft, harrend den zu empfangen, der sie durchschreiten und die Stimme der Erweckung bringen soll. Und auch er wartete, aufgehobenen Armes wartete er mit Traum und Landschaft, er blickte hin über die regungslosen Triften, auf denen regungslos das Vieh weidete, er vernahm die Stummheit der regungslos lodernden Brände, und kein Vogelflug durchzog die Äthergezelte; höher stiegen die Brände im Regungslosen, anschwoll das Getöse der Stimmenmannigfaltigkeit in dem unverbrüchlichen Schweigen, tiefer und tiefer wurde die Sehnsucht, still standen die Sonnen, und das Pochen des Herzens schlug schwerer und schwerer an die Wände der Grenzenlosigkeit im Innen und Außen –, oh, wann war das Ende? wo war das Ende? wann war das Unheil zur Neige geleert? gab es eine unterste Stufe des zunehmenden Schweigens? Und da war es ihm, als ob solch letztes Schweigen nunmehr erreicht sei. Denn er sah die Münder der Menschen, entsetzungsvoll klafften sie einander an, kein Laut entrang sich den trockenen Öffnungen, und keiner verstand mehr den andern. Sie waren sprachlos vor Schuldbewußtsein, schuldbewußt vor Sprachlosigkeit; es war die letzte Schweigensstufe im Irdischen, es war das letzte Schweigen des Menschen, und es sehend, wollte auch sein Mund sich zum stummen Entsetzensschrei öffnen. Doch es noch sehend, beinahe noch ehe er es gesehen hatte, sah er es schon nicht mehr. Denn in jähester Finsternis verschwunden war das Sichtbare, verschwunden das Traumleuchten, verschwunden die Landschaft, verschwunden die Brände, verschwunden die Menschen, verschwunden die Münder, und es war Nacht, zeitlos, weltlos, tonlos, die leerste Schwärze, die leere Nacht ohne Form, ohne Inhalt; leer und schwarz wurde das Warten, und selbst das Pochen erschwieg, aufgesaugt von der Leerheit. Die Neige des Seins war erreicht. Er stand vor der Grenze, er stand vor der Grenze des Schicksals, vor der Grenze des Zufalls, er stand vor der Grenze, entleert sein Warten, entleert sein Lauschen, entleert sein Blicken, entleert sein Wissen, aber in solcher Leere und Entleertheit wußte er, daß die Grenze sich öffnen werde. Sehr leise begann es, gleichsam als wollte es ihn nicht erschrecken. Es begann mit dem Flüstern, das er schon einmal gehört hatte, es begann in seinem innersten Ohr, in seiner innersten Seele, in seinem innersten Herzen, und es war zugleich um ihn herum, eindringend in ihn, herstammend aus der äußersten Finsternis, nachteinströmend, nachtausströmend, es war die nämliche stillgroße Gewalt des Tones, der er sich damals in Zerknirschung hatte unterwerfen müssen, es schwoll an wie damals, ihn erfüllend, ihn umhüllend, indes, es war nicht mehr der Zusammenklang vieler Stimmen, es war nicht mehr der Zusammenklang aller Stimmherden, nicht der Zusammenklang der ganzen Stimmenmannigfaltigkeit, sondern weit eher eine einzige, immer mehr sich vereinsamende Stimme, eine Stimme von so großer Einsamkeit, daß sie wie ein einziger Stern in der Dunkelheit blinkte, dennoch ein unsichtbarer, im Unerschaubaren erstrahlend, da der Ruf, je größer und vernehmlicher er anschwoll, wahrlich nicht minder groß vom unhörbar Unerlauschbaren unendlicher Unerforschlichkeit aufgenommen, ja aufgesaugt wurde: was sich vollzog, es geschah außerhalb des Sichtbaren und Hörbaren, es geschah außerhalb jeglicher Sinnenhaftigkeit, es geschah nächtlich und war trotzdem von gewaltig vernehmlicher Helle, es geschah im Wesenlosen und umfaßte trotzdem jedwede Wesensgestalt, oh, es geschah als Gleichgewicht, es geschah in unendlich unwahrnehmbaren Gleichgewichtsordnungen, die sinngebend, inhaltsgebend, formengebend, namengebend, alles Sein und alle Erinnerung umgriffen, das erzene Dröhnen des Meeres ebensosehr wie das silberne Säuseln des Herbstes, den Beckenschlag der Sterne ebensosehr wie das warme Atmen der Herden, den Flötenton des Mondes ebensosehr wie den Tau auf den Sonnenhecken der Kindheit, es war ein Erschauen im Unerschaubaren, ein Erlauschen im Unerlauschbaren; und dunkelheitsumflossen er selber, dunkelheitsumflossen das Gleichgewicht der Weltenvielfalt und der Welteneinheit, in dieser letzten Gleichgewichtssatzung, die allein Wirklichkeit ist und den Zufall aufhebt, in diesem bildlosen Sinnbild jedweden Sinnbildes, in dieser schönheitsentleerten Schönheit hörte er, nein, er hörte nicht, er sah die Stimme, die es bewirkte, und sie war nicht eine der Stimmen, die sich, selber der Welt zugehörig, in das Gefüge der Weltdinge einschieben, um sie aneinander sowie am Worte zum Sinnbild zu machen, sie war nicht weltliche Wahrheit, weder eine der weltlichen Wahrheiten noch deren Gesamtheit, nein, unweltlich-unhörbar-unsichtbar war sie, außerweltlich, sie war das außer weltlich Wahrheitsbewirkende, das außerweltlich Gleichgewichtsbewirkende, sie war das Außen schlechthin, alle Kraft und alle Weite des Außen heranbringend, da sie sich selbst heranbrachte, das Innen umschließend, um vom Innen umschlossen zu werden, das allaufnehmende Gefäß der Sphären; so vernahm er die Stimme, hörte sie sehend, sah sie hörend, die Stimme, in deren Wortschatten für immer die Ruhe und Heimat ist, die Stimme der Zeitlosigkeit und der ewigwährenden Schöpfung, die Richterstimme des Anfangs und des Endes, die Gleichgewichtsstimme außerhalb des Traumes, die Geborgenheitsstimme, und sie war Erz und Kristall und Flötenton in einem, und sie war Donnern und die Übermacht des Schweigens, und sie war alles und ein einziger Laut, befehlend und milde, verzeihend und unterscheidend, ein einziger Blitz, oh, eine unsäglich sanfte Blendung, still vor Endgültigkeit, oh, so offenbarte sie sich, Gnade und Eid zugleich, Offenbarung, doch nicht als Wort, nicht als Sprache, wohl aber als Sinnbild des Wortes, als Sinnbild jeder Sprache, als Sinnbild aller Stimmen, als ihr Urbild, schick salsüberwindend als heiliger Vateraufruf, sie offenbarte sich im Klangbild des verkündendenTuns:„ Öffne die Augen zur Liebe!“

 

Ein Tun, und es wurde ihm getan. Er mußte die Augen nicht öffnen, die Milde öffnete sie ihm. Er mußte nicht atmen, es atmete ihn. Sinnbild war es gewesen, aber im Bilde war die Nacht sich selbst wieder zurückgegeben, und im Sinnbild der Stimme kehrte die Stummheit zur Stille ein, als wäre Stille der erste Inhalt, mit dem die leere Form sich wieder neuerfüllen sollte. Und kraft dieser Erfülltheit strömte des Traumes Richtungsvielfalt wieder zurück in die irdische Räumlichkeit, strömte aus dem Unräumlichen zurück in den Raum, wurde zur strömenden Nacht, wurde selber der Raum, wieder von Nachtzeit durch strömt. Nichts war neben der Stille vernehmbar, nichts vernahm er mehr daneben, nichts in ihm, nichts außer ihm; das Nachtdurchtränkte durchflutete ihn, nachtumgeben war die Stille. Sogar das Ölflämmchen der Ampel war verloschen, gleichsam von der dunklen Sanftheit aufgesogen, damit die alleserfüllende Stille nicht von der kleinen, harten Lichtspitze unterbrochen und gestört werde. Desgleichen war das große Pochen des Traumes im Verlöschen, war im Verebben und verebbte weiter, einschwindend in ein silbernes Rieseln, das im Nirgendwo anhob, im Nirgendwo verlief, und doch von dem Wandbrunnen herstammte. Umspült von Stille, wurde das Unerhaschbare zwischen Vergangenheit und Zukunft wieder zum gegenwartsgroßen Jetzt, und leise pendelte die Waage der Zeit, leise klirrten die Silberketten ihrer Schalen, die leise sich senkend, leise sich hebend, wahrheitswägend Sinnbild um Sinnbild empfingen und entließen, Sinnbild um Sinnbild wägend erschufen; leise klinkte das Verbindende im sanften Strömen wiedererfüllten Seins. Er füllt von bilderloser Stille, dennoch bild-erfüllt. Und die stillheitsgetragene Nacht, die vor seinem geöffneten Auge geschah, wiederaufklingend ihr stillsanfter Glockenton, wiederentfaltet sein Auge, wiederentfaltet er selber, wiederentfaltet die Nacht, sie, die geheimnisvoll blind vor Stille, schattenträchtig und groß und lieblich in wiedergefundener Natürlichkeit dahingetragen wurde, sie trug ihn aufs neue dahin, in ihrem Gezweige, in ihrem Gefieder, in ihren Armen, in ihrem Atem, an ihrer Brust. Er lag. Er lag, er ruhte, er durfte wieder ruhen. Allein, eben weil er ruhte, wußte er auch, daß die Stille des Nachtgeschehens nur Auftakt für anderes war und daher ihrem Ende zu gehen mußte: denn nicht nur das Räumliche war aus dem Unräumlichen wieder zusammengeflossen, auch sein Körper war ihm von dorther wieder zugeflutet worden, körperhaft lag er in dem Bette, körperlicher und körperlicher wurde sein Fühlen, körperlich sein Ruhen, und in seinem Ruhen fühlte er, daß das Fieber gewichen war, wohltuend und leicht die kühle, stille Welle eines jeden Nacht-Endes, so weit er sich nur zurückerinnern konnte. Und körperlich-irdisch die Stunde des weichenden Fiebers, wurde auch diese Nacht zur fortschreitenden Stunde, die ihrem Rande zueilte, wurde zur Stunde irdisch-fortschreitender Erfülltheit, irdischfortschreitender Gestaltetheit – irdische Nacht. Noch geschah nichts, ungebrochen hielt die Nachtdunkelheit an, nur die Stille verblaßte, verlor ihre Sattheit, erhielt kaum merkliche Linien eingezeichnet, sehr unsicher, nur einem sehr scharfen Hinhören vernehmlich, die Stille schien sich von ihren äußersten Grenzen her aufzublättern, aufzulockern; dunkelheitsumflossene Schöpfung in sanftem Werden wurde von liebend leiser Hand dem Ungeschehen der Stille eingezeichnet. Namen um Namen erstand unter dem leisen Nachtaufruf, fügte sich zur Einheit mit dem Gedächtnis, wurde erinnerungsfest, wurde der Schöpfung in Erinnerung teilhaftig. Krähte ein Hahn in der Ferne? bellten die Hunde dort? –, die Postenschritte, als seien auch sie vom Unräumlichen wieder hergegeben worden, machten draußen ihre Runden um den Palast wie vordem, deutlicher rieselte der Wandbrunnen, als hätte er an Wasserreichtum gewonnen, und der Rahmen des Fensters umfing aufs neue die Sternenfülle, in ihrer Mitte glanzflimmernd das Haupt des Schlangenbeschwörers. Atmungserweckt die Stille, atemerfüllt die Nacht, wuchs aus Nacht und Stille das immer Vorhandene, der atmende Weltenschlaf. Aufatmete die Dunkelheit, wurde gestalteter und gestalteter, kreatürlicher und kreatürlicher, ir discher und irdischer, wurde schattenreicher und schattenrei cher. Erst gestaltlos, kaum erkennbar, gewissermaßen als Ge räuschpunkte, tonzerrissen oder tonvereinzelt, doch dann sich verdichtend und zur Hörform sich versammelnd, näherte sich das Kreatürliche! ein Knarren und ein rumpelndes Ächzen war es, und es rührte von den Bauernkarren her, die in immer enger werdender Reihe angefahren kamen, die Lebensmittel zum Morgenmarkt zu bringen; schlaflangsam bewegte es sich vorwärts, Rumpeln der Räder in den Pflastergeleisen, Knarren der Achsen, knirschendes Anstreifen der Felgen an den Randsteinen, Klicken der