Karl Grünberg
1892 - 1952
Kaiserwetter
1931
Erster Teil
|
|
____________________________________________________________
| |
Es beginnt
Briefträger Tölle sah auf die Uhr, drehte sie in der Hand hin und her.Soll ich nun gehen oder rasch mal telefonieren, daß Mußmann mich vertritt?So dachte Emanuel Tölle am 21. Juni, nachmittags sechs Uhr. Er saß in der Wohnstube am Fenster und sah gedankenlos auf den Engelbosteler Damm hinunter. Eine Beerdigung ging vorüber, ein kurzer Trauerzug in Zylindern und Gehröcken. Er schob sich zwischen klingelnden Straßenbahnen und fluchenden Kutschern hindurch, in Sonne und Staub, durch Lärm und Alltag. Kein Kranz, keine Blume lag auf dem Sarg. Judenbeerdigung, dachte Tölle und sah auf den Kupferstich an der Wand in goldenem Rahmen. Der Schutzengel“ hieß das Bild. Weißbehemdeter Engel mit Gänseflügeln geleitete ein zartes Kind über den Abgrund.Die Tür zum andern Zimmer öffnete sich.Herr Tölle... gehn Se ruhig, das kann noch lange dauern... ich geb schon Bescheid, die Lage ist prächtig...“Hebamme Lippelt schloß behutsam die Tür zum Schlafzimmer, in dem Luise Tölle ihr erstes Kind erwartete. Die Wehen dauerten schon zwölf Stunden.Aber Tölle mußte zum Nachtdienst, der um sieben Uhr begann. Als er die Treppe hinunterging, öffnete sich in der ersten Etage eine Tür. Die dicke Witwe Müller machte ein bedauerndes Gesicht.Wie geht's... Herr Tölle?“Weiß nicht, muß zum Dienst.“Unten auf der Straße war es noch sehr heiß. Die Sonne brannte, aber er war Schlimmeres gewohnt als Sergeant der Landwehr, zwölf Jahre bei den Vierundsiebzigern stramm gedient. Die Bult [Stadtteil von Hannover] war seine zweite Heimat, die Manöver Lichtpunkte seines Daseins, die Kaisermanöver Erfüllung aller Sehnsüchte gewesen. Beinah von Majestät angesprochen, wenn nicht Hauptmann Wülfing mit einer Meldung dazwischengekommen wäre, dachte er immer mit inniger Begeisterung an den Dienst unter der Fahne. Daß Majestät die Absicht hatte, mit ihm zu sprechen, konnte er durch Zeugen belegen. Emanuel war erfüllt von dem Bewußtsein, daß ein Gott lebt über den Sternen und auf ihn herabsah. Was ihn nicht hinderte, das irdische Leben zu genießen, es zu schmecken und davon zu naschen.Die Mädchen in ihren sommerlich durchscheinenden Blusen ließen ihn erschauern, trotzdem er vieles erlebt hatte und glücklich verheiratet war. Wie er so die Artilleriestraße hinunterging, vergaß er die Kindsmutter und den Nachwuchs, der ihm bevorstand, sein Schnurrbart sträubte sich vor Vergnügen, und bei Wöltje schnell mal einen zu kippen war entschuldbar für einen so hart geprüften Mann. An der Christuskirche begegnete ihm ein hübsches Mädchen, machte heitere Augen und zeigte freigebig plastische Formen. Das Leben geht eben weiter, dachte Tölle.In der Artilleriestraße hatte Hermann Wöltje eine kleine Wirtschaft. Es gab dort echte Lüttje Lage, das Nationalgetränk der Hannoveraner, schwer zu trinken für Auswärtige, da es darauf ankommt, gleichzeitig einen hellen Kornschnaps und ein Glas Lagerbier in die Kehle zu gießen. Wöltjes prima Bockwurst und 1a Aufschnitt waren zu rühmen, ebenso das Spezialgericht, Klöterjahn“ genannt, ein wohlschmeckendes, aber schwerbekömmliches Essen, welches gebieterisch nach einem nachfolgenden Schnaps verlangte. Eingeweihte behaupteten, daß der Klöterjahn von Jahr zu Jahr schlechter würde. Ob es nur Gerede war oder Neid und Verleumdung, weiß man nicht. Vielleicht hatte auch Mutter Wöltje das Geheimnis der Zubereitung von echtem Klöterjahn mit in ihr Grab auf dem Engesohder Friedhof genommen. Wöltje wurde nach ihrem Tode (sie starb am siebenten Kind) das Opfer von Haushälterinnen, die schlimmer waren als Ehefrauen.Tach, Tölle.“ – Tach, Wöltje.“Na, wie geht's?“Ach, da muß man Geduld haben, das ist zum Auswachsen...“Tjawoll... tjawoll“, brummte der Wirt und ließ ein Bierglas recht schön vollaufen. Als er den Schaum mit der Schaumkelle abschippte, meinte er: Müssen wir alle mal durchmachen.“Wöltje war übrigens ein Menschenhasser, ein Nörgler und ein Sozialdemokrat. Wenn das herauskäme, dürfte der königlich preußische Beamte Tölle nicht mehr ins Lokal kommen. Aber für Tölle war es sehr gut, bei Wöltje zu verkehren. Da war mal andere Luft als in den Lokalen am Postgebäude. Tölle war für Abwechslung.Ich komme vielleicht nachher mal wieder vorbei“, sagte Tölle und ging. Draußen schlug es schon halb sieben. Mächtig spät, denkt er, aber als er laufen will, fällt ihm ein, daß er heute doch entschuldigt sei. Wäre ja noch schöner!Am Bahnhof lief ihm Mußmann in den Weg: Mensch, mach fix.“ Tölle meinte, von ihm könne man heute nicht soviel verlangen. Mußmann lachte: Ich glaube, es hat schon mal jemand vor dir ein Kind gekriegt.“Im Dienstzimmer war Hochbetrieb. Tölle ging an den Sortiertisch und arbeitete. Oberpostschaffner Marahrens kam um neun. Das war sein Freund. Marahrens ging gleich zu Tölle: Na...?“Das war wenigstens Anteilnahme. Um halb zehn klingelte das Telefon. Tölle stürzte hin.Es war dienstlich. Er sagte ja, ja... nein, jawoll...“ und das ist in Ordnung“. Er sah draußen auf dem Bahnhofsplatz die Menschen laufen. Auf der Eisenbahnüberführung stand eine Lokomotive und pustete. Irgendwo schrie ein Kind. Tölle dachte an zu Hause.Wo nur der Anruf der Hebamme bleibt? Die Nummer hat er ihr genau aufgeschrieben. Ob der Vorsteher wohl Krach macht, wenn angerufen wird mitten im Dienst? Das ist verboten. Paragraph elf der Hausordnung, Absatz vier.Es wurde zehn, elf, halb zwölf. Um zwölf Uhr stand Tölle auf, ging zu Marahrens ins Nebenzimmer: Du, ich geh mal in die Kantine, en Happenpappen essen ... wenn angeläutet wird...“Ja, ja, geh schon... ich weiß Bescheid... keine Bange“, lachte Marahrens und kaute an seinem Butterbrot. Der Geruch kitzelte Tölle angenehm. Er hatte Hunger, fragte: Aus Bennigsen ...?“ – Tjawoll... Landleberwurst.“Unten in der Kantine war der Budiker Witkop gerade beim Aufwaschen. Höchste Zeit“, brummte er, mach gleich dicht.“Als er von Tölle die familiären Umstände erfuhr, wurde er gutmütig. Er machte sogar noch mal das Gas an und ließ eine Bockwurst ziehen. Ein kleines Helles extra und gratis zur Feier des Tages. Wird schon alles werden.“ Die Wurst schmeckte gut, fast wie eine von Ahrberg. Nach zehn Minuten war Tölle wieder oben im Dienstzimmer.Es war neue Post zum Sortieren da. Es dauerte bis zwei Uhr.Tölle sah auf den Bahnsteig 3 des Hauptbahnhofes. Der Bremer Zug stand da, abfahrtbereit. Tölle sah, wie sich die Menschen in Knäueln vorwärtsbewegten. Die Reisesaison hatte begonnen. Die Kaffeebude war aufgemacht. Tölle glaubte den Kaffee zu riechen. Das würde aber bei ihm noch dauern, bis er Kaffee bekam. Ach Gott, wo blieb bloß der Anruf?Tölle beneidete die Reisenden, die da sorglos und übernächtig auf dem Bahnsteig umherliefen. Wie gerne würde er auch mal reisen. Seit der Militärzeit hatte er das nicht getan. Als Soldat war er ja öfters durch Deutschland gefahren, aber im Viehwagen. Aber wenn er las Nordseebäder“ oder Berlin“, dann bekam er Reiselust.Tölle saß an seinem Tisch, die Augen fielen ihm zu, er war den Aufregungen des Tages nicht mehr gewachsen. Sein einfacher und gerader Sinn war verwirrt. Frau und Kind wurden ihm zu erdrückenden Tatsachen, mit denen er sich schwer abfinden konnte.Emanuel Tölle, der Sohn des Tischlers Friedrich Bernhard Tölle aus der Stadt Linden vor Hannover, war ein schüchternes und etwas zurückgebliebenes Kind gewesen. Erst beim Militär ging eine dünne Kruste von ihm ab, darunter schimmerte der Mann Tölle, der Staatsbürger und Beamte, aber in ihm schlummerte noch etwas anderes. Der Mensch Tölle, von dunklen Sehnsüchten und ausschweifenden Träumen verfolgt. Manchmal erschrak er vor sich selbst, an weichen Sommerabenden oder in dunklen Nächten, wenn er Frauen und Mädchen vor sich sah, wenn er finster vor Schnaps und Bier nach Hause ging und jede Straßenhure ihn verlockte.Um zwei Uhr fünfundvierzig rasselte das Telefon, Tölle schlief. Marahrens kam aus dem Nebenzimmer: Mensch ... Tölle ... wach auf!“ Schlaftrunken hörte er die Stimme von Minna Lippelt, der Hebamme: Ein Junge ... acht Pfund ...!“Die kürzeste Nacht des Jahres war vorüber. Der neue Tag kam zögernd hinter den Häusern des Raschplatzes herauf. Eine rosarote Wolke stand über dem Bahnhof, als Vater Tölle nach Hause ging. |