Karl Jakob Hirsch
1892 - 1952
Kaiserwetter
1931
Zweiter Teil
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Irgendein Nachmittag
Lernhard und Joe saßen im Cafe, es war nachmittags fünf Uhr. Sie saßen an der Scheibe und sahen auf die Georgstraße. Auf der andern Seite ging Edith. Sie war nicht allein. Der Schauspieler Matthias Momber begleitete sie, er war der Liebling Hannovers. Der Hofschneider Kahlfeld, der ehemalige Schauspieler und die theaterkritische Kompetenz der Stadt, war bei dem Debüt des Matthias Momber als Nathan der Weise nach der Ringerzählung in ein lautes und ostentatives Bravo“ ausgebrochen. Der Beifall prasselte über den trefflichen Charakterdarsteller hinweg. Sein Ruhm begann. Freilich sagte Kahlfeld in der Pause laut und vernehmlich zu dem Rechtsanwalt de Vries: Gut... aber kein Sonnenthal.“ Dies war eine Einschränkung, denn Sonnenthal galt als der größte Darsteller des Nathan.Edith und Matthias Momber trafen sich oft. Zum Unglück des kleinen Joe, der sich in Edith verliebt hatte. Joe spielte Klavier, Edith sang. Joes Beziehungen zu Edith waren aber ganz geistig und unkörperlich, trotz Wagners süßer, schwül duftender Tristan“-Musik, die sie beide zusammengeführt hatte. Im Hoftheater saßen Edith und Joe nebeneinander. Sie kannten sich bisher nur oberflächlich, und Ediths Spott ließ sich oft an Joe aus. Aber an jenem Abend, als das Vorspiel zu Tristan“ erklang, faßte Edith zart Joes Hand. Da war der Blitz durch ihn hindurchgefahren und hatte ihn verwandelt. Die Musik rauschte nur für sie beide, Edith und Joe! Tristan und Isolde, das Sehnsuchtsmotiv rankte sich empor, kletterte zur leidenschaftlichen Wucht der Violinen, tröstend klang es, Gewißheit gebend: Ja, Liebe ist, warme Zärtlichkeit strömt ins Herz, hinsinken, ertrinken, versinken, höchste Lust, unbewußt... Der Pralltriller ist tröstliche Hoffnung, es gibt die Liebe, die den Tod überwindet...Joe fühlte ohnmächtige Eifersucht in sich aufsteigen. Wer war Momber? Ein Schauspieler, ein Komödiant, wie es viele gab, kein Sonnenthal, gewiß. Aber was war denn Joe, der Schüler Joe de Vries, der Schandfleck der Klasse, der begabte, nichtsnutzige Joe? War er vielleicht etwas? Joe kannte sich. Er fühlte, daß er es schwer haben würde im Leben, aber er freute sich darauf. Mit der Liebe zu Edith war in ihm eine zähe und entschlossene Kraft erwacht, alles aus sich herauszuholen. Die Nachmittage bei Edith, zweimal in der Woche, waren die Höhepunkte in seinem Leben, Schule war gleichgültiger Zwischenfall mit Ärger und Spektakel. Wichtig nahm er die Klavierstunden beim alten Klapproth, dem Kammervirtuosen am Hoftheater, der in derselben Straße wie Edith wohnte.Bernhard hatte Joe mitgenommen an diesem Tage zwischen Weihnachten und Neujahr. Es war der fünfte Tag des Chanukkafestes. Zu Hause bei de Vries wurden in diesen Tagen die neunarmigen Leuchter angezündet. Der Rechtsanwalt fügte sich in diesem Punkte seiner Frau, mit Rücksicht auf den alten Lewinsky, der zu Besuch in Hannover war.Es war nachmittags halb vier. Joe hörte mit Entzücken die Cafehausmusik. Zur näheren Erklärung des jeweiligen Musikstückes wurde eine Tafel mit einer Nummer an einem Pulte aufgehängt, da wußte man nun, was gespielt würde. Die Direktion des Cafes hatte ein schön gedrucktes Verzeichnis des Musikrepertoires auf jeden Tisch gelegt. Berni, der eifrig in dem Programmheft herumblätterte, ohne zu einem greifbaren Resultat zu kommen, sagte: Mensch... weißt du... was das ist... ich kann's nicht finden... hier Nummer ... einhundertelf?“Joe hörte dann die süße Boheme“-Musik, wie eiskalt ist dies Händchen“, Dachkammer und rührende Liebe, er kannte das alles ...Das ist doch ,Boheme' ...“Na, danke... sieh mal das Mädchen... das wollen wir mal ranholen.