Ketten und Geschirre, aber manchmal brummte schnaubenden Atems ein Ochse, manchmal ertönte ein schläfriger Ruf, und manchmal fand sich der schwerweiche Ziehtritt der Tiere zu einem Gleichtakt zusammen, der wie ein atmender Marsch war. Das Atmende durchwanderte den Atem der Nacht, mitwanderten Feld und Garten und Nahrung, mitatmend auch sie, und der All-Atem öffnete sich, die Kreatur zu empfangen, öffnete sich zur Welteneinheit, die liebeempfangend die eigene Gestalt empfängt. Denn Liebe beginnt in Atem, und mit dem Atem steigt sie auf ins Unsterbliche. Dort drunten fuhren die Bauern, schlafköpfig kopfnickend fuhren sie auf den mit Krautköpfen und Kohlköpfen hochbepackten Gemüsekarren, und sank einem von ihnen das Kinn allzutief auf die Brust, dann schnaubte er wohl wie das Vieh im Schlafe. Pflanzliches und Tierisches sind dem Schlafe des Menschen beigegeben, und im Tode ist das Antlitz des Bauern wie steifer Lehm. Aus dem Schicksalslosen kommend, ins Schicksalslose führend, kaum mehr dem Zufall anheim gelassen, knapp am Schicksalsrande, am Rande des Schlafens geht der Weg des Bauern; glückt sein Gebet, das zufallsenthebende, so sind Erde, Pflanze, Tier schicksalslos für ihn, und mag er die Sterne auch bloß dann sehen, wenn er zum Markte fährt oder sich um die nächtlich kalbende Kuh kümmern muß, mag er auch alsogleich in das traumlos-lichte Schlaftum seiner Nächte und Tage zurückfallen, er bleibt liebend dem Schicksalsenthobenen verhaftet, das er als glattgoldenes Korn durch seine Finger rinnen läßt, das er mit sacht streichelnder Hand am Fell des Tieres berührt, das er mit zerkrümelndem Griff als fruchttragende Erde prüft, so sehr liebend, so sehr erkennend, oh, Boden, Tier und Frucht so sehr umfassend, daß er selber von liebend-erkennender Hand umfaßt, umfangen, geborgen wird, ruhend gehalten von ihr, die sich um ihn schließt und öffnet mit den Gezeiten des Jahres und der Tage, daß er, eingeschmiegt in die Hand, eingeschmiegt in ihre Gezeiten, eingeschmiegt in ihre ruhende Wärme, all sein ruhendes Sein von ihr empfängt, ruhend sogar noch im Wissen um ihre künftige Kühle, aus der er dereinst zerkrümelt hinabgleiten wird in den schicksalslosen Schlafschoß des Beginns, erd-eingestorben der Landmann, aber sein Atem, der unirdisch freigewordene, der fessel-entstreifte, steigt auf ins Außen, ins Stimmunsichtbare, ins Göttliche! dort drunten fuhren die Bauern, fuhren vorbei und dahin, ein Gefährt nach dem andern, auf jedem hockte einer, schlafend, kopfwackelnd, schnarchend, kaum mehr Schicksal, kaum mehr Zufall, ein jeder im kreatürlichen Nachtkreis, so fuhren sie, alt oder jung, vollbärtig, stoppelwangig, glattgesichtig, so fuhren sie, wie ihre Väter und Großväter und Vorväter schon gefahren waren, einverleibt der großen Ruhe ihrer Geborgenheit, ruhend einverleibt den sie haltenden großen Gezeiten, fuhren in der Ruhe ihrer schicksalüberwindenden Geduld, sie fuhren schlafend, uneingedenk der Stimme, die über ihnen schwebte, die ihnen dämmerndes Sehnen, ja Gewißheit war, und deren sie trotzdem kaum achteten, weil es im zeitlosen Ablauf von Geschlecht zu Geschlecht keine Fristen gibt und weil es gleichgültig ist, ob die Erfüllung dem Vater oder dem Enkel oder dem fernsten Urenkel zuteil wird; von einem Tun eingeschlossen, das größer war als sie, und das sie mit bedächtiger Liebe in sich einschlossen, fuhren sie bedächtig durch die Dunkelheit dem Nachtrande zu, und sie durften schlafen. Er aber, einstens gleichfalls ihnen zugehörig, er, einstens gleichfalls ein Bauer, er lag hier, abgeschieden von ihnen und abgeschieden von der Erde, abgeschieden von Pflanze und Tier, er, nur noch dem Schicksal verhaftet, er lag hier, ein Nachtseher: oh, in eines jeden Menschen Seele ist ein Tun eingesenkt, schier unerreichbar, ein Tun, das größer ist als er selber, größer als seine Seele, und nur derjenige, welcher sich selbst erreicht, der erreicht in solch letzter Todesbereitschaft auch sein eigenes Tun, der wacht wachend über den Schlaf der sterblichen Welt. Oh Heimkehr, oh Wachen! Wo war es?! wer wachte über die Welt, wer wachte über jene, die dort durch die Dunkelheit schlafend dahinfuhren? tat es die Stimme? tat er es, da er der Gnade gewürdigt worden war, die Stimme zu vernehmen? war er nun selber zum Wachen bestellt? Nimmermehr! nimmer mehr war er dazu fähig, er, der Hilfsunfähige, der Dienstunwillige, der Wortemacher, der sein Werk vernichten mußte, weil das Menschliche, weil menschliches Tun und menschliche Hilfs bedürftigkeit ihm so wenig bedeutet hatten, daß er davon nichts hatte liebend festhalten oder gar dichten können, und alles unaufgeschrieben geblieben war, lediglich unnütz zur Schönheit verklärt und verherrlicht; welche Vermessenheit war es zu denken, daß er da zum Wachen bestellt werden sollte, ehe der wahrhaft Wachende, der Verkünder der Stimme erschienen ist! War es also noch immerfort nichts als bloßer Traum gewesen? war ihm die Stimme wirklich in all ihrer Wirklichkeit zuteil geworden? warum war sie dann erschwiegen? wo war sie? wo war sie?! Er fragte, er fragte, er fragte! er fragte noch nach ihr, noch immer und doch schon – er fragte nicht mehr! Er fahndete noch nach ihr, noch immer und doch schon – sein Suchen war nicht mehr Suchen! Denn das Geoffenbarte, das er nicht mehr zu glauben vermeinte, war überall vorhanden, er vernahm es überall; er vernahm es im Ächzen der Wagen, im lässigen Ziehgang der Tiere, in den schlafenden furchigen Bauerngesichtern, in ihrem Atmen, im Atmen der Dunkelheit, im Atmen der Nacht, und alles, das Schicksalslose wie das Schicksalstragende, das Irdische und das Menschliche, war eingegangen in ihn, war eingegangen in sein Tun, war auch sein Schicksal, war es so sehr, daß dies alles, obzwar unaufgeschrieben, obzwar für immerdar ungedichtet, die Verheißung der Unverlierbarkeit verliehen bekam, die Verheißung einer unendlichen Weitergabe in unendlich weitergegebene Liebe, bleibend vor lauterer Sanftheit für immerdar und ewiglich, tränenschwer lauschend die Nacht, da sie verging. Schlaf und Nichtschlaf wurden eines, Anfang und Ende zugleich, Quell und Ursprung, Wurzel und Krone, der aufflutende Laubbaum der Sphären, in dessen Geäst die Menschheit ruht, mit Schicksal betraut und doch ihm enthoben. Es war, es war schon, und es war noch nicht. Und einverbunden der Ganzheit, von ihrem Schicksal umgeben und es in dem seinen tragend, ruhte auch er, fühlte er glückhaft die Verbundenheit, fühlte sie körperlich mit allen Fasern seines fieberbefreiten Seins, fühlte die glückhafte Kühle, die ihn zwang sich fester in seine Decke zu wickeln, fühlte glückhaft die Zeit, die durch die wiedergeöffnete Nachtwelt strich und die Kühle mit sich führte, fühlte glückhaft den leichtgewordenen Atem, eingebettet in das rieselnde Dunkelheitsatmen aller Weltenbrunnen, fühlte das Murmeln der Welt, fühlte das Natürliche. Kühler und kühler wurde das Rieseln, kühler wurden die Sterne, kühler ihr Raum, kühler das Hörbare darin. Der Wagenzug unten hatte sich mählich gelockert, die anfahrenden und weiterfahrenden Gespanne lösten sich in ihren Geräuschen voneinander, ihre Abstände wurden größer, und schließlich gab es nur noch einige wenige Nachzügler. Und je größer die Pausen zwischen dem Fahrgelärm wurden, desto deutlicher wurden sie von etwas ausgefüllt, das wie Rauschen war, das silberhell breit in der großen Dunkelheit webte, es war, erwartet und erwartungsvoll, es war wogenrieselnd das Meer, rauschend im Nächtlichen, dennoch schon aufgerufen vom herannahenden Morgen. Vielleicht, oh, vielleicht täuschte er sich – fast erschrak er – vielleicht betrog ihn sein Hören, vielleicht war er bloß nochmals zur Selbsttäuschung bereit, vielleicht war es bloß Sehnsucht, bloße Sehnsucht des Herzens, Meeressehnsucht, sehnend, daß im Rauschen auch die Heilsstimme mitaufrausche, damit er Zwiesprach mit ihr halten könne, damit sie unwiderlegbar werde in der Kraft des Rauschens, unwiderlegbar ihre Verkündigung in der Gewalt des Natürlichen – doch nein, oh nein, es war das Meer, es war des Meeres tritonisch-unermeßliche Wirklichkeit, und das unsagbar-unhörbar geoffenbarte Tun der Stimme webte in dem mondlichen Silbergetöse, webte ilm unabzählbaren Sturz der Wogen, webte im Entfesselten unten und im Befreiten oben, webte in der Dunkelheit und in dem Lichtschleier, mit dem das Nächtliche sich selber zu verlöschen begann, webte in den ver blassenden Sternen, nein, mehr noch, mehr noch: erfüllt von der Stimme lauschten die Gewässer, es lauschten die Meere, die Sterne, es lauschte die Dunkelheit und alles Menschliche, das Schlafende wie das Erwachende, es lauschten alle Welten, sie lauschten sich selber in allem was sie erfüllte. Natürliches fügte sich zu Natürlichem, und im Zusammenfügen war es Liebe. Gab es noch ein Böses? war der Schiedsspruch bereits gefällt, und war damit das Böse bereits aus geschieden? die Stimme, ein verwoben ins All, gab keine Antwort, und fast war es, als sollte Antwort erst vom Tage gebracht werden, als wäre jetzt alles Erwartung, erwartend das Tagesgestirn, als wäre nichts daneben mehr zulässig. Die Nacht sammelte sich um ihr Ziel, sie wurde zielgerichtet, und ihre Schwärze wurde der Weichheit entkleidet; das Sternengeflimmer draußen begann ins Grünliche zu spielen. Unbeweglich in der Dunkelheit stand die Luftfarbe, unbeweglich Ding um Ding aus dem Schatten heraustastend, und Zoll um Zoll vom Fenster her wurde das Zimmer zum Zimmer, wurde Wand wieder zur Wand. Umblinkt von den letzten Sternen im Fenster ragte davor der Kandelaber schwarz wie ein entlaubter Baum, behängen sein Geäst noch mit Nachtresten. Und in dem Lehnstuhl im Erker ruhte, undeutlich auch er noch, dennoch schon erkennbar, schlafend der Knabe! er hatte die Beine unter den Sitz gezogen, das Gesicht in die Hand gestützt, Schatten waren seine dunklen Haare, unsichtbar die hellen Augen, verborgen unter den Schatten der geschlossenen Lider, aber sichtbar war sein Lauschen, lauschend dem, was er im Schlafe sich selbst verkündete, leidend und leidenlösend, hilflos und helfend, begehrend und begierdelos, Liebe ohne Lustgier, der ungeborene Engel im irdisch geborenen Menschen, der Schlafende. Oh, vergehende Nacht, die bis zum letzten Atemzug den Schlafenden dahinträgt, weiter und weiter, unendlich in ihrem Gezweige, in ihrem Gefieder, unendlich ihn tragend in ihren Armen, an ihrer Brust. Nochmals spannte sich der große Bogen der Nacht vor ihm aus, anhebend mit dem rötlichen Höllendunst und dem Stimmengetümmel vor dem Fenster, ansteigend zu den Kratern aller Tode, begleitet von allen Todesfratzen und allem Todesgekreisch, abstürzend zur Leere zerknirschtesten Nichts, wiederaufgenommen jedoch von dem befehlend sanften Namensaufruf der verkündenden Stimme, um nun, ein verklingender Glockenton, in das morgendlich einsickernde Licht zu versickern, eingemündet in das Licht und mit ihm zur Dämmerung verfließend, dämmerungsverflossen. War es immer noch das nämliche Fenster, vor dem es geschehen war, vor dem es geschah? Vergängliches war aufgeklungen, war abgeklungen, war aufgerollt, war abgerollt, und war zu Unvergänglichem geworden, vergänglich war der Tag, der vor ihm aufstieg, und er blickte schon längst nicht mehr hin; verschleiert war sein Auge, obwohl es geöffnet blieb, tränenverschleiert ohne Tränen, allein, durch die Verschleierung hindurch sah er blickfremd den werdenden Tag, sah er die Dämmerung, sah er sehr eindringlich, wie sie sacht ihre farblose Farbe, Schicht um Schicht, auf die Dächer da draußen legte, er sah es und sah es nicht mehr, sein Sehen war zum Spüren geworden, und in diesem Spüren, mit diesem Spüren wurde ihm der Tag geboren, ihm zu eigen werdend mit seinem neuen Licht: aufwuchs die Morgenfrühe, sie wehte sich ihm zu mit der wachsenden Reinheit ihres Geruches, mit ihrer sehr deutlichen, sehr lichtgrauen Klarheit, durch die sich, ohne sich mit ihr zu vermischen, die dünnherben Rauchfäden der ersten Herdfeuer zogen, sie wehte sich ihm zu in morgendlich heiterer Schärfe mit dem silbrigen Salzhauch des Meeres, silbrig-leicht aufgestiegen aus dem fernleisen Silberrauschen, aufgestiegen aus dem ersten Glänzen des kühlfeuchten Strandes, der klarsandig und klarsteinig, bespült von morgendlichen Silberwellen, für die Aufnahme des Morgenopfers vorbereitet war, sie wehte sich ihm zu, entfaltet und entfaltend, als das Natürliche, das zur wiederanhebenden Schöpfung wird, und die Entfaltung empfangend, von ihr empfangen, spürte er sich von ihrem rieselnden Tun flutend und aberflutend hinweggetragen, eingefaltet in ihren rauschenden Hauch, gleichsam auf Fittichen, die sich kühl anfühlten, gleichsam in einem großen Atem, dennoch irdisch geborgen, gleichsam ruhend im Schatten-Atem von Lorbeergebüsch, atmend nach einer Regenstunde, regendunkel und tauklar und erquickend. So trug es ihn dahin, weiter und weiter, und dort, wo die Fahrt sich senkte, mild landend im blonden Erntegewoge der Felder, dort wo die Ähren wehen, Trauben am Dornbusch hängen und das Rind neben dem Löwen lagert, dort stand ein Engel vor ihm, fast kein Engel, eher ein Knabe, trotzdem ein Engel, eingehüllt in die kühlen Fittiche des Septembermorgens, dunkellockig, helläugig, und seine Stimme war nicht jene, die als verkündende Tat sinnbildhaft das All erfüllt, nein, sie war wohl eher ein ganz fernes Echo des darüber schwebenden sinnbildlichen Urbildes, sie war ganz leise, da er sprach, und trotzdem der erzene Schatten von Äonen: „Tritt ein zur Schöpfung, die einstmals war und wieder ist; du aber sei Vergil geheißen, deine Zeit ist da!“ Dies hatte der Engel gesprochen, furchtbar vor Milde, tröstlich vor Trauer, unerreichbar vor Sehnsucht, so hatte er es aus dem Munde des Engels vernommen, hatte es gehört als Sprache innerhalb der Sprache in all ihrer irdischen Einfachheit, und es hörend, zum Namen gerufen und dem Namen vereint, sah er nochmals das Feldergewoge, hingebreitet von Gestade zu Gestade, unendlich die Wellen der Frucht, unendlich die Wellen der Gewässer, bestrichen sie beide vom kühlschrägen Licht ersten Morgens, kühlglänzend die Nähe, kühlglänzend die Ferne, er sah es, und dann folgte die Süße des Alleserkennens und Nichtserkennens, des Alleswissens und Nichtswissens, des Allesspürens und Nichtsspürens, es folgte die Süße des Allesvergessens, es folgte traumlos der Schlaf. –