BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Karl Grünberg

1892 - 1952

 

Kaiserwetter

 

1931

 

Erster Teil

 

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Der Knabenlehrer Jünger

 

Der Lehrer Fritz Jünger lebte seine irdischen Tage in Hannover. Sie sind ein Teil der Ewigkeit, in der er fortleben wird im Gedächtnis von Generationen.

Sein Herz schlug unter einem Jägerhemd und unter einer grauen gestrickten Weste fünfundsechzig Jahre lang. Es war störrisch und unberechenbar, es schlug gelassen in Augenblicken des Schicksals und galoppierte bei geringfügigen Anlässen. Fritz Jünger war ein Mensch und wurde ein Begriff.

Sein Name erheitert heute noch bärtige Männer und gibt ihnen Anlaß zu fröhlicher Erinnerung. Die Geschichten von ihm und um ihn sind ungezählt, immer neue kommen hinzu, manche sind wohl erfunden, aber alle sind im tiefsten Grunde wahr.

Fritz Jünger war Lehrer am Lyzeum, das später königliches Gymnasium wurde. Er nannte sich Knabenlehrer und trug diesen Titel, der keiner war, so stolz wie ein General seine Orden. Der Knabenlehrer Jünger unterrichtete die Kinder im Alter von sieben bis zwölf Jahren. Seine Fächer waren Rechnen, Naturgeschichte und Geographie. Er hatte die Väter unterrichtet, und die Söhne waren für ihn nur ihre Wiederholung. Eine Generation ging, die andere kam, nur er blieb. Fritz Jünger in weitem schlotternden Anzüge, in ausgebeulten Hosen, mit einem schwarzen Regenschirm bewaffnet, den er wie ein Gewehr geschultert trug. So blieb er sommers und winters, sah die Errungenschaften der Neuzeit mit Spott und verachtete den Fortschritt.

Man glaube nicht, daß Fritz Jünger ein trockner Pedant gewesen sei. Er war ein großes Kind mit wirrem grünlich-grauen Spitzbart und kleinen stechenden blauen Augen. Er glaubte nicht an die Wissenschaft und ihre Erkenntnisse. Er glaubte an Gott, weil es ihm selbstverständlich war, das Irreale für wirklicher zu nehmen als die greifbare Realität der Menschendinge.

Staub und Schutt lagen auf seinem Herzen, er tat nichts dagegen. Das Leben hatte ihn nicht enttäuscht, da er nichts erwartet hatte. Manchmal sah er in einem Kinde etwas Besonderes und Einmaliges, dies liebte er, geschah, was da wolle. So liebte er Joe de Vries, den kleinen, viel gescholtenen Judenjungen, den Sohn des Rechtsanwalts S. de Vries, den er auch unterrichtet und bevorzugt hatte. So vererbte sich die Liebe vom Vater auf den Sohn, obwohl der Kleine im Gegensatz zum Vater ein miserabler Schüler war.

Fritz Jünger verteidigte diese Liebe mit der ganzen Kraft seines vereinsamten Herzens, er überschritt oft dabei die Grenzen des Erlaubten. So übersah er geflissentlich die Tatsache, daß der Schüler de Vries ganz offensichtlich die Zeichnungen von Tieren und Pflanzen durchgepaust hatte. Er übersah es und billigte es schweigend. Manchmal erschien auch in der Sprechstunde des Rechtsanwalts der Knabenlehrer und fragte irgend etwas belangloses Juristisches, tat so, als ob dieses der Zweck des Besuches sei. Beim Hinausgehen steckte er unversehens in die Hand des Rechtsanwalts einen kleinen Zettel, auf dem die Aufgaben des morgigen Extemporale aufgeschrieben waren. Zum Erstaunen des kleinen Joe wurde genau die Aufgabe anderntags gestellt, die der Vater mit ihm geübt hatte.

Man sage nicht, daß dieses Vorgehen unrecht war, es war der geniale Instinkt eines Liebenden, der den Knabenlehrer dahin brachte, die schlechte Gesamtleistung des Schülers de Vries zu heben.

Jünger sah in dem Kleinen mehr als die andern, er sah ein verschüchtertes Herz und eine unergründliche Tiefe, darin es wogte und wucherte. Er war der Schatzgräber, der Wünschelrutengänger in den Gefilden des Außergewöhnlichen und Nichtbanalen. Wenn er aber in einem glattgesichtigen Kindergesicht den späteren berechnenden Bürger erblickte, dann kannten sein Spott und seine Verachtung keine Grenzen.

Er sagte oft: „Es gibt Kriechtiere und Vögel, dazwischen kommen die Affen, die so tun, als ob sie laufen und fliegen könnten.“

Fritz Jüngers Auftritt in einer Klasse war eine Zeremonie. Wuchtig erdröhnte sein Schritt auf dem Korridor, wuchtig wurde die Türklinke heruntergedrückt, wuchtig stand er im Türrahmen, groß und mager. Sein gelbliches Gesicht zuckte, und seine Augen blickten starr vor sich hin. Dann trat er ein, schoß auf einen Jungen zu, der irgendwelche Dinge trieb, und schrie mit dröhnender Stimme: „Hütet euch... ich sehe bis zum Hintersten!“ Dann ging er zum Klassenschrank, legte den Hut und den Schirm hinein, stellte sich auf das Katheder und schlug sich mit den Fäusten dröhnend auf die Brust, einmal... zweimal... dreimal... Mit weitaufgerissenen Augen sahen die Kinder auf das seltsame Gebaren ihres Lehrers. Er sagte dabei: „Die Lunge, ihr dummen Jungens, ist bei den Säugetieren der wichtigste Körperteil.“

Im Unterricht war Rechnen angesetzt, aber der Knabenlehrer kümmerte sich nicht um Stundenpläne. So geriet er oft mit dem Lehrerkollegium in Konflikt, aber wer wollte gegen den alten, bewährten Knabenlehrer etwas ausrichten? Junge Lehrer, erfüllt von modernen Erziehungsideen, sahen in Jünger den Typ des gänzlich veralteten Schulmeisters. Sollte man vielleicht einen Menschen ernst nehmen, der in der Naturwissenschaft noch bei Linne hielt? Selbst der Direktor Fettköter konnte nichts gegen Jünger unternehmen. Wenn Fritz Jünger den an und für sich nicht schönen Namen des Direktors aussprach, dann schauderte man. So mußte Direktor Fettköter schweigen.

Die Rechenstunde begann mit folgendem: Fritz Jünger befahl der Klasse, das Fünfundzwanzigmaleins aufzusagen, und zwar möglichst schnell und im Chor. Es begann: „Fünfundzwanzig... fünfzig... fünfundsiebzig ... hundert.“ Dann wurde es einzeln heruntergerasselt. Der Schüler Wucherpfennig kam nur bis fünfundsiebzig, er brach in Weinen aus. Jünger sah traurig und abwartend auf ihn herab, ging an den Spucknapf und spuckte geräuschvoll und ausgiebig. Dann sagte er mit langsamer Stimme: „Habe deinen Vater gestern auf der Straße gesprochen, Vater ist ein netter Mann, und...“ Da unterbrach ihn der Schüler Wucherpfennig schluchzend: „Herr Jünger, mein Vater ist doch schon tot.“ Ein Blitz fuhr herab, eine Donnerstimme dröhnte: „Widersprich mir nicht immer, dummer Bengel.“

Der Unterricht ging weiter, Fritz Jünger stand auf dem Katheder und dozierte: „Das Wichtigste ist das Staubwischen. Die Dienstmädchen, Frauen und niedere gedankenlose Menschen nehmen den Lappen zur Hand und wischen kreisförmig auf der Tischplatte herum. Dadurch wird der Staub nur aufgewirbelt und setzt sich sofort wieder. Also scharf hersehen“, seine Stimme erhob sich, „der denkende Mensch nimmt das Tuch und wischt den Staub vom Tisch herab auf den Boden, so...“ Er schob mit dem Tuch den Staub vor sich her, bis er vom Tischrand zu Boden rieselte. Diese Demonstration, fast täglich ausgeführt, wurde mit dem Satz beschlossen: „So unterscheidet sich der Mensch vom unwissenden Tier.“

Wenn die Kinder zu Hause die Jüngersche Methode des Staubwischens begreiflich machen wollten, stießen sie auf Unverständnis. Ja, der Vater Heitmüller unternahm es sogar, dem Knabenlehrer einen Brief zu schreiben, in dem er sich diese „Aufhetzung der Kinder“, wie er es nannte, verbat. Vater Heitmüller hatte keinen Nutzen und keinen Schaden davon. Fritz Jünger sagte nunmehr bei der Vorführung des Staubwischens: „Alle mal hersehen, mit Ausnahme des Schülers Heitmüller.“

Daß der Knabenlehrer Jünger sich im Unterricht mit einem Taschenmesser die Nägel schnitt, daß er von den Kindern manchmal einen Apfel forderte (den die gute Mutter zum Frühstück mitgegeben hatte) und den rotbackigen Apfel scheinbar in Gedanken in kleine Stücke schnitt und vor den Augen des Spenders aß, das waren nur kleine Marotten und Eigenschaften eines einsamen Mannes. Aber daß er den Schülern wiederholt erzählte, er sei in London gewesen und von der Königin Viktoria auf der Straße in die Hofequipage geholt worden, nachdem sich Ihre Majestät erkundigt hätte, ob er der Knabenlehrer Fritz Jünger sei... das zu erzählen und vorzutragen war mehr als eine Seltsamkeit oder Laune. Es war eine dichterische Ausschmückung seiner kleinen Welt, die zwischen einem schlecht möblierten Zimmer und einem backsteinroten Schulgebäude lag. Das war der Fanatismus des Dichters, der nur an seine Welt glaubt und die Realität leugnet. Die Welt des Knabenlehrers Jünger war bunt und reichte um die ganze Erde. Da gab es Löwenjagden in Afrika, Brillantfeuerwerke, mit denen er von Fürsten und Königen geehrt wurde. Da war das Zahlungsmittel der Südsee, die Kaurimuschel, wirklicher als die Summe, die er allmonatlich von der Behörde in Groschen und Markstücken ausgezahlt bekam. Wenn er vom Galadiner beim König von Spanien erzählte, wenn er die Arena schilderte, in der der Stierkampf ihm zu Ehren abgehalten wurde, dann... wehe dem Schüler, der da lachte. Er war verworfen und vernichtet, er war ein vorwitziger Lümmel und Dummerjan.

Vor seinem Paradies stand der Knabenlehrer Jünger, den Regenschirm in der Faust, und verteidigte es vor Dieben und Eindringlingen. Wenn er manchmal den Vorhang lüftete und die Horde von Bengels hineinsehen ließ, dann war es Gnade und Auszeichnung.

Die Naturgeschichtsstunde hatte zum Inhalt eine flüchtige Belehrung der Kinder über das unsterbliche System Linnés. Aber vor allem mußte die Kunst des „Blumeneinwickelns“ gelernt werden. Es kam darauf an, die Pflanzen beim Botanisieren so einzuwickeln, daß das Papier unten umgeschlagen werden konnte, so daß die Stiele wie in einem Sack ruhten, darauf kam es an. Das Botanisieren bestand meistens in dem Pflücken der beliebten Caltha palustris, der Sumpfdotterblume, die gleich hinter dem Schulhof zu finden war. Auch der Gemeine Hahnenfuß war ein geschätzter Gegenstand des Botanisierens. Die Klasse zog dann mit Gejohle durch die Schulkorridore und störte den Unterricht der anderen, Fritz Jünger an der Spitze des Zuges auf Zehenspitzen tanzend, sich umwendend und ab und zu einem zu lauten Schüler einen Klaps versetzend. Draußen auf der Wiese balgten sich die Bengels und kamen mit zerquetschten Blumen bei dem Lehrer an.

Wichtig war noch eines: „die Lupe am Bande“ ... die durfte in keiner Stunde fehlen. Die Lupe, ein hübsches, schwarz eingefaßtes Brennglas, mußte um den Hals des Schülers hängen, damit er jederzeit der Natur ihre Geheimnisse ablauschen konnte. Gewöhnlich benutzten die Schüler die Lupe, um unversehens dem Vordermann in der Stunde ein Loch in die Jacke zu brennen oder gar sein Gesicht zu verletzen. Fritz Jünger bestrafte in solchen Fällen nicht den Täter, sondern den Betroffenen, „weil er den Unterricht störe“. So stand es auch im Klassenbuch eingeschrieben.

In der Zoologiestunde kam es vor, daß Jünger sagte: „Jetzt kommen wir zum Orang-Utan“ ... sich jäh unterbrechend, zu einem Schüler, der „döste“: „Bengel, wenn du was lernen willst, sieh mich an!“

Der Kernsatz lautete: „Das Säugetier bringt lebendige Junge zur Welt und zieht sie selbst auf.“ Dies mußte so lange wiederholt werden, bis es im Gehirn verankert saß. Dort blieb es haften bis ins späte Alter.

Eines Tages ging Fritz Jünger zur gewohnten Stunde die Hildesheimer Straße hinunter, von der Agidienkirche schlug es halb acht Uhr. Es war ein heiterer Morgen, der aber traurig enden sollte.

Als Fritz Jünger in die Georgstraße einbog, um wiegend und bedächtig in die Schule zu wandern, da fuhr aus einer kleinen Seitenstraße ein Radfahrer mit solcher Geschwindigkeit in die Georgstraße, daß der ahnungslose Knabenlehrer zu Boden geworfen wurde. Man lief herbei, um den alten Herrn aufzuheben, aber Fritz Jünger sprang auf, nahm den zerbrochenen Regenschirm in die Faust und ging auf den erschrockenen Fahrer zu, um ihn zu verprügeln. Es war ein Bäckergeselle des Konditors Struif, ein einfältiger und roher Bursche, anstatt sein Unrecht einzusehen, beschuldigte er den ehrwürdigen Lehrer.

Ein Schutzmann schrieb beide Namen auf, den des Lehrers sowie des Bäckers. Dann humpelte Fritz Jünger weiter zur Schule. Er war nicht zu bewegen, die Straßenbahn oder gar eine Droschke zu nehmen. Verspätet und schmutzig kam er an. Der Pedell Wudicke versuchte mit Wasser und Bürste die Kleider zu reinigen. Inzwischen saß Fritz Jünger in Unterkleidung in der Pedellwohnung und trank eine Tasse Kaffee, die Frau Wudicke bereitet hatte, aus Schicklichkeit hatte er einen Mantel des Pedells umgelegt.

Die unruhig wartende Klasse wurde von dem Herrn Direktor persönlich unterrichtet. Dieser hatte Mühe, den Kindern etwas begreiflich zu machen, da der Stil des Jüngerschen Unterrichts schon zu nachhaltig auf die Schüler gewirkt hatte. Endlich kam Fritz Jünger in die Klasse. Der Direktor erkundigte sich besorgt nach dem Befinden des Lehrers, aber Jünger winkte ab: „Lassen Sie das, Herr Direktor Fettköter... lassen Sie das gut sein ... wie Sie sehen, lebe ich noch.“ Dann stieg er aufs Katheder und hielt eine längere Rede, in der er die Menschheit in Menschen und Radfahrer einteilte. Er schloß: „Wenn ich irgendeinen von euch mit einem Veloziped erwische... werde ich dafür sorgen, daß er aus der Schule gewiesen wird.“ Das war nicht so schlimm gemeint, auch reichte seine Macht nicht so weit. Aber die Schüler wagten nicht mehr, mit ihren Fahrrädern in die Schule zu kommen.

Einmal versuchte es der Schüler Willy Sauerbrey, mit seinem Rad zum Nachmittagsunterricht zu kommen. Er hoffte auf den dunklen und nebligen Novembertag, aber gerade, als er vor der Schule absprang, stand der Knabenlehrer Fritz Jünger vor ihm. Verstört wollte der Schuldige flüchten, aber Fritz Jünger drehte sich einfach um und ging ins Haus.

Es geschah nichts, kein Wutausbruch des Lehrers vor versammelter Klasse, keine Rede über verlotterte Moral, nichts, gar nichts ereignete sich. Aber etwas weit Schlimmeres geschah: in den nun folgenden Wochen wurde der Schüler Willy Sauerbrey von Fritz Jünger nicht mehr beachtet. Er wurde nicht mehr aufgerufen, obwohl gerade er das Fünfundzwanzigmaleins am schnellsten hersagen konnte. Der Schüler Sauerbrey war ausgelöscht aus der Welt, vernichtet, nicht mehr vorhanden. Ja, sogar die Zensur in seinen Heften trug nicht mehr die Jüngersche Eigenart, die darin bestand, daß hinter der Zahl 2 bis 3 oder 3 oder 4 bis 5 in schwungvoller Schrift zu lesen war: „Ich lobe den Fleiß“ oder „Bravo“ oder „Fauler Lümmel“. Nein, nichts dergleichen war in den Sauerbreyschen Arbeiten mehr zu sehen. Eine schmucklose Zahl, sonst nichts, wie es eben alle Welt machte.

Unter dieser Zurücksetzung litt der Schüler sehr, aber er konnte nichts dagegen machen. Die Klassenkameraden merkten deutlich diese Bestrafung und hänselten den armen Jungen mit der ganzen Rohheit der Jugend.

Sauerbrey zog sich unversehens eine Blutvergiftung zu, mag es beim Zeichnen passiert sein, daß er sich mit der giftigen Tusche und der Reißfeder den Finger verletzte, kurz und gut, es ging ihm sehr schlecht. Er lag fiebernd mit geschwollenem Arm im Bett, mußte dreimal operiert werden, ja, man sprach schon von Amputation. In seinen Fieberträumen spielte der Knabenlehrer Jünger eine große Rolle, das Kind schrie und weinte und war nicht zu beruhigen, die Eltern verzweifelten.

Da wurde eines Abends an der Tür geläutet, und ein Schuljunge, ein Klassenkamerad des armen Willy, stand draußen und hatte in der Hand einen Strauß weißer Rosen. Eine Karte war daran befestigt:

 

Gute Besserung!

Knabenlehrer Fritz Jünger

 

Die Rosen beglückten das kranke Kind, es wurde ruhig, und nach einigen Wochen war es wieder gesund. Aber als der Junge in die Schule kam, stand auf dem Katheder ein fremder Lehrer.

Fritz Jünger war erkrankt. Eines Morgens stand er nicht mehr auf, sagte zu seiner Wirtin ganz ruhig: „Man muß die Königin benachrichtigen.“ Die erschrockene Wirtin holte einen Arzt, der den bekannten Spezialisten Petermann mit heranzog. Das war ein Freund des Knabenlehrers. Die zwei Ärzte machten besorgte, aber nicht hoffnungslose Gesichter und einigten sich auf Herzbeutelentzündung.

Fritz Jünger war es gleichgültig. Er lag da und ließ alles mit sich geschehen. Man hatte das Gefühl, daß er mit jedem Tag zufriedener würde. Die Schwäche nahm zu, man wollte ihn ins Krankenhaus bringen, aber da richtete Fritz Jünger sich im Bett auf und sagte: „Petermann, laß das, es hat keinen Zweck.“

So lag Fritz Jünger noch acht Tage. Er schlief viel, und wenn er aufwachte, sagte er manchmal: „Kaldauke... vermieten Sie die Zimmer.“ Am Tage vor seinem Tode schrieb er plötzlich mit kaum leserlichen Schriftzügen auf einen Zettel: „Vater und Sohn.“

Die gute Anna Kaldauke verstand nichts, der Kranke wollte auch nichts mehr sagen. Sie rannte in die Schule, und dem untrüglichen Scharfsinn des Direktors Fettköter war es zu verdanken, daß man Fritz Jüngers Wunsch begriff. Es konnte sich nur um den Schüler de Vries handeln, dem unbegreiflicherweise die Zuneigung des Knabenlehrers gehörte, und um dessen Vater. Man benachrichtigte den Rechtsanwalt de Vries. Dieser glaubte, daß es sich um etwas Testamentarisches handelte, nahm seine Aktenmappe mit Schreibzeug mit.

Der Wagen des Rechtsanwalts hielt vor Jüngers Hause. Vater und Sohn stiegen aus. Der kleine Joe hatte ein Matrosenmäntelchen an und seine Schülermütze auf und hielt in der Faust einen Strauß roter Nelken. Er war etwas aufgeregt und auch neugierig.

Die Witwe Kaldauke empfing die beiden freudig, denn Fritz Jünger hatte sie schon den ganzen Tag immer fragend angeblickt.

Im Zimmer war es dämmerig, in der Ecke stand das Bett. Es war ein unpersönlich und gleichgültig möbliertes Zimmer, das Schlafzimmer, nebenan war das Arbeits- und Wohnzimmer.

Fritz Jünger sah zum Erbarmen aus. Sein Bart war sehr lang geworden und sein Gesicht ganz klein. Die Augen waren riesengroß und glänzten fiebrig. Die mageren Hände waren gelblich mit vielen blauen Adern.

Leise traten Vater und Sohn näher. Der Rechtsanwalt faßte sich rasch, nahm einen Stuhl und setzte sich ans Bett, mit der einen Hand zog er Joe heran, der hastig und verstört den Blumenstrauß aufs Bett legte. Das machte aber einen solch beängstigenden Eindruck, es erinnerte an Aufbahrung, daß der Rechtsanwalt schnell den Strauß nahm und ihn Fritz Jünger zeigte. Da verzog sich sein Mund mit den rissigen Lippen zu einem Lächeln, er nahm die Blumen in die eine Hand, und mit der anderen langte er aus dem Bett heraus, um den Jungen zu streicheln. Joe kamen die Tränen in die Augen, er schluckte heftig. Der Kranke sagte mit ganz klarer Stimme: „Dummerjan... da gibt's nichts zu heulen.“

Er hielt die Hand des Knaben fest und blickte starr zur Decke. Kein Wort fiel während der nächsten Viertelstunde. Es war ein ungemütliches Schweigen. Was sollte man auch sagen? S. de Vries nahm die Mappe, räusperte sich. Fritz Jünger sagte leise: „Pack wieder ein, Samuel, hier gibt's nichts zu erben.“

Schließlich wurde es so dunkel im Zimmer, daß man nichts mehr sah. Anna Kaldauke, die an der Tür gehorcht hatte, schlich herein und zündete die Petroleumlampe an. Jünger wollte irgend etwas, der Rechtsanwalt bemühte sich sehr, es zu verstehen. Endlich verstand er, denn Fritz Jünger zeigte ins andere Zimmer und sagte: „Muschel.“

Auf seinem Schreibtisch lag eine große, gedrehte, schön gefärbte Muschel, emaillerosafarben, die holte der Rechtsanwalt. Jünger lächelte zufrieden, nahm die große Muschel und horchte, dann winkte er Joe zu, der sich über das Bett beugte, und drückte ihm die Muschel an sein Ohr.

„Behalte das, kleiner Butjer“, sagte er zärtlich, „immer behalten ... immer daran denken ... das ist das Wichtigste... darauf kommt es an ...!“

Der kleine Joe lauschte entzückt auf das Rauschen und Dröhnen in der Muschel, es war das Meer, es war Musik, es war die ganze Welt, das Brausen der ewigen Schöpfung. Joe war sehr begeistert. Der Vater bedankte sich bei dem Knabenlehrer und sagte, er hoffe, ihn bald wieder gesund zu sehen. Fritz Jünger schmunzelte. „Machen wir“, sagte er mit ziemlich kräftiger Stimme, „wird gemacht...“

Nach diesem Besuch ging es rasch abwärts mit ihm. Am letzten Tage verlangte er nach einem Globus. Man schickte in die Schule, und der Pedell Wudicke brachte den Klassenglobus. Staub lag auf Asien. Europa war verblaßt, nur Afrika glänzte wie neu. Beim Drehen quietschte der Globus etwas. Fritz Jünger ließ die Erdkugel nicht mehr aus den Händen. Seine mageren Finger streichelten und liebkosten den Erdball, fuhren über das Rund der Pole. Fritz Jünger nickte dazu und lächelte.

Der Pedell Wudicke saß am Bett, als er starb.

Fritz Jünger nahm den Zeigefinger und fuhr einmal um die ganze Erde, sagte dabei: „Staub wischen... Wudicke.“

Dann streckte er sich aus und war tot.

Am Grabe sprachen der Geistliche, der Direktor Fettköter und ein Vertreter des Lehrerkollegiums. Die Schüler sangen einen Choral.

Der Schüler de Vries stand ganz dicht am offenen Grab. Er sah zum erstenmal, wie ein Mensch begraben wurde. Ihm kam das alles vor, als hätte er es schon längst erlebt. Neugierig guckte er in die feuchte Erde, es war April, es duftete nach Frühling, es sang schon eine Amsel. Joe zitterte vor Glückseligkeit und schämte sich gleichzeitig. Schmerz empfand er kaum, ein verwundertes, tönendes Gefühl wuchs in ihm zu einer Heiterkeit, die er vorher nicht gekannt hatte.