BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Robert Musil

1880 - 1942

 

Der Mann ohne Eigenschaften

 

Dritter Teil:

Ins Tausendjährige Reich

[Die Verbrecher]

 

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Ein großes Ereignis ist im Entstehen.

Aber man hat es nicht gemerkt

 

Dagegen rief der General aus: „Ich muß jetzt leider unverzüglich zu Seiner Exzellenz zurück, aber das alles mußt du mir unbedingt noch erklären, ich laß dich nicht aus! Ich komme dann noch einmal her, wenn die Herrn gestatten!“

Leinsdorf machte den Eindruck, daß er etwas sagen wolle, die Gedanken arbeiteten gewaltig in ihm, aber Ulrich und er waren kaum einen Augenblick allein geblieben, so sahen sie sich von Menschen umgeben, die das allgemeine Kreisen heranführte und die anziehende Person Sr. Erlaucht festhielt. Von dem, was Ulrich soeben gesagt hatte, war natürlich nicht mehr die Rede, und niemand außer ihm dachte noch daran, da schob sich von hinten ein Arm in den seinen, und Agathe stand bei ihm. „Hast du schon einen Grund gefunden, mich zu verteidigen?“ fragte sie mit liebkosender Bosheit.

Ulrich ließ ihren Arm nicht los und wandte sich mit ihr von den Menschen ab, bei denen er gestanden hatte.

„Können wir nicht nach Hause gehn?“ fragte Agathe.

„Nein,“ sagte Ulrich „ich kann ja noch nicht fort.“

„Dich läßt wohl die kommende Zeit nicht fort, um deretwillen du dich hier rein halten mußt?“ neckte ihn Agathe.

Ulrich drückte ihren Arm.

„Ich finde, es spricht sehr für mich, daß ich nicht hieher gehöre, sondern ins Zuchthaus!“ flüsterte sie ihm ins Ohr.

Sie suchten einen Platz, wo sie allein sein könnten. Die Versam­mlung war jetzt richtig aufgekocht und trieb ihre Teilnehmer langsam durcheinander. Immer noch war im ganzen die zweifache Gruppierung zu unterscheiden: um den Kriegsminister war von Frieden und Liebe die Rede, um Arnheim augenblicklich davon, daß die deutsche Milde am besten im Schatten der deutschen Kraft gedeihe.

Er hörte es wohlwollend an, weil er niemals eine ehrliche Meinung zurückwies und eine besondere Liebe für neue Meinungen hatte. Seine Sorge war, ob das Geschäft mit den Ölfeldern im Parlament Schwierigkeiten finden werde. Er rechnete damit, daß die Opposition der slawischen Politiker keinesfalls zu vermeiden sein werde, und hoffte, sich der Stimmung unter den Deutschen zu vergewissern. In den Regierungskreisen stand die Angelegenheit gut bis auf eine gewisse Gegnerschaft im Ministerium des Äußern, der er keine große Bedeutung beimaß. Nächsten Tags sollte er nach Budapest reisen.

Feindliche „Beobachter“ gab es rings um ihn und die anderen Hauptpersonen genug. Sie waren am raschesten daran zu erkennen, daß sie zu allem Ja sagten und die nettesten Leute waren, während doch die übrigen meist verschiedener Meinung waren.

Tuzzi suchte einen von ihnen mit den Worten zu überzeugen: „Was geredet wird, bedeutet gar nichts. Das bedeutet nie etwas!“ Der andere glaubte es ihm. Es war ein Parlamentarier. Aber er änderte nicht die Meinung, die er schon mitgebracht hatte, daß trotzdem hier Böses vor sich gehe.

Se. Erlaucht verteidigte dagegen im Gespräch mit einem anderen Frager die Bedeutung des Abends mit den Worten: „Mein Verehrter, sogar Revolutionen werden seit Achtzehnhundertachtundvierzig nur noch durch vieles Reden gemacht!“

Es wäre falsch, in solchen Unterschieden nichts als die erlaubte Abweichung von der Eintönigkeit zu sehen, die das Leben sonst hätte; und doch wird dieser folgenschwere Irrtum beinahe ebensooft begangen, wie von dem Satz: „Das ist Gefühlssache!“ Gebrauch gemacht wird, ohne den die Einrichtung unseres Geistes gar nicht zu denken ist. Dieser unentbehrliche Satz trennt das, was im Leben sein muß, von dem, was sein kann. „Er trennt“ sagte Ulrich zu Agathe „die gesetzte Ordnung von einem eingeräumten persönlichen Spielraum. Er trennt das, was rationalisiert ist, von dem, was für irrational gilt. Er bedeutet, in der üblichen Art gebraucht, das Eingeständnis, daß die Menschlichkeit in den Hauptsachen ein Zwang sei, in den Nebensachen aber eine verdächtige Willkür. Man meint, das Leben wäre ein Zuchthaus, stünde es nicht in unserem Belieben, ob wir Wein oder Wasser vorziehn, Atheisten oder Frömmler sein wollen, und man meint nicht im geringsten damit, daß nun das, was Gefühlssache sei, wirklich dem Belieben überlassen bleibe; vielmehr gibt es ja, ohne daß die Grenze eindeutig wäre, erlaubte und unerlaubte Gefühlssachen.“

Die zwischen Ulrich und Agathe war eine unerlaubte, obwohl die beiden, die sich Arm in Arm vergeblich nach einem Versteck umsahen, bloß über die Versammlung sprachen und dabei in einer wilden und verschwiegenen Weise die Freude empfanden, nach ihrer Entzweiung wieder vereint zu sein. Dagegen war die Wahl, ob man seine Mitmenschen alle lieben oder vorher einen Teil von ihnen vernichten solle, offenbar Gefühlssache von zweifacher Erlaubtheit, denn sonst wäre sie nicht in Diotimas Haus und in Gegenwart Sr. Erlaucht so eifrig abgehandelt worden, obwohl sie noch dazu die Gesellschaft in zwei gehässige Parteien trennte. Ulrich behauptete, die Erfindung der „Gefühlssache“ habe der Sache des Gefühls den schlechtesten Dienst erwiesen, der ihr je geleistet worden sei, und als er es unternahm, seiner Schwester den abenteuerlichen Eindruck zu erklären, den dieser Abend in ihm weckte, kam er darauf in einer Weise zu sprechen, die ohne seinen Willen das am Morgen abgebrochene Gespräch fortsetzte und es wahrscheinlich rechtfertigen sollte. „Ich weiß freilich nicht,“ sagte er „womit ich anfangen soll, ohne dich zu langweilen. Darf ich dir sagen, was ich unter Moral verstehe?“

„Bitte“ erwiderte Agathe.

„Moral ist Regelung des Verhaltens innerhalb einer Gesellschaft, vornehmlich aber schon die seiner inneren Antriebe, also der Gefühle und Gedanken.“

„Das ist ein großer Fortschritt in wenigen Stunden!“ entgegnete Agathe lachend. „Heute morgen hast du noch gesagt, du wissest nicht, was Moral sei!“

„Natürlich weiß ich es nicht. Trotzdem kann ich dir ja ein Dutzend Erklärungen geben. Die älteste ist, daß Gott uns die Ordnung des Lebens in allen ihren Einzelheiten geoffenbart hat –“

„Das wäre die schönste!“ sagte Agathe.

„Die wahrscheinlichste ist aber,“ betonte Ulrich „daß Moral wie alle andere Ordnung durch Zwang und Gewalt entsteht! Eine zur Herrschaft gelangte Gruppe von Menschen auferlegt den anderen einfach die Vorschriften und Grundsätze, durch die sie ihre Herrschaft sichert. Gleichzeitig hängt sie aber an denen, die sie selbst groß gemacht haben. Gleichzeitig wirkt sie damit als Beispiel. Gleichzeitig wird sie durch Rückwirkungen verändert: das ist natürlich verwickelter als man es in Kürze beschreiben könnte, und weil es keineswegs ohne Geist vor sich geht, aber auch keineswegs durch den Geist, sondern durch die Praxis, ergibt es schließlich ein unübersehbares Geflecht, das sich scheinbar so unabhängig wie Gottes Himmel über allem spannt. Nun bezieht sich alles auf diesen Kreis, aber dieser Kreis bezieht sich auf nichts. Mit andern Worten: alles ist moralisch, aber die Moral selbst ist nicht moralisch! –“

„Das ist reizend von ihr“ sagte Agathe. „Aber weißt du, daß ich heute einen guten Menschen gefunden habe?“

Ulrich war etwas erstaunt über diese Unterbrechung, aber als ihm Agathe die Begegnung mit Lindner zu erzählen begann, suchte er sie zunächst in seinem Gedankengang unterzubringen: „Gute Menschen kannst du heute auch hier zu Dutzenden finden,“ meinte er „aber du sollst erfahren, warum gleich auch die bösen dabei sind, wenn du mich noch eine Weile fortfahren läßt.“

Sie waren unter diesen Worten, dem Trubel auszuweichen, bis ans Vorzimmer gekommen, und Ulrich mußte überlegen, wohin sie sich wenden könnten; Diotimas Zimmer fiel ihm ein, ebenso Rachels Kammer, aber er wollte beide nicht wieder betreten, und so blieben Agathe und er einstweilen zwischen den menschenleeren Kleidungs­stücken stehn, die in der Diele hingen. Ulrich fand keine Fortsetzung. „Ich müßte eigentlich noch einmal von vorn anfangen“ erklärte er mit einer ungeduldigen und ratlosen Bewegung. Und plötzlich sagte er: „Du willst nicht wissen, ob du Gutes oder Böses getan hast, sondern dich beunruhigt es, daß du beides ohne einen festen Grund tust!“

Agathe nickte.

Er hatte ihre beiden Hände gefaßt.

Die mattschimmernde Haut seiner Schwester, mit dem Geruch ihm unbekannter Pflanzen, die vor seinem Auge dem leicht ausgeschnit­tenen Kleid entstieg, verlor für einen Augenblick den irdischen Begriff. Der Stoß des Blutes klopfte aus einer Hand an die andere. Ein tiefer Graben unweltlicher Herkunft schien sie und ihn in ein Nirgendland einzuschließen.

Es mangelten ihm plötzlich die Vorstellungen, es zu bezeichnen; er verfügte nicht einmal über die, deren er sich dazu schon oft bedient hatte. „Wir wollen nicht aus der Eingebung der Augenblicke handeln, sondern aus dem bis ans Letzte währenden Zustand.“ „So, daß es uns an den Mittelpunkt führt, von wo man nicht mehr zurückkommt, um zurückzunehmen.“ „Nicht vom Rande und seinen wechselnden Zuständen her, sondern aus dem einzigen unveränderlichen Glück“: Solche Sätze kamen ihm wohl zu Munde, und es wäre ihm auch möglich erschienen, sie zu gebrauchen, hätte es nur als Gespräch geschehen sollen; aber in der unmittelbaren Anwendung, die sie zwischen ihm und seiner Schwester in diesem Augenblick erfahren sollten, war es plötzlich unmöglich. Das erregte ihn hilflos. Aber Agathe verstand ihn deutlich. Und es hätte sie glücklich machen müssen, daß zum erstenmal die Schale um ihn ganz zerbrach und ihr „harter Bruder“ wie ein zu Boden gefallenes Ei das Innere preisgab. Zu ihrer Überraschung war aber diesmal ihr Gefühl nicht ganz bereit, mit dem seinen zu gehn: Zwischen Morgen und Abend lag die wunderliche Begegnung mit Lindner, und obwohl dieser Mann bloß ihr Erstaunen und ihre Neugierde erregt hatte, genügte auch ein solches Körnchen schon, die unendliche Spiegelung der eremitischen Liebe nicht entstehen zu lassen. Ulrich fühlte es an ihren Händen, noch ehe sie etwas erwiderte, und Agathe – erwiderte nichts.

Er erriet, daß dieses unerwartete Sichversagen mit dem Erlebnis zusammenhänge, dessen Bericht er vorhin hatte anhören müssen. Beschämt und von dem Rückstoß seines unerwiderten Gefühls verwirrt, sagte er kopfschüttelnd: „Es ist doch ärgerlich, was alles du von der Güte eines solchen Menschen erwartest!“

„Wahrscheinlich ist es das“ gab Agathe zu.

Er sah sie an. Er verstand, daß seiner Schwester dieses Erlebnis mehr bedeute als die Bewerbungen, die sie bisher unter seinem Schutz erfahren hatte. Er kannte sogar diesen Menschen ein wenig: Lindner stand im öffentlichen Leben: er war der Mann, der seinerzeit in der allerersten Sitzung der vaterländischen Aktion jene kurze, mit peinlichem Schweigen aufgenommene Rede gehalten hatte, die dem „historischen Augenblick“ galt, oder ähnlichem, ungeschickt, aufrichtig und unbedeutend...: Unwillkürlich blickte sich Ulrich um; aber er erinnerte sich nicht, diesen Mann unter den Anwesenden bemerkt zu haben, und wußte auch, daß er nicht mehr eingeladen worden war. Er mußte ihm anderswo ab und zu begegnet sein, wahrscheinlich in gelehrten Gesellschaften, und das oder jenes von ihm gelesen haben, denn während er sein Gedächtnis sammelte, bildete sich aus ultramikroskopischen Erinnerungsspuren wie ein zäher, widerlicher Tropfen das Urteil: „Ein fader Esel! Will man auf einer gewissen Höhe des Lebenszustands sein, so kann man einen solchen Menschen ebensowenig ernst nehmen wie Professor Hagauer!“

Er sagte es Agathe.

Agathe schwieg dazu. Sie drückte ihm sogar die Hand.

Er hatte das Gefühl: Da ist etwas ganz widersinnig, aber es läßt sich nicht aufhalten!

In diesem Augenblick kamen Leute in das Vorzimmer, und die Geschwister traten voneinander zurück. „Soll ich dich wieder hineinbegleiten?“ fragte Ulrich.

Agathe sagte nein und sah sich nach einem Ausweg um.

Ulrich fiel mit einemmal ein, daß sie sich, um den andern zu entgehen, nur in die Küche zurückziehen könnten.

Dort wurden Batterien von Gläsern gefüllt und Bretter mit Kuchen beladen. Die Köchin wirtschaftete in großem Eifer, Rachel und Soliman harrten auf ihre Ladung, flüsterten aber nicht miteinander, wie es früher bei solchen Gelegenheiten geschah, sondern standen reglos auf getrennten Plätzen. Die kleine Rachel machte ihren Knicks, als die Geschwister eintraten, Soliman ließ bloß seine dunklen Augen strammstehn, und Ulrich sagte: „Es ist drinnen zu heiß, können wir hier bei euch eine Erfrischung bekommen?“ Er setzte sich mit Agathe an die Fensterbank und stellte zum Schein Teller und Glas hin, damit es, falls sie jemand entdecke, aussehe, wie wenn sich zwei Vertraute des Hauses einen kleinen Scherz gestatten. Als sie saßen, sagte er mit einem kleinen Seufzer: „Das ist also bloß Gefühlssache, ob man einen solchen Professor Lindner gut oder unerträglich findet!“

Agathe beschäftigte ihre Finger mit einer eingewickelten Süßigkeit.

„Das heißt:“ fuhr Ulrich fort „das Gefühl ist nicht wahr oder falsch! Das Gefühl ist Privatsache geblieben! Es ist der Suggestion überlassen geblieben, der Einbildung, der Überredung! Du und ich sind nicht anders wie die da drinnen! Weißt du, was die drinnen wollen?“

„Nein. Aber ist es nicht gleichgültig?“

„Es ist vielleicht nicht gleichgültig. Denn sie bilden zwei Parteien, von denen die eine so recht oder unrecht hat wie die andere.“

Agathe sagte, es käme ihr doch etwas besser vor, an die Menschen­güte zu glauben als nur an Kanonen und Politik: möge die Art, in der es geschehe, auch lächerlich sein.

„Wie ist denn dieser Mensch, den du kennen gelernt hast?“ fragte Ulrich.

„Ach, das läßt sich gar nicht sagen; gut ist er!“ antwortete seine Schwester und lachte.

„Du kannst so wenig auf das, was dir gut vorkommt, etwas geben wie auf das, was Leinsdorf so vorkommt!“ erwiderte Ulrich ärgerlich.

Beider Gesichter waren lachend steif erregt: das leichte Strömen des höflich heiteren Ausdrucks von tieferen Gegenströmen gehemmt. Rachel spürte es unter ihrem Häubchen an den Haarwurzeln; aber sie fühlte sich selbst so elend, daß es viel gedämpfter geschah als früher, gleich einer Erinnerung aus besseren Zeiten. Das schöne Rund ihrer Wangen war unmerklich gehöhlt, der schwarze Brand ihres Auges von Mutlosigkeit getrübt: wäre Ulrich in der Laune gewesen, ihre Schönheit mit der seiner Schwester zu vergleichen, so hätte es ihm auffallen müssen, daß Rachels schwarzer einstiger Glanz wie ein Stückchen Kohle zerfallen war, über das ein schwerer Wagen hinweggefahren ist. Aber er achtete ihrer nicht. Sie war schwanger, und niemand wußte es außer Soliman, der ohne Verständnis für die Wirklichkeit des Unheils mit romantischen und läppischen Plänen darauf antwortete.

„Seit Jahrhunderten“ fuhr Ulrich fort „kennt die Welt Gedanken­wahrheit und darum verstandesmäßig bis zu einem gewissen Grad Gedankenfreiheit. In der gleichen Zeit hatte das Gefühl weder die strenge Schule der Wahrheit, noch die der Bewegungsfreiheit. Denn jede Moral hat für ihren Zeitlauf das Gefühl nur soweit, und in diesem Umkreis noch dazu starr, geregelt, als gewisse Grundsätze und Grundgefühle für das ihr beliebende Handeln nötig waren; das übrige hat sie aber dem Gutdünken, dem persönlichen Gefühlsspiel, den ungewissen Bemühungen der Kunst und der akademischen Erörterung überlassen. Die Moral hat also die Gefühle den Bedürfnissen der Moral angepaßt und dabei vernachlässigt, sie zu entwickeln, obwohl sie selbst von ihnen abhängt. Sie ist ja die Ordnung und Einheit des Gefühls.“ Hier hielt er aber ein. Er fühlte Rachels mitgerissenen Blick auf seinem eifernden Gesicht, wenn sie auch für die Angelegenheiten großer Leute nicht mehr ganz die Begeisterung aufbringen konnte wie früher. „Es ist ja vielleicht komisch, daß ich sogar hier in der Küche von Moral spreche“ sagte er verlegen.

Agathe sah ihn gespannt und nachdenklich an. Er beugte sich näher zu seiner Schwester und fügte leise mit einem zuckend scherzenden Lächeln hinzu: „Aber es ist nur ein anderer Ausdruck für einen Zustand der Leidenschaft, der sich gegen die ganze Welt bewaffnet!“

Ohne seine Absicht hatte sich nun der Gegensatz des Morgens wiederholt, worin er in der nicht angenehmen Figur des scheinbar Lehrhaften auftrat. Er konnte nicht anders. Moral war für ihn weder Botmäßigkeit, noch Gedankenweisheit, sondern das unendliche Ganze der Möglichkeiten zu leben. Er glaubte an eine Steigerungsfähigkeit der Moral, an Stufen ihres Erlebnisses, und nicht etwa nur, wie das üblich ist, an Stufen ihrer Erkenntnis, als ob sie etwas Fertiges wäre, wofür der Mensch bloß nicht rein genug sei. Er glaubte an Moral, ohne einer bestimmten Moral zu glauben. Gewöhnlich versteht man unter ihr eine Art von Polizeiforderungen, durch die das Leben in Ordnung gehalten wird; und weil das Leben nicht einmal ihnen gehorcht, gewinnen sie den Anschein, nicht ganz erfüllbar, und auf diese dürftige Weise also auch den, ein Ideal zu sein. Aber man darf die Moral nicht auf diese Stufe bringen. Moral ist Phantasie. Das war es, was er Agathe sehen lassen wollte. Und das zweite war: Phantasie ist nicht Willkür. Überantwortet man die Phantasie der Willkür, so rächt sich das. In Ulrichs Mund zuckten die Worte. Er war im Begriff gewesen, von dem zu wenig beachteten Unterschied zu sprechen, daß die verschiedenen Zeitläufte den Verstand in ihrer Weise entwickelt, die moralische Phantasie aber in ihrer Weise fixiert und verschlossen haben. Er war im Begriff gewesen, davon zu sprechen, weil die Folge ist: eine trotz aller Zweifel mehr oder weniger geradlinig durch alle Wandlungen der Geschichte aufsteigende Linie des Verstandes und seiner Gebilde, dagegen ein Scherbenberg der Gefühle, der Ideen, der Lebens­möglichkeiten, wo sie in Schichten so liegen, wie sie als ewige Nebensachen entstanden und wieder verlassen worden sind. Weil eine weitere Folge ist: daß es schließlich eine Unzahl von Möglichkeiten gibt, so oder so eine Meinung zu haben, sobald das ins Gebiet des grundsätzlichen Lebens reicht, aber keine einzige Möglichkeit, sie zu einigen. Weil eine Folge ist: daß diese Meinungen aufeinander losschlagen, da sie gar keine Möglichkeit haben, sich zu verständigen. Weil alles in allem die Folge ist, daß die Affektivität in der Menschheit hin und her schwankt wie Wasser in einem Bottich, der keinen festen Stand hat. Und Ulrich hatte eine Idee, die ihn schon den ganzen Abend verfolgte; übrigens eine alte Idee von ihm, und sie wurde an diesem Abend bloß immerzu bestätigt, und er hatte Agathe zeigen wollen, wo der Fehler läge und wie er zu beheben wäre, wenn alle wollten, und eigentlich hatte er damit ja nur die schmerzliche Absicht, zu beweisen, daß man eher auch den Entdeckungen seiner eigenen Phantasie nicht trauen dürfe.

Und Agathe sagte, mit einem kleinen Seufzer, so wie sich eine bedrängte Frau schnell noch einmal wehrt, ehe sie sich ergibt: „Man muß also doch alles ‚aus Prinzip‘ tun?!“ Und sie blickte ihn an, sein Lächeln erwidernd.

Er aber antwortete: „Ja; aber nur aus einem Prinzip!“ Und das war nun etwas ganz anderes, als er zu sagen vorgehabt hatte. Es kam wieder aus dem Bereich der Siamesischen Zwillinge und des Tausendjährigen Reiches, wo das Leben in zauberhafter Stille wächst wie eine Blume, und mochte es gleich nicht aus der Luft gegriffen sein, so deutete es doch gerade auf Grenzen des Gedankens hin, die einsam und trügerisch sind. Agathes Auge war wie ein auseinandergebrochener Achat. Wenn er in dieser Sekunde nur noch ein wenig mehr gesagt oder die Hand auf sie gelegt hätte, so wäre etwas geschehen, wovon sie bald danach nichts mehr angeben konnte, da es wieder unterging. Denn Ulrich wollte nicht mehr sagen. Er nahm eine Frucht und ein Messer und begann zu schälen. Er war glücklich darüber, daß die Entfernung, die ihn noch vor kurzem von seiner Schwester getrennt hatte, zu einer unermeßlichen Nähe zusammenschmolz, aber er war auch froh, als sie in diesem Augenblick unterbrochen wurden.

Es war der General, der mit dem listigen Auge eines Patrouille­kommandanten, der den Feind im Biwak überrascht, in die Küche spähte: „Entschuldigung, daß ich störe!“ rief er eintretend aus. „Aber bei einem tête à tête mit dem Bruder, Gnädigste, kann es ja unmöglich ein großes Verbrechen sein!“ Und mit den Worten: „Man sucht dich wie eine Spennadel!“ wandte er sich an Ulrich.

Und Ulrich sagte dann dem General, was er hatte Agathe sagen wollen. Aber zunächst fragte er: „Wer ist ‚man‘?“

„Ich sollte dich doch zum Minister bringen!“ klagte ihn Stumm an.

Ulrich winkte ab.

„Na, ist auch schon überholt“ meinte der Gutmütige. „Der alte Herr ist gerade fortgegangen. Aber ich, wegen meiner eigenen Kompetenzen, muß dich dann, sobald die gnädige Frau eine bessere Gesellschaft gewählt hat als deine, noch verhören, wie du das mit dem Glaubenskrieg gemeint hast, falls du die Güte hast, dich noch an deine Worte zu erinnern.“

„Wir sprechen gerade davon“ erwiderte Ulrich.

„Aber wie interessant!“ rief der General aus. „Gnädige beschäftigen sich also auch mit Moral?“

„Mein Bruder spricht überhaupt nur von Moral“ verbesserte es Agathe lächelnd.

„Das hat heute ja geradezu die Tagesordnung gebildet!“ seufzte Stumm. „Der Leinsdorf hat zum Beispiel erst vor ein paar Minuten gesagt, Moral ist ebenso wichtig wie Essen. Das kann ich nicht finden!“ Sprachs und beugte sich mit Gefallen über die Süßigkeiten, die ihm Agathe reichte. Es hatte ein Witz sein sollen. Agathe tröstete ihn: „Ich kann es auch nicht finden“ sagte sie.

„Ein Offizier und eine Frau müssen Moral haben, aber sie sprechen nicht gerne davon!“ improvisierte der General weiter. „Habe ich nicht recht, Gnädigste?“

Rachel hatte ihm einen Küchenstuhl gebracht, den sie eifrig mit ihrer Schürze abwischte, und sie wurde von seinen Worten ins Herz getroffen; beinahe kamen ihr die Tränen.

Stumm aber munterte Ulrich von neuem auf: „Also wie ist das mit dem Glaubenskrieg?“ Ehe jedoch Ulrich etwas sagen konnte, unterbrach er ihn schon wieder mit den Worten: „Ich habe nämlich das Gefühl, daß auch deine Kusine durch die Zimmer irrt, dich zu suchen, und bin ihr nur dank meiner militärischen Ausbildung zuvorgekommen. Ich muß also die Zeit ausnutzen. Es ist nämlich nicht mehr schön, was drinnen vor sich geht! Man blamiert uns geradezu. Und sie, also wie soll ich das sagen? sie läßt halt die Zügel schleifen! Weißt du, was beschlossen worden ist?“

„Wer hat beschlossen?“

„Viele sind schon weggegangen. Manche sind dageblieben und hören sich die Vorgänge sehr genau an“ umschrieb es der General. „Man kann nämlich nicht sagen, wer beschließt.“

„Vielleicht ist es dann besser, du sagst zuerst, was sie beschlossen haben“ meinte Ulrich.

Stumm von Bordwehr zuckte die Achseln. „Nun ja. Aber ein Beschluß im geschäftsordnungsmäßigen Sinn ist es ja zum Glück auch nicht“ führte er aus. „Denn alle verantwortlichen Leute hatten sich, Gott sei Dank, schon rechtzeitig zurückgezogen. Man kann also sagen, es ist nur ein Partikularbeschluß, ein Vorschlag oder ein Minoritätsvotum. Ich werde die Meinung vertreten, daß wir offiziell gar nicht davon Kenntnis haben. Das mußt du aber deinem Sekretär sagen, wegen dem Protokoll, damit gleich nichts davon hineinkommt. Entschuldigen Gnädige,“ und er wandte sich an Agathe „daß ich so dienstlich rede!“

„Aber was ist eigentlich geschehen?“ fragte auch sie.

Stumm machte eine vieles umfassende Gebärde. „Der Feuermaul, wenn gnädiger Frau dieser junge Mann erinnerlich ist, den wir eigentlich nur eingeladen haben, damit – also wie soll ich das sagen? weil er ein Exponent des Zeitgeistes ist, und weil wir ja ohnehin auch die entgegengesetzten Exponenten haben einladen müssen: Man hat also hoffen dürfen, unbeschadet dessen, und sogar im Genuß gewisser geistiger Anregungen von den Dingen reden zu können, auf die es ja leider nun einmal ankommt. Ihr Bruder weiß das ja, gnädige Frau; es hatte der Minister mit dem Leinsdorf und dem Arnheim zusam­mengebracht werden sollen, um zu sehen, ob der Leinsdorf nichts gegen gewisse –: patriotische Auffassungen hat. Und absolut genommen, bin ich auch gar nicht unzufrieden,“ – wandte er sich nun wieder ver­traulich an Ulrich – „die Sache ist soweit in Ordnung gekommen. Aber während das stattfand, ist der Feuermaul mit den anderen –“ hier sah sich Stumm genötigt, für Agathes Verständnis etwas einzufügen: „also der Exponent einer Auffassung, daß der Mensch gewissermaßen ein friedliches und liebevolles Geschöpf sei, mit dem man gut umgehen muß, mit den Exponenten, die ungefähr das Gegenteil behaupten, so daß man zur Ordnung nach ihnen eine starke Faust braucht und was sonst noch dazugehört – dieser Feuermaul ist mit diesen anderen in einen Streit geraten, und ehe man es hindern konnte, haben sie einen gemeinsamen Beschluß gefaßt!“

„Einen gemeinsamen?“ vergewisserte sich Ulrich.

„Ja. Ich hab das nur so erzählt, wie wenn es ein Witz wäre“ versicherte Stumm, dem die unfreiwillige Komik seiner Darstellung nachträglich selbst schmeichelhaft auffiel. „Das hat kein Mensch erwarten können. Und wenn ich dir erzähle, was für einen Beschluß, du wirst es nicht glauben! Da ich heute nachmittag den Moosbrugger quasi dienstlich habe besuchen sollen, wird sich außerdem das ganze Ministerium nicht ausreden lassen, daß ich selbst dahinterstecke!“

Hier brach Ulrich in ein Gelächter aus und unterbrach in gleicher Weise auch die weiteren Ausführungen Stumms von Zeit zu Zeit, was nur Agathe ganz verstand, während ihm sein Freund wiederholt etwas gekränkt bemerkte, daß er nervös zu sein scheine. Aber was sich ereignet hatte, entsprach zu sehr dem Muster, das Ulrich seiner Schwester soeben erst entworfen hatte, als daß er sich nicht hätte freuen sollen. Die Feuermaul-Gruppe war im letzten Augenblick auf den Plan getreten, um zu retten, was noch zu retten wäre. Das Ziel pflegt in solchen Fällen undeutlicher zu sein als die Absicht. Der junge Dichter Friedel Feuermaul – in vertrautem Kreis aber Pepi genannt, denn er schwärmte für Alt-Wien und bemühte sich dem jungen Schubert ähnlich zu sehen, obwohl er in einer ungarischen Kleinstadt auf die Welt gekommen war – glaubte eben an Österreichs Sendung, und er glaubte außerdem an die Menschheit. Es lag auf der Hand, daß ihn ein Unternehmen wie die Parallelaktion, wenn er nicht beigezogen wurde, von Anfang an beunruhigen mußte. Wie konnte ein Menschheits­unternehmen mit österreichischer Note oder ein österreichisches Unternehmen mit der Note Menschlichkeit ohne ihn gedeihen! Das hatte er allerdings, mit einem Achselzucken, nur zu seiner Freundin Drangsal geäußert, diese aber, als ihrer Heimat zur Ehre gereichende Witwe und dazu Inhaberin eines geistigen Schönheitssalons, der erst im letzten Jahr von dem Diotimas überflügelt worden war, hatte es jedem einflußreichen Menschen gesagt, mit dem sie in Berührung kam. So war ein Gerücht entstanden, daß die Parallelaktion in Gefahr sei, wenn nicht –: dieses Wenn nicht und jene Gefahr blieben, wie es begreiflich ist, dabei ein wenig unbestimmt, denn erst mußte man Diotima zwingen, Feuermaul einzuladen, und dann konnte man vielleicht sehen. Aber die Ankündigung einer Gefahr, die von der vaterländischen Aktion ausgehen sollte, wurde von jenen wachsamen Politikern vermerkt, die kein Vaterland anerkannten, sondern nur ein Mütterchen Volk, das mit dem Staat in aufgezwungener Ehe lebte und von ihm mißhandelt wurde; sie hatten schon lange geargwöhnt, daß aus der Parallelaktion bloß eine neue Unterdrückung hervorgehen werde. Und wenn sie es auch höflich verbargen, so legten sie weniger Wert auf die Absicht, das abzuwenden – denn verzweifelnde Humanisten hätte es unter den Deutschen immer gegeben, aber in ihrer Gesamtheit blieben sie Unterdrücker und Staatsschmarotzer! –, als auf den nützlichen Hinweis, daß Deutsche selbst die Gefährlichkeit ihres Volkstums zugaben. Dadurch fühlten sich Frau Professor Drangsal und der Dichter Feuermaul von einer Teilnahme an ihren Bestrebungen getragen, die sie wohltätig empfanden, ohne sie zu ergründen, und Feuermaul, der ein anerkannter Gefühlsmensch war, wurde von dem Einfall besessen, man müsse etwas zu Liebe und Frieden Ratendes dem Kriegsminister selbst sagen. Warum gerade dem Kriegsminister und welche Rolle diesem zugedacht war, blieb dabei wieder im Dunkel, aber der Einfall selbst war so blendend erfunden und dramatisch, daß er einer anderen Unterstützung wirklich nicht bedurfte. Dies fand auch Stumm von Bordwehr, der ungetreue General, den sein Bildungseifer zuweilen in Frau Drangsals Salon führte, ohne daß es Diotima wußte; er bewirkte überdies, daß die ursprüngliche Auffassung, der Rüstungsindustrielle Arnheim sei ein Bestandteil der Gefahr, der Auffassung Platz machte, daß der Denker Arnheim ein wichtiger Bestandteil alles Guten sei.

Soweit war also alles so vorsichgegangen, wie es den Beteiligten entsprach, und auch daß die Zwiesprache des Ministers mit Feuermaul, als sie heute stattfand, trotz Frau Drangsals Mithilfe nichts ergab als einige Wunder Feuermaulschen Geistes und ihre geduldige Anhörung durch Se. Exzellenz, lag im Verlauf der menschlichen Dinge, wie er gewöhnlich ist. Dann aber hatte Feuermaul noch Reserven in sich; und weil sein Heerbann sich aus jungen und älteren Literaten zusam­mensetzte, aus Hofräten, Bibliothekaren und einigen Friedensfreunden, kurz aus Leuten jeden Alters und aller Stellungen, die ein Gefühl für das alte Vaterland und seine menschliche Sendung vereinte, das sich ebensogern für die Wiederbelebung der abgeschafften Pferdeomnibusse mit ihrem historischen Dreigespann oder für das Wiener Porzellan eingesetzt hätte, und weil diese Getreuen im Lauf des Abends durch mannigfache Beziehungen mit den Gegnern verbunden worden waren, die ja auch nicht das Messer gleich offen in der Hand trugen, hatten sich viele Gespräche ergeben, worin die Meinungen blind durcheinan­dergingen. Diese Verlockung fand Feuermaul vor, als ihn der Kriegsminister verabschiedet hatte und Frau Drangsals Aufsicht durch unbekannte Umstände für eine Weile abgelenkt wurde. Stumm von Bordwehr wußte nur zu berichten, daß er in ein überaus lebhaftes Gespräch mit einem jungen Manne geraten wäre, dessen Beschreibung nicht ausgeschlossen erscheinen ließ, daß es Hans Sepp gewesen sei. Jedenfalls war es einer von denen, die einen Sündenbock benutzen, dem sie die Schuld an allem Übel geben, mit dem sie nicht fertig werden; die nationale Überheblichkeit ist ja nur jener besondere Fall davon, wo man sich aus reiner Überzeugung einen solchen Sündenbock wählt, der nicht mit einem blutsverwandt ist und überhaupt möglichst wenig Ähnlichkeit mit einem selbst hat. Nun ist es bekanntlich eine große Erleichterung, wenn man sich ärgert, seinen Zorn an jemand auszulassen, auch wenn er nichts dafür kann; aber weniger bekannt ist das von der Liebe. Trotzdem ist es auch da geradeso, und die Liebe muß oft an jemand ausgelassen werden, der nichts dafür kann, da sie sonst keine Gelegenheit findet. So war Feuermaul ein betriebsamer junger Mann, der im Kampf um den Nutzen recht ungut sein konnte, aber sein Liebesbock war „der Mensch“, und sobald er an den Menschen im allgemeinen dachte, konnte er sich an unbefriedigter Güte kaum genugtun. Hans Sepp war dagegen im Grunde ein guter Kerl, der es nicht einmal übers Herz brachte, Direktor Fischel zu hintergehn, und sein Sündenbock dafür war „der undeutsche Mensch“, auf den er den Groll gegen alles lud, was er nicht ändern konnte. Weiß der Himmel, was sie anfangs miteinander gesprochen hatten; sie werden wohl gleich ihre Böcke gegeneinander geritten haben, denn Stumm erzählte: „Ich begreife wirklich nicht, wie das gekommen ist: auf einmal sind andere dabei gewesen, dann hat es im Handumdrehn einen richtigen Auflauf gegeben, und schließlich sind alle, die in den Zimmern waren, um sie herumgestanden!“

„Und weißt du, worüber sie gestritten haben?“ fragte Ulrich.

Stumm zuckte die Achseln. „Der Feuermaul hat dem anderen zugerufen: ‚Sie möchten hassen, aber das können Sie gar nicht! Denn die Liebe ist jedem Menschen eingeboren!‘ Oder so ähnlich war's. Und der andere hat ihm zugeschrien: ‚Und Sie möchten lieben? Aber das können Sie noch viel weniger, Sie, Sie –‘ Genau kann ich's wirklich nicht sagen, denn ich habe mich wegen der Uniform in einer gewissen Entfernung halten müssen.“

„Oh,“ sagte Ulrich „das ist schon die Hauptsache!“ und er wandte sich mit einem Blick, der den ihren suchte, an Agathe.

„Aber die Hauptsache war doch erst der Beschluß!“ erinnerte Stumm. „Daß sie einander fast gefressen haben, und mir nichts, dir nichts ist daraus ein gemeinsamer und ganz gemeiner Beschluß geworden!“

Stumm machte in seiner vollen Rundheit den Eindruck geschlosse­nen Ernstes. „Der Minister ist auf der Stelle fortgegangen“ berichtete er.

„Ja, was haben sie denn beschlossen?“ fragten die Geschwister.

„Das kann ich nicht genau sagen,“ erwiderte Stumm, „denn ich bin natürlich auch sofort verschwunden, und da waren sie noch nicht fertig. Man kann sich sowas auch gar nicht merken. Es ist irgend etwas zu Gunsten des Moosbrugger und gegen das Militär gewesen!“

„Moosbrugger? Ja, wie denn?“ Ulrich lachte.

„‚Wie denn?‘!“ wiederholte der General giftig. „Du hast leicht lachen, aber mir bringt das eine so lange Nase ein! Oder zumindest eine tagelange Schreiberei. Weiß man denn bei solchen Leuten: ‚wie denn‘?! Vielleicht war dieser alte Professor schuld, der heute überall für das Aufhängen und gegen die Milde gesprochen hat. Oder es ist geschehn, weil in den letzten Tagen wieder die Zeitungen die Frage dieses Scheusals aufgegriffen haben. Jedenfalls ist auf einmal von ihm die Rede gewesen. Das muß rückgängig gemacht werden!“ erklärte er mit einer an ihm ungewohnten Festigkeit.

In diesem Augenblick traten kurz nacheinander Arnheim, Diotima, ja sogar Tuzzi und Graf Leinsdorf in die Küche. Arnheim hatte im Vorzimmer die Stimmen gehört. Er war im Begriff gewesen, sich heimlich zu entfernen, denn die eingetretene Unruhe verführte ihn zu der Hoffnung, daß er sich diesmal noch einer Aussprache mit Diotima entziehen könne, und anderntags wäre er wieder für eine Weile verreist gewesen. Aber die Neugierde verleitete ihn, in die Küche zu blicken, und da er von Agathe gesehen wurde, hinderte ihn die Höflichkeit, sich zurückzuziehen. Stumm bestürmte ihn sofort um Auskunft über den Stand der Dinge. „Ich kann es Ihnen sogar im originalen Wortlaut mitteilen“ erwiderte Arnheim lächelnd. „Es war manches so drollig, daß ich mich nicht enthalten habe können, es heimlich niederzuschreiben.“

Er zog ein Kärtchen aus seiner Brieftasche, und seine stenogra­phische Aufzeichnung entziffernd, las er langsam den Inhalt der geplanten Kundgebung vor: „‚Die vaterländische Aktion hat auf Antrag der Herren Feuermaul und‘ – den andern Namen habe ich nicht verstanden – ‚beschlossen: Für seine eigenen Ideen soll sich jeder töten lassen, wer aber Menschen dazu bringt, für fremde Ideen zu sterben, ist ein Mörder!‘ So war es vorgeschlagen,“ fügte er hinzu „und ich hatte nicht den Eindruck, daß sich noch etwas ändern werde.“

Der General rief aus: „Das ist der Wortlaut! So habe auch ich ihn schon gehört! Sind ja ekelerregend, diese geistigen Debatten!“

Arnheim sagte milde: „Es ist der Wunsch der heutigen Jugend nach Festigkeit und Führung.“

„Aber es ist doch nicht nur Jugend dabei,“ entgegnete Stumm ange­widert „sondern selbst Kahlköpfe sind zustimmend herumgestanden!“

„Dann ist es eben das Bedürfnis nach Führung überhaupt“ meinte Arnheim und nickte freundlich. „Es ist heute allgemein. Die Resolution stammt übrigens aus einem zeitgenössischen Buch, wenn ich mich recht entsinne.“

„So?“ sagte Stumm.

„Ja“ sagte Arnheim. „Und man muß sie natürlich als ungeschehen behandeln. Aber wenn man es verstünde, das seelische Bedürfnis, das sich in ihr ausdrückt, nutzbar zu machen, so würde sich das wohl lohnen.“

Der General zeigte sich etwas beruhigt; er wandte sich an Ulrich: „Hast du eine Idee, was man da tun könnte?“

„Natürlich!“ erwiderte Ulrich.

Arnheims Aufmerksamkeit wurde durch Diotima abgelenkt.

„Also bitte!“ sagte der General leise. „Schieß los! Ich würde es ja vorziehen, wenn die Führung unter uns bliebe!“

„Du mußt dir vergegenwärtigen, was eigentlich geschehen ist“ sagte Ulrich, ohne sich zu beeilen. „Die Leute haben ja gar nicht unrecht, wenn der eine dem andern vorwirft, daß er lieben möchte, wenn er bloß könnte, und der andere dem einen zurückgibt, daß ganz das gleiche doch auch vom Hassen gilt. Es gilt überhaupt von allen Gefühlen. Der Haß hat heute etwas Verträgliches in sich, und anderseits müßte man, um das, was wirklich Liebe wäre, für einen Menschen zu empfinden –: ich behaupte,“ sagte Ulrich kurz „daß diese zwei Menschen noch nicht da waren!“

„Das ist sicher sehr interessant,“ unterbrach ihn der General schnell, „denn ich kann absolut nicht verstehn, wie du das behaupten kannst. Aber ich muß morgen einen Rechenschaftsbericht über die heutigen Vorfälle schreiben, und darum beschwöre ich dich, daß du darauf Rücksicht nimmst! Beim Militär ist das Wichtigste, daß man immer einen Fortschritt melden kann; ein gewisser Optimismus ist da selbst in der Niederlage unentbehrlich, das liegt am Metier: Wie kann ich also das, was geschehen ist, als einen Fortschritt darstellen?!“

„Schreib“ riet Ulrich augenzwinkernd: „Es war die Rache der moralischen Phantasie!“

„Aber so was kann man beim Militär doch nicht schreiben!“ erwiderte Stumm ärgerlich.

„Dann laß das Wort weg“ fuhr Ulrich ernst fort „und schreib: Alle schöpferischen Zeiten sind ernst gewesen. Es gibt kein tiefes Glück ohne tiefe Moral. Es gibt keine Moral, wenn sie sich nicht von etwas Festem ableiten läßt. Es gibt kein Glück, das nicht auf einer Überzeugung ruht. Ohne Moral lebt nicht einmal das Tier. Aber der Mensch weiß heute nicht mehr, mit welcher –“

Stumm unterbrach auch dieses scheinbar gleichmütig fließende Diktat: „Lieber Freund, ich kann von der Moral einer Truppe sprechen, von Gefechtsmoral oder von der Moral eines Frauenzimmers; aber immer im einzelnen; und von Moral ohne eine solche Vorsicht kann man in einem militärischen Dienststück genau so wenig sprechen wie von Phantasie und vom lieben Gott: das weißt du doch selbst!“

Diotima sah Arnheim am Fenster ihrer Küche stehn, ein sonderbar heimlicher Anblick, nachdem sie während des ganzen Abends nur vor­sichtige Worte miteinander gewechselt hatten. Sie empfand dabei plötzlich das widerspruchsvolle Verlangen, das abgebrochene Gespräch mit Ulrich fortzusetzen. In ihrem Kopf herrschte jene angenehme Verzweiflung, die sich, in mehreren Richtungen gleichzeitig einbrechend, fast zu einer freundlich-ruhigen Erwartung geschwächt und aufgehoben hat. Der längst vorhergesehene Zusammenbruch des Konzils war ihr gleichgültig. Arnheims Untreue war ihr, wie sie glaubte, auch beinahe gleichgültig. Er sah ihr entgegen, als sie eintrat, und für einen Augenblick war das alte Gefühl da: lebender Raum, der sie verband. Aber sie erinnerte sich wieder, daß ihr Arnheim seit Wochen ausweiche, und der Gedanke: „Erotischer Feigling!“ gab ihren Knien die Kraft zurück, daß sie hoheitsvoll auf ihn zuschritt. Arnheim sah das: das Sehen, das Zaudern, das Schmelzen der Entfernung; über eingefrorenen Wegen, die sie in unendlicher Zahl verbanden, lag die Ahnung, daß sie wieder auftauen könnten. Er hatte sich von den übrigen abgewandt, aber im letzten Augenblick machten er und Diotima eine Wendung, die sie zu Ulrich, General Stumm und den übrigen führte, die sich auf der anderen Seite befanden.

Von den Eingebungen der ungewöhnlichen Menschen bis zum völkerverbindenden Kitsch bildet das, was Ulrich die moralische Phantasie nannte, oder einfacher das Gefühl, eine einzige, jahrhundertealte Gärung ohne Ausgärung. Ein Wesen ist der Mensch, das nicht ohne Begeisterung auskommen kann. Und Begeisterung ist der Zustand, worin alle seine Gefühle und Gedanken den gleichen Geist haben. Du meinst, beinahe im Gegenteil, sie sei der Zustand, wenn ein Gefühl übermächtig stark sei, ein einziges, das – Hingerissensein! – die anderen zu sich hinreißt? Nein, du hast darüber gar nichts sagen wollen? Immerhin, es ist so. Es ist auch so. Aber die Stärke einer solchen Begeisterung ist ohne Halt. Dauer gewinnen die Gefühle und Gedanken nur an einander, in ihrem Ganzen, sie müssen irgendwie gleichgerichtet sein und sich gegenseitig mitreißen. Und mit allen Mitteln, mit Rauschmitteln, Einbildungen, Suggestion, Glauben, Überzeugung, oft auch nur mit Hilfe der vereinfachenden Wirkung der Dummheit, trachtet ja der Mensch, einen Zustand zu schaffen, der dem ähnlich ist. Er glaubt an Ideen, nicht weil sie manchmal wahr sind, sondern weil er glauben muß. Weil er seine Affekte in Ordnung halten muß. Weil er durch eine Täuschung das Loch zwischen seinen Lebenswänden ver­stopfen muß, durch das seine Gefühle sonst in alle vier Winde gingen. Das richtige wäre wohl, statt sich vergänglichen Scheinzuständen hinzugeben, die Bedingungen der echten Begeisterung wenigstens zu suchen. Aber obwohl alles in allem die Zahl der Entscheidungen, die vom Gefühl abhängen, unendlich viel größer ist als die jener, die sich mit der blanken Vernunft treffen lassen, und alle die Menschheit bewegenden Ereignisse aus der Phantasie entstehen, erweisen sich nur die Verstandesfragen überpersönlich geordnet, und für das andere ist nichts geschehn, was den Namen einer gemeinsamen Anstrengung verdiente oder auch nur die Einsicht in ihre verzweifelte Notwendigkeit andeutete:

Ungefähr so sprach Ulrich, unter begreiflichen Protesten des Generals.

Er sah in den Vorgängen des Abends, wenn sie auch nicht ohne Ungestüm waren und durch mißgünstige Auslegung sogar noch folgenschwer werden sollten, nur das Beispiel einer unendlichen Unordnung. Herr Feuermaul erschien ihm in diesem Augenblick so gleichgültig wie die Menschenliebe, der Nationalismus so gleichgültig wie Herr Feuermaul, und vergeblich fragte ihn Stumm, wie man denn aus dieser überaus persönlichen Stellungnahme den Gedanken eines greifbaren Fortschritts destillieren solle. „Melde eben,“ erwiderte Ulrich „das sei der Tausendjährige Glaubenskrieg. Und noch nie seien die Menschen so schlecht gegen ihn gerüstet gewesen wie in dieser Zeit, da der Schutt ‚des vergeblich Gefühlten‘, den ein Zeitalter über dem anderen hinterläßt, Bergeshöhe erreicht hat, ohne daß etwas dagegen geschähe. Das Kriegsministerium darf also beruhigt dem nächsten Massenunglück entgegensehen.“

Ulrich sagte das Schicksal vorher und hatte davon keine Ahnung. Es lag ihm auch gar nichts am wirklichen Geschehen, sondern er kämpfte um seine Seligkeit. Er versuchte alles dazwischenzuschieben, was sie hindern könnte. Darum lachte er auch und suchte die anderen durch den Anschein irrezuführen, daß er spotte und übertreibe. Er übertrieb für Agathe; er setzte sein Gespräch mit ihr fort, und nicht nur dieses letzte. Er errichtete in Wahrheit ein Gedankenbollwerk gegen sie und wußte, daß daran an einer gewissen Stelle ein kleiner Riegel wäre: zöge man an diesem, so würde alles von Gefühl überflutet und begraben werden! Und eigentlich dachte er unausgesetzt an diesen Riegel.

Diotima stand in seiner Nähe und lächelte. Sie fühlte etwas von Ulrichs Bemühung um seine Schwester, war wehmütig gerührt, vergaß die Sexualwissenschaft, und etwas stand offen: es war wohl die Zukunft, jedenfalls waren es aber ein wenig auch ihre Lippen.

Arnheim fragte Ulrich: „Und Sie meinen, – daß man etwas dagegen tun könnte?“ Die Art, wie er diese Frage stellte, gab zu verstehen, daß er durch die Übertreibung den Ernst erkenne, aber immerhin auch ihn übertrieben finde.

Tuzzi sagte zu Diotima: „Man muß jedenfalls verhindern, daß etwas von diesen Vorgängen in die Öffentlichkeit dringt.“

Ulrich erwiderte Arnheim: „Liegt es nicht ganz nahe? Wir sehen uns heute vor zuviel Gefühls- und Lebensmöglichkeiten gestellt. Gleicht diese Schwierigkeit aber nicht der, die der Verstand bewältigt, wenn er vor einer Unmenge von Tatsachen und einer Geschichte der Theorien steht? Und für ihn haben wir ein unabgeschlossenes und doch strenges Verhalten gefunden, das ich Ihnen nicht zu beschreiben brauche. Ich frage Sie nun, ob etwas Ähnliches nicht auch für das Gefühl möglich wäre? Wir möchten doch ohne Zweifel daraufkommen, wozu wir da sind, das ist eine Hauptquelle aller Gewalttaten der Welt. Nun haben das andere Zeiten mit ihren unzureichenden Mitteln versucht, das große Zeitalter der Erfahrung aus seinem Geist heraus aber überhaupt noch nicht –“

Arnheim, der rasch begriff und gerne unterbrach, legte ihm beschwörend die Hand auf die Schulter: „Das wäre ja ein steigendes Verhältnis zu Gott!“ rief er gedämpft und warnend aus.

„Das wäre doch nicht das Schrecklichste?“ meinte Ulrich, nicht ganz ohne spöttische Schärfe für diese vorschnelle Angst. „Aber so weit bin ich ja gar nicht gegangen!“

Arnheim nahm sich sofort zusammen und lächelte. „Man freut sich, wenn man nach langer Abwesenheit jemand unverändert antrifft; das ist heutzutage selten!“ sagte er. Er freute sich übrigens, kaum daß er sich durch diese wohlwollende Abwehr in Sicherheit fühlte, wirklich. Ulrich hätte ja auch auf das peinliche Stellungsangebot zurückkommen können, und Arnheim war ihm dankbar dafür, daß er in seiner unverantwortlichen Unbedingtheit jede Berührung mit der Erde verschmähe. „Wir müssen einmal darüber sprechen“ fügte er herzlich seinen Worten hinzu. „Mir ist unklar, wie Sie sich diese Übertragung unseres theoretischen Verhaltens auf das praktische denken.“

Ulrich wußte, daß es wirklich noch unklar sei. Er meinte ja weder ein „Forscherleben“ noch ein Leben „im Lichte der Wissenschaft“, sondern ein „Suchen des Gefühls“, ähnlich dem Suchen der Wahrheit, nur daß es da nicht auf Wahrheit ankam. Er sah Arnheim nach, der zu Agathe hinübertrat. Dort stand auch Diotima; Tuzzi und Graf Leinsdorf gingen und kamen. Agathe plauderte mit allen und dachte: „Warum spricht er mit allen?! Er hätte mit mir fortgehen sollen! Er entwertet das, was er mir gesagt hat!“ Manche Worte, die sie herüber hörte, gefielen ihr, aber sie taten ihr trotzdem weh. Alles, was von Ulrich kam, tat ihr jetzt wieder weh, und noch einmal an diesem Tag hatte sie plötzlich das Bedürfnis, ihn zu fliehn. Sie verzagte daran, daß sie in ihrer Einseitigkeit ihm genug sein könne, und die Vorstellung, daß sie nach einer Weile bloß wie zwei Leute nach Hause gehen sollten, die den vergangenen Abend beschwätzen, war ihr unerträglich!

Ulrich aber dachte weiter: „Arnheim wird das nie verstehn!“ Und er ergänzte es: „Der wissenschaftliche Mensch ist ja gerade im Gefühl beschränkt, der praktische erst recht. Das ist so notwendig wie ein fester Stand der Beine, wenn man mit den Armen etwas packen soll.“ Er selbst war unter gewöhnlichen Umständen so. Sobald er dachte, und geschähe es über das Gefühl in Person, ließ er das Gefühl nur vorsichtig zu. Agathe nannte das kalt; er aber wußte: will man das andere ganz sein, so muß man wie bei einem tödlichen Abenteuer vorher auf das Leben verzichten, denn man kann sich nicht vorstellen, wie es weitergehen wird! Er hatte Lust dazu und fürchtete es in diesem Augenblick nicht mehr. Er sah lange seine Schwester an. Das lebhafte Spiel des Sprechens auf dem davon unberührten tieferen Gesicht. Er wollte sie auffordern, mit ihm fortzugehn. Ehe er aber noch seinen Platz verlassen konnte, sprach ihn Stumm an, der wieder zu ihm herübergekommen war.

Der gute General hatte Ulrich gern; er hatte ihm die Scherze über das Kriegsministerium schon verziehen, ja irgendwie gefiel ihm die Rede vom „Glaubenskrieg“ ganz gut, denn sie hatte so etwas festtäglich Militärisches wie Eichenlaub am Tschako oder Hurraschreien an Kaisers Geburtstag. Er lehnte seinen Arm an den des Freundes und bugsierte Ulrich außer Hörweite. „Siehst du, ich finde es schön, daß du sagst, alle Ereignisse entstehen aus der Phantasie“ begann er; „natürlich ist das mehr meine private als meine dienstliche Stellung dazu.“ Er bot Ulrich eine Zigarette an.

„Ich muß nach Hause gehn“ sagte Ulrich.

„Deine Schwester unterhält sich großartig, stör sie doch nicht“ sagte Stumm. „Der Arnheim legt sich tüchtig ins Zeug, ihr den Hof zu machen. Und was ich dir sagen wollte: Alle haben jetzt keine rechte Freude mehr an den großen Gedanken der Menschheit; du solltest wieder Schwung hineinbringen. Ich meine: die Zeit bekommt einen neuen Geist, und den solltest du eben in die Hand nehmen!“

„Wie kommst du denn darauf?!“ fragte Ulrich mißtrauisch.

„Ich denke es mir halt so.“ Stumm überging es und fuhr dringend fort: „Für Ordnung bist du doch auch, das sieht man ja an allem, was du sagst. Und sodann fühle ich mich gefragt: Ist der Mensch mehr gut oder braucht er mehr eine starke Hand? Darin liegt ein gewisses heutiges Bedürfnis nach Entschiedenheit. Alles in allem habe ich dir ja schon gesagt, daß es mir eine Beruhigung wäre, wenn du wieder die Führung in der Aktion übernehmen tätest. Man weiß schließlich doch nicht, was sonst bei dem vielen Reden geschieht!“

Ulrich lachte. „Weißt du, was ich jetzt tue? Ich komm nicht mehr her!“ antwortete er glücklich.

„Warum denn?“ eiferte Stumm. „Die werden recht behalten, die sa­gen, daß du nie eine wirkliche Kraft gewesen bist!“

„Wenn ich den Leuten verriete, wie ich denke, würden sie es erst recht sagen!“ gab Ulrich lachend zur Antwort und machte sich von seinem Freunde los.

Stumm war ärgerlich, aber dann siegte seine Gutmütigkeit, und er sagte abschiednehmend: „Diese Geschichten sind verdammt kompli­ziert. Ich habe mir geradezu manchmal gedacht, das Beste wäre schon, wenn über alle diese Unlösbarkeiten einmal ein rechter Trottel käme, ich meine so eine Art Jeanne d'Arc, der könnte uns vielleicht helfen!“

Ulrichs Blick suchte seine Schwester und fand sie nicht. Als er Diotima nach ihr fragte, kamen Leinsdorf und Tuzzi soeben wieder aus der Wohnung und teilten mit, daß ein allgemeiner Aufbruch stattfinde. „Ich habe gleich gesagt,“ berichtete Se. Erlaucht aufgeräumt der Hausfrau „was sie geredet haben, ist nicht ihre wahre Meinung gewesen. Und die Drangsal hat dann einen wirklich rettenden Einfall gehabt, es ist nämlich beschlossen worden, die heutige Versammlung ein andermal fortzusetzen. Aber der Feuermaul, oder wie er heißt, wird dabei irgendein langes Gedicht von sich vorlesen, da wird es ruhiger zugehn. Ich habe mir natürlich erlaubt, wegen der Dringlichkeit gleich in Ihrem Namen zuzustimmen!“

Dann erst erfuhr Ulrich, daß sich Agathe plötzlich verabschiedet und ohne ihn das Haus verlassen habe; man richtete ihm aus, daß sie ihn durch ihren Entschluß nicht hätte stören wollen.