“Joe sah, wie Bernhard einem hübschen und frechen Ding zuwinkte. Das tat er, obwohl er noch Schüler war, kraft seiner langen Hosen und seiner sechzehn Jahre. Das Mädchen war jung und schnippisch und hieß Anni Staufenbiel.Anni setzte sich zu den jungen Herren, sie kannte Berni gut und mochte ihn leiden. Sie kam gerade aus dem Bett, nachmittags um vier, da ihr Vater verreist war und sie gestern mächtig gebummelt hatte. Im Cafe war sie bekannt, sie ging immer nur durch“, setzte sich nur hin, wenn ein Bekannter oder eine Freundin dasaß. Und da das immer der Fall war, saß sie täglich im Cafe. Der Geschäfsführer betrachtete sie als diskrete Anziehung seines Etablissements.Bernhard entwickelte seine Kavalierseigenschaften. Also... was wünscht das gnädige Fräulein...?“, er sprach geziert albern. Leise flüsterte er dem ängstlichen Joe ins Ohr: Mensch... bestell Schwedenpunsch... dann bekommst du alle Weiber.“Anni lachte, sie hatte es gehört und war geschmeichelt.Der Kellner kam, scharwenzelte um den Tisch: Die Dame?“Bringen Sie eine Chartreuse... echte... nein zwei... oder trinkst du auch... Also dann zwei Chartreuse“, bestellte Berni und rückte näher an Anni heran. Joe wurde es sehr elend zumute. Er dachte an Edith. Er kam sich verworfen und schmutzig vor, die Musik spielte Nummer dreihundertneun, Gschichten aus dem Wiener Wald“. Joe harrte gespannt auf den Anfang des Walzers. Atemlos sagte er zu Berni: Ob sie wohl das Ritardando spielen? Das muß man nämlich, die tun es bloß immer nicht.“Berni kitzelte Anni: Du ... das ist unser Musikdirektor.“ Joe nahm es nicht übel.Die Kapelle spielte das Ritardando nicht, sie schoß in gemütlichem Eilzugtempo in den Walzer hinein und hielt sich nicht lange auf. Joe wurde zornig, aber das verstanden die andern nicht. Niemand verstand ihn, nur Edith. Er wollte zu ihr gehen, vielleicht war sie jetzt zu Hause; überhaupt mußte er heim, die Lichter anzünden, sonst würde der Großvater traurig.Als Joe gehen wollte, wurde Bernhard wütend, Anni rückte näher an Joe heran und machte ihn ganz verwirrt. An den Nebentischen zischte man, denn es wurde Solo gespielt, Nummer zweiundfünfzig, Erotik“ von Grieg für Violine und Klavier, da mußte man leise sein.Joe haßte dieses Stück. Es schien ihm ein gezuckertes und verlogenes Machwerk zu sein, zwar sagte Klapproth, es hätte auch Qualitäten, aber auch er konnte es auf die Dauer nicht verteidigen.Du gehst nicht, Joe... wir gehen ja bald alle zusammen ... bei mir wollen wir noch ein bißchen feiern... also mach keine Sachen, Joe.“86Als Anni ihm ihre Hand aufs Knie legte, gab er nach. Also schön, er blieb.Schließlich wurde es halb sechs, Bernhard rief nach dem Kellner, und Joe beglich die Rechnung. Draußen war es dunkel und kalt. Joe hatte ein schlechtes Gewissen.Ein Wagen wurde herangeholt, man stieg ein. Vor der Wohnung Bernhards bezahlte Joe wieder.Mein Vater ist nicht da, der kommt erst morgen“, sagte Bernhard zur Erklärung, mein Vater ist verreist.“Oben in der Tölleschen Wohnung war es ziemlich unordentlich. Zwar kam Frau Schmidt aus der ersten Etage täglich zum Aufräumen und kochte auch für Berni mit, aber wenn so ein Junge auch nur drei Tage allein haust, dann sieht es schlimm aus. Eigentlich sollte Berni mitfahren, aber er wollte nicht, und am zweiten Feiertage war Tölle abgedampft, er wollte einen Tag vor Silvester wiederkommen. Die Stube war noch am ordentlichsten, der Tisch sauber und gedeckt fürs Abendessen, das schon in zwei dicken Butterschnitten mit Wurst und Käse in der Küche stand. Das hatte Frau Schmidt besorgt.Ist ja kein Zustand für so 'n Bengel, ohne Mutter, und der Alte ist komisch, reist weg, na, was soll man machen, die heutige Welt.“Frau Schmidt tat, was sie konnte, sie war Witwe und fünfundfünfzig Jahre alt. Sie hoffte immer noch, einmal den Briefträger zu heiraten.Im Wohnzimmer hing ein Bild, eine Photographie von Mutter Luise und Vater Tölle. