BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Ursula Püschel

1930 - 2008

 

Bettina von Arnims

Polenbroschüre

 

Der historische Zusammenhang

 

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Der historische Zusammenhang

 

Die Ereignisse des Sturmjahres achtundvierzig trugen in den führenden europäischen Ländern verschiedene Gesichter; allen gemeinsam aber war die vorausgegangene Entfaltung der großen Industrie und, damit zusammenhängend, die Entwicklung der Kräfte der Arbeiterklasse.

In England, der „Fabrik der Welt", war ein neuer Weg bereits durch die Parlamentsreform von 1832 eingeschlagen worden. Der ungeheure wirtschaftliche Aufschwung, hier forciert durch die Ausbeutung kolonialer Länder, hatte schon zu dieser Zeit der Bourgeoisie eine solche Stärke verschafft, daß sie sich mit der bestehenden Verteilung der politischen Macht nicht mehr zufrieden zu geben brauchte; sie konnte eine Änderung des Wahlsystems zu ihren Gunsten durchsetzen.

Dies geschah auf Kosten der Arbeiterklasse, die diesem politisch nun mächtigen Bürgertum letztlich noch nicht gewachsen war. Denn es gab zwar die Chartistenbewegung, „die erste breite wirkliche Massen­bewegung, die politisch geformt und proletarisch revolutionär war" (Lenin). Aber utopische Zielsetzung (zum Beispiel bäuerlich-demokratische Republik), Opportunismus in der Führerschaft und eine nicht schlagkräftige Organisation ließen eine Auseinandersetzung mit der bewaffneten Macht nicht zu, so daß sich schließlich die gesamte Bewegung 1848 mit einer letzten Petition verläpperte.

In Frankreich herrschten bis zu diesem Jahre die Bankiers mit dem Bourbonen Louis Philippe. Ein einseitig modifizierter Wahlzensus schloß große Teile des wirtschaftlich erstarkten Bürgertums von der Regierung aus. Mißernten und Krise verschärften die Lage. Dies alles führte zum Ausbruch der Februarrevolution.

Die Arbeiter erkämpften der Bourgeoisie die Republik. Das Neue aber war hier, daß sie bereits klare eigne politische Forderungen aufgestellt hatten, die diese Republik dann unter dem Druck des Tages, aber natürlich nur zu einem kleinen Teil, erfüllte. Zu diesen innerpolitischen Schwierigkeiten kam in der Folgezeit noch, daß auch die Außenpolitik stärksten Widerwillen erregen mußte, da sich die Bourgeoisie zum Beispiel gegen die aufstehenden Völker auf die Seite des Zaren schlug: Sie erklärte, sich in den Polenaufstand nicht einmischen zu wollen. Sie bewahrte auch gegenüber den Vorgängen in Deutschland und vor allem in Italien, das sowohl um nationale wie demokratische Belange stritt, strikte „Neutralität". Als nun noch in Paris die Nationalwerkstätten, Errungenschaften der ersten Tage der Revolution, unproduktiv eingesetzt und daraufhin wieder geschlossen wurden, hatte die Geduld der jetzt 113 000 Arbeitslosen und der Arbeiter ein Ende. Sie gingen erneut auf die Straße und schlugen die erste große Schlacht des Proletariats gegen die Bourgeoisie. – Noch blieb die Bourgeoisie Sieger. Den Ausgebeuteten aller Länder wurde jedoch klar, daß sie anzugreifen war.

In Österreich hatte das Metternich-Regime mit einem ausgeklügelten Polizei- und Zensurapparat das gesamte übrige Volk praktisch bis 1848 von den anderen Völkern Europas hermetisch abschließen können.

Die Absicht war dabei, jegliches Eindringen des revolutionären Gedankengutes zu verhindern. Die sonstigen Störungen, die in diesem Staatsgebiet auftraten – wie der Gegensatz zwischen Feudalen und Börsenfürsten sowie der Gegensatz der Nationalitäten –, parierte der Kanzler durch geschicktes Ausspielen der einzelnen Kräftegruppen gegeneinander. Trotzdem vollzog sich jene bedeutende Entwicklung der Industrie, die mit der Zeit der Bourgeoisie die Stärke geben mußte, dieses Gleichgewicht zu gefährden. Als in Wien die Revolution ausbrach, die den Metternichschen Despotismus in kürzester Zeit beseitigte, standen hier Bourgeoisie, Mittelstand und Arbeiterklasse vorerst einmal zusammen. Aber der Gegensatz der Interessen gab bald den stärkeren Ausschlag: Studenten und Arbeiter wurden durch ihre ständige Aktivität und weiter gehende Zielsetzung der Bourgeoisie viel zu gefährlich, so daß diese sich im Vertrauen auf die errungenen Rechte für stark genug hielt, auch mit den Feudalen paktieren zu können, zumal jene ihre besten Kunden waren.

Die österreichische Revolution hatte also anfangs Erfolg, der durch den Aufstand der ungarischen und italienischen Patrioten noch verstärkt wurde. Aber gerade diese Aufstände führten auch zu jenen Truppenzusammenziehungen, die den Feudalen – nunmehr ungehindert von der Bourgeoisie und sogar mit ihrem Einverständnis – die Möglichkeit gaben, dort blutig zurückzuschlagen und ebenfalls den Oktoberaufstand in Wien zu ersticken. Damit gewann die Reaktion in Europa eine bedeutende Position zurück.

Unter den westeuropäischen Großmächten stand Deutschland industriell an letzter Stelle; also war seine Arbeiterklasse am wenigsten organisiert. Die stark wachsende Bourgeoisie hatte erst die Aufgabe, sich politische Macht zu gewinnen. Jedoch aus Furcht vor dem „rebellischen Element" der Arbeiter ließ diese in der achtundvierziger Revolution ihre Ideale im Stich und ging auf die Seite der feudalen Macht. Diese Zweckverbindung ergab unter Einbezug der preußischen Militärs eine reaktionäre Gewalt einmaligen Ausmaßes, die dem deutschen Proletariat seine weitere Entwicklung in besonderer Weise erschwerte. Die deutsche Intelligenz, verschult am Subjektivismus Fichtes und verführt durch den transzendentalen Idealismus Kants, träumte allerdings weiter von den Idealen der bürgerlichen Aufklärung.

Aus dem bisher Gesagten geht hervor, in welchem Maße die zur Macht gelangte oder an der Macht beteiligte Bourgeoisie auf Grund dieser Machtposition notwendig reaktionär werden, das heißt sich mit allen Mitteln gegen eine Veränderung der bestehenden Ordnung wehren mußte. Und weiter wird hieraus verständlich, weshalb ein so höchst feudaler Selbstherrscher wie der Zar die vollsten Sympathien ausgerechnet solchen Bürgertums genoß. War er es doch, in dessen unerschlossenem und rückständigem Reich unter rücksichtslosem Einsatz der geistlichen und polizeilich-militärischen Gewalt jedes rebellische Aufbegehren promptest unterdrückt wurde: Er war der „Kettenhund der Reaktion", der überall zupackte, wo sich das Volk eines Landes zu regen begann, gleich, ob es für soziale oder nationale Belange kämpfte.

In dieser historischen Situation und im Zusammenhang mit den Ereignissen des Jahres achtundvierzig in Westeuropa erhob sich Polen zum Kampf um seine Unabhängigkeit. Seit der ersten polnischen Teilung 1772 hatte dieses Land immer wieder versucht, die nationale Selbständigkeit zurückzugewinnen. Diese Bestrebungen wurden mit der Einsicht unternommen, zu der die eigne Geschichte geführt hatte, nämlich, daß nationale Unabhängigkeit nicht ohne soziale Veränderungen erreicht werden würde. Davon zeugt besonders die Verfassung von 1791, die übrigens Anlaß zur zweiten Teilung gab, da der Zar im eignen Interesse solchen „jakobinistischen Zügen" entgegentreten mußte. Polen erhob sich unter Kosciuszkos Führung 1794 gegen diese neuerliche Vergewaltigung. Es errichtete damit zwar eine Barrikade für die junge französische Republik, die zu dieser Zeit gegen die Mächte des alten Europa um ihre Existenz zu kämpfen hatte; den polnischen Patrioten selber aber half dieser Aufstand wenig: er endete mit der dritten Teilung Polens.

Als Napoleon dann Europa seine Ordnung aufzwang, fügte er die polnischen Teile zum Herzogtum Warschau zusammen. Dieses liquidierte jedoch die Heilige Allianz 1815 auf dem Wiener Kongreß. Den Polen wurde zwar das Recht auf eigene nationale Existenz formal zuerkannt. Aber der Egoismus Preußens, Österreichs und Rußlands verlangte dennoch eine Aufteilung, wobei den ihnen zugefallenen Gebieten Erleichterung sowohl in bezug auf die gegenseitigen wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen als auch im Grenzverkehr untereinander gestattet werden sollte. Der preußische König veröffentlichte damals einen „Allerhöchsten Zuruf an die Einwohner des Großherzogthums Posen“, in dem es heißt:

 

Indem Ich durch Mein Besitznahme-Patent vom heutigen Tage denjenigen Theil der ursprünglich zu Preußen gehörigen an Meine Staaten zurückgefallenen Distrikte des bisherigen Herzogthums Warschau in ihre uralten Verhältnisse zurückgeführt habe, bin Ich bedacht gewesen, auch Eure Verhältnisse festzusetzen; auch Ihr habt ein Vaterland, und mit ihm einen Beweis Meiner Achtung für Eure Anhänglichkeit an dasselbe erhalten. Ihr werdet Meiner Monarchie einverleibt, ohne Eure Nationalität ver-läugnen zu dürfen. Ihr werdet an der Constitution theilnehmen, welche Ich Meinen gethreuen Unterthanen zu gewähren beabsichtige ... Eure persönlichen Rechte und Euer Eigenthum kehren wieder unter den Schutz der Gesetze zurück, zu deren Berathung Ihr künftig hinzugezogen werden sollt. Eure Sprache soll neben der deutschen in allen öffentlichen Verhandlungen gebraucht werden und Jedem unter Euch soll nach Maßgabe seiner Fähigkeiten der Zutritt zu den öffentlichen Aemtern des Großherzogtums sowie zu allen Aemtern, Ehren und Würden Meines Reiches offenstehen ... Mein unter Euch geborener Statthalter wird bei Euch residiren ... Wichtige Erfahrungen haben Euch gereift. Ich hoffe auf Eure Anerkenntnis rechnen zu dürfen.

Gegeben zu Wien, den 15. Mai 1815

Friedrich Wilhelm.“

 

Diese Versprechungen wurden genau so wenig erfüllt, wie der Hohenzoller auch seinem eignen Volke die Versprechungen aus der Zeit der Befreiungskriege nicht hielt. Die Unterdrückung der polnischen Nation wurde in herkömmlicher Weise fortgesetzt, so daß es 1830, im Zusammenhang mit der französischen Julirevolution – die überall in Europa ein Echo fand –, zu einer neuen Erhebung in Polen kam. Auch diesmal wurde dadurch ein Eingreifen Rußlands in die Vorgänge in Frankreich verhindert, auch diesmal floß Polens Blut für Frankreichs Freiheit. 1)

Nach der Niederschlagung dieses Aufstands mußten viele polnische Patrioten ihr Land verlassen und suchten im Ausland, zumeist in Frankreich, Asyl. Wenn die Deutschen sich auch nicht erhoben hatten, um Polen zu helfen, war doch die Sympathie aller, die gegen den Absolutismus standen, bei den Flüchtlingen. Und als die Polen durch Deutschland zogen, fand diese innere Einstellung in wärmster Hilfsbereitschaft und tätiger Unterstützung endlich ihren Ausdruck. Er kam genau so vom süd- und westdeutschen Regierungsbeamten, vom Intellektuellen und von einzelnen Angehörigen der Bourgeoisie wie auch vom Handwerker, vom Arbeiter und von anderen Menschen, deren aller Armut nur unter schwersten Opfern solche Hilfe zuließ. Einer der Höhepunkte der Begeisterung für die tapferen Polen war das Hambacher Fest, wo unter der deutschen und der polnischen Fahne Redner beider Nationen die Verbundenheit des polnischen und des deutschen Volkes im Kampf gegen den gemeinsamen Feind, die Reaktion, beschworen.

Als 1846 in dem österreichischen Gebiet Polens ein neuer Aufstand ausbrach, griff Preußen in seinem Gebiet mit Verhaftungen ein, bevor die Erhebung auch hierher übergreifen konnte. Unter den Verhafteten befand sich Ludwig Mieroslawski, der Kopf des Aufstandes und spätere Kampfgefährte Friedrich Engels' in Baden. Er wurde mit sieben seiner Kameraden zum Tode verurteilt, aber nicht hingerichtet und im nächsten Jahr durch die Märzrevolution aus dem Kerker befreit.

In diesen Tagen des Jahres achtundvierzig setzte sich das deutsche Volk erneut für die Freiheit des polnischen Volkes ein und verlangte die endliche Erfüllung der nationalen Forderungen Polens. Diese wurden durch Delegierte der polnischen Nationalkomitees vertreten und waren: Nationale Reorganisation ihres Landes und Ablehnung eines Anschlusses an den Deutschen Bund unter Hinweis auf die „Königlichen" Versprechungen von 1815. Als erste Schritte auf diesem Wege wurden die Ablösung der militärischen Besatzung durch ein einheimisches Truppenkorps, die Einsetzung von Polen als Beamte, die Bildung einer Nationalgarde, die Auflösung der bestehenden Polizeigewalt und Einführung selbstgewählter Polizeibeamter verlangt. Im Hinblick auf die notwendige Popularität sah sich der preußische König gezwungen, diesen Forderungen prinzipiell zuzustimmen. Seine Zivilbehörden im Großherzogtum selbst aber folgten nur zögernd und widerwillig, die Militärbehörden sogar überhaupt nicht den neuen Anweisungen. Und bereits in den Apriltagen begann auch die Regierung selber die unter dem Druck des Tages gegebenen Zusagen langsam wieder rückgängig zu machen.

Aber es waren nicht nur preußische Junker, die sich traditionsgemäß neuer Politik widersetzten. In der Paulskirche fanden sich jetzt Sprecher auch der Bourgeoisie 2), die meinten, daß sie mit den Feudalen gehen müßten, wenn sie sich das Volk vom Leibe halten wollten, und die also in diesem Falle glaubten, daß die alte Ostpolitik von nun an auch ihrem eigenen Interesse entspräche. Die Sache des polnischen Volkes lag jetzt nur noch in den Händen eines kleinen Kreises fortschrittlicher Intellektueller und jener Menschen aus dem Volke, die die Notwendigkeit des Kampfes aller Unterdrückten um die Freiheit nicht vergessen hatten. Das deutsche Volk war von der Bourgeoisie ebenso hintergangen worden wie Polen, und die Reaktion rückte auch ihm zu Leibe. Engels hatte dazu bereits im November 1847 gesagt 3):

 

„Eine Nation kann nicht frei werden und zugleich fortfahren, andere Nationen zu unterdrücken. Die Befreiung Deutschlands kann also nicht zustande kommen, ohne daß die Befreiung Polens von der Unterdrückung durch Deutsche zustande kommt.“

 

Der fortschrittlichste Teil des deutschen Volkes begann, diese Zu­sammenhänge zu begreifen.

Als die preußische Besatzung in Polen verstärkt wurde, hofften manche Polen noch, daß Preußen – mit ihnen als Vorhut – gegen den Todfeind, den Zaren, in den Krieg ziehen wollte. Denn anläßlich der polnischen Teilungen hatten sich die Hohenzollern in einen Teufelspakt mit dem Zarismus eingelassen, immer und überall Beihilfe zu leisten, wo es galt, sein Feudalsystem gegen den Ansturm der neuen Zeit zu halten. Und es schien sehr einleuchtend, daß der König sich aus einer derartig weitgehenden Verpflichtung wieder loskämpfen müßte. Polnische Stimmen 4) äußern sich über diese Vorstellung von der politischen Lage folgendermaßen:

 

„Wenn dies alles zusammengefaßt wird, so wird sich schwer jemand finden, der sich noch wundern sollte, daß alle Polen der festen Überzeugung lebten, der Kampf mit Rußland sei dem Ausbruche nahe, und Preußen sehe in der allgemeinen Volksbewaffnung seine Vorhut ... In demselben Sinne haben die Polen auch die von dem Vorparlament den polnischen Emigranten gestattete Heimkehr verstanden ... Der bekannte plötzliche Wechsel in den Ansichten des preußischen Ministeriums und Hofes konnte unmöglich den lebhaften Enthusiasmus unterdrücken, wenn gleich die Merkmale einer ungünstigen Stimmung der Büreaukratie und deren Einfluß auf einen Theil der deutschen und jüdischen Bevölkerung, so wie das von Tag zu Tag feindseliger werdende Auftreten der Militärbehörden, allen Bedächtigen bange Ahnungen einflößten.

Während man daher das Einrücken preußischer Truppen anfangs für Unterstützung zum Einmarsche in das Königreich Polen (= der Teil Polens, der unter russischer Herrschaft stand, U. P.) hielt, fühlte man einerseits bald an den feindseligen und brutalen Äußerungen und Handlungen dieser Soldaten, so wie andererseits an der feindlichen Stimmung des deutschen Comité's, der deutschen und jüdischen Bevölkerung, welche in dem Maße sich steigerte, als die Truppen sich mehrten, daß es sich um kein freundschaftliches Einverständnis handle ... Dennoch kam es, obgleich die polnischen Truppenteile schon gegen 20 000 Mann zählten, am 11. April zur Convention von Jaroslawiec, in welcher General von Willisen ausdrücklich erklärte, daß die nationale Reorganisation in voller Bedeutung des Wortes ,realisirt' werden solle.“

 

Die erwähnte Konvention sah die gleichen Veränderungen vor, die Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1815 schon zugesagt hatte: Ein polnischer Oberpräsident für Posen, Besetzung der Verwaltungs- und Justizämter mit gebürtigen Polen, ein nationales Armeekorps, das aus polnischen Bürgern und Angehörigen der schon bestehenden Freiwilligenkorps aufgestellt werden sollte, und Erlaubnis zum Tragen der nationalen Farben und zum Gebrauch der polnischen Sprache neben der deutschen als Amtssprache. Diese Konvention wurde unter dem bösen Omen eines Belagerungszustandes geschlossen, den die Militärbehörden über Posen verhängt hatten. Der König verlangte als Voraussetzung der Erfüllung der Konvention „Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung", das hieß die Auflösung der erwähnten Freiwilligenkorps. General Willisen konnte die Erfüllung dieser Forderung erreichen, da die polnischen Nationalkomitees zumeist großes Vertrauen zu ihm hatten. Später stellte sich allerdings heraus, daß dieser Mann dem System, dem er diente, treuer war als seinen privaten Ansichten.

Die preußischen Chauvinisten hatten inzwischen dieser Entwicklung mit Mißfallen zugesehen und taten nun alles, sie abzuwürgen, zudem bei jenen preußischen Beamten, die meist erst nach 1815 nach Polen gekommen und Könige in ihrem Reich waren, solche chauvinistische Stimmungsmache ihre verständlichste Resonanz und praktische Anwendung fand. Denn man hatte Willisen in Berlin zwar Vollmacht gegeben, Zusagen zu machen, aber nicht die Macht, diese Zusagen zu realisieren; er stand allein. Es kam so weit, daß das Gerede von der beleidigten Nationalehre, das die Beamten und andere Interessengruppen propagierten, auf der anderen Seite schließlich in Drohungen, Übergriffen und offenen Provokationen der preußischen Militärs ihr Gegenstück fanden. Willisen wurde als Verräter der Nation angeprangert; und als ein General von Colomb, Festungskommandant von Posen, ihm sogar den Zutritt in die Stadt verweigerte, mußte er letztlich vor all diesen Schikanen nach Berlin zurückreisen. Als er dort dann Genugtuung verlangte, sprach ihm statt dessen das Ministerium höflichst seinen Dank aus und ließ nur sagen, daß er ganz im Sinne Seiner Majestät gehandelt habe und ab nun seines Auftrages ledig sei.

Als Willisen der Provinz den Rücken gewandt hatte, legten sich die Militärbehörden überhaupt keinen Zwang mehr auf; das Unrecht wurde Recht, und man war jetzt endlich so weit, behaupten zu können, daß Polen einer nationalen Reorganisation absolut unwürdig wäre. Voll verzweifelter Empörung schrieb damals selbst der Erzbischof Przyluski an den preußischen Kultusminister:

 

„Nun folgten Gewalttaten auf Gewalttaten. Die eigenmächtige Erklärung des Belagerungszustandes der Stadt Posen veranlaßte Exzesse auf Exzesse. Die in allen Richtungen ausgesandten mobilen Kolonnen mißhandelten und mordeten Menschen, sie plünderten, entweihten Kirchen, wühlten Gräber auf, sie provozierten partielle Widerstände, ja neue Reunionen zur Selbstverteidigung und auch zur Wiedervergeltung. Die von dem General von Willisen den Cadern des künftigen polnischen Militärs angewiesenen Standpunkte wurden mit größter Übermacht angefallen und die Cader zersprengt; die dennoch von den sehr verachteten Rotten bei Miloslav und Wreschen erfahrenen herben Schläge erbitterten noch mehr, kurz, die Furie des Krieges wütete im Lande. Da traf Herr General von Pfuel als neuer Pazifikator und Organisator ein. Sein erster Schritt war die Ausdehnung des Belagerungszustandes der Stadt Posen auf die ganze Provinz. Der zweite war die ganz neue Erfindung, die im Kampfe gefangenen Polen am Ohr mit Höllenstein zu brandmarken ... Unterdessen dauerten und dauern noch jetzt fort alle möglichen Greuelszenen in der Provinz mit dem Zusätze, daß unter den Auspizien des neuen Pazifikators Bauern und Edelleute Kantschuh-Hiebe erhalten. Die Einwohner der Provinz werden an die Zeiten der wilden tatarischen Horden erinnert ...“

 

Obwohl dieses Blutbad aber provoziert worden war, erdreistete man sich trotzdem noch zu behaupten, daß ausgerechnet die Deutschen nun hier Garantien brauchten, um vor den „polnischen Übergriffen“ geschützt zu sein. General von Pfuel entwarf unter diesem Vorwand gleitende Demarkationslinien, die von Mal zu Mal immer größere Teile des Großherzogtums zu Preußen schlagen sollten. Zwar hatte Polen seinerzeit den deutschen Einwanderern die Möglichkeit gegeben, sich im Lande anzusiedeln; zum Dank dafür aber behaupteten diese, daß der Boden, auf dem sie jetzt saßen, deutsch sei und zu Deutschland gehöre. Die Abgeordneten des schon erwähnten Nationalkomitees stellten dagegen fest, wie unbegründet diese Forderungen nach Gebietsab­trennung mit der Notwendigkeit des Schutzes der deutschen Einwohner seien: „Die ganze Vergangenheit Polens gibt den Deutschen Bürgschaft, daß der ihnen stets gewährte Schutz auch in der Zukunft ihnen nicht fehlen werde. Ihre Väter fanden vor Jahrhunderten ein Asyl in unserer Mitte, und die Deutschen waren seitdem in allen unseren Schicksalswechseln, nicht blos in alter Zeit, in ihrer Volkstümlichkeit weder gekränkt noch bedroht, vielmehr durch Privilegien in eigner Gemeindeverwaltung und Rechtspflege begünstigt, sondern auch durch die Constitution vom 3. Mai 1791 und die Verfassung des Herzogthums Warschau wurden sie zu gleichen Rechten mit den Polen zugelassen und durch ihren Fleiß und den Schutz der Gesetze gelangten sie zu ihrem Wohlstande. 5)

Und die gleichen Abgeordneten trafen die beschämende Fest­stellung:

 

„Hätten sie sich diese Stellung gedacht wie die, welche uns 1815 zugesichert worden, sie würden dadurch in keine gereizte Stimmung versetzt worden sein ... Aber nicht, was uns zugesichert war, mögen die Deutschen im Auge gehabt haben, sondern die trostlose Wirklichkeit, zu welcher unter ihren Händen unsere heiligsten Rechte sich gestaltet hatten, daß wir wie Fremdlinge gehalten werden im Erbe unserer Väter. Sie fürchteten daher, es möchte ihnen ergehen, wie bisher uns. – Daß sie also scheiden sollten von der süßen Gewohnheit des Herrschens, das war's, wogegen der ganze Hochmuth des begünstigten, höher gestellten Geschlechts sich sträubt. Sie wollen nicht ablassen von dem lange geübten Unrechte, in dessen Genüsse ,sie sich im Grunde immer als mit Preußen zu Deutschland gehörig gerechnet haben'.“

 

Die Pfuelschen Demarkationslinien wurden zwar nicht verwirklicht, aber dafür wurde Posen in seiner Gesamtheit Preußen einverleibt. Von jetzt an gab es für die eigne nationale Existenz Polens kaum noch Hoffnung; die Mächte der Reaktion hatten gesiegt, aber sein Herz lebte trotz dieser Realität.

In dem Vorwort zur polnischen Ausgabe des Kommunistischen Manifestes vom Jahre 1892 schrieb Friedrich Engels:

 

„Die Unabhängigkeit Polens ... ist ... eine Notwendigkeit für das harmonische Zusammenwirken der europäischen Nationen. Sie kann erkämpft werden nur von dem jungen polnischen Proletariat, und in dessen Händen ist sie gut aufgehoben. Denn die Arbeiter des ganzen übrigen Europas haben die Unabhängigkeit Polens ebenso nötig wie die polnischen Arbeiter selbst.“

 

Die Geschichte gibt Friedrich Engels recht. Erst als Arbeiter im Bündnis mit der werktätigen Bauernschaft die UdSSR geschaffen hatten und erst, als sich das kämpfende polnische Proletariat mit diesen gegen den deutschen Faschismus verbündet hatte, entstand jenes freie Polen, für das Menschen dieses Landes seit Jahrhunderten ihr Blut vergossen hatten. Und auch unser Volk mußte erst von dem verblendeten Herrscherwahn der Junker und der Kapitalisten befreit werden, ehe der deutsche Arbeiter als gleicher vom polnischen Arbeiter die Freundeshand empfangen konnte – einhundert Jahre alter Wille und Auftrag der fortschrittlichen Intelligenz und der Arbeiterklasse Deutschlands.

 

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1) Friedrich Engels schrieb dazu: „Ein Feldzug der Heiligen Allianz gegen Frankreich wurde vorbereitet – da brach der polnische Aufstand los, hielt Rußland für ein Jahr im Schach, und so rettete Polen zum zweitenmal die europäische Revolution durch eigene Aufopferung.“ 

2) Radowitz, Jordan and andere. 

3) Aus: „Reden von Karl Marx und Friedrich Engels über Polen in London, 29. November 1847.“ In: „Marx-Engels-Gesamtausgabe“, I. Abt., Bd. 6, S. 360. 

4) „Promemoria gegen den projectierten Anschluß des Großherzogtums Posen an Deutschland, mit beweisenden Anlagen, an den völkerrechtlichen Ausschuß der deutschen Nationalversammlung von den unterschriebenen durch Vollmacht legitimirten Abgeordneten der polnischen National-Comité." Frankfurt am Main, Druck von August Osterrieth, 1848, S. 11. 

5) „Promemoria“. S. 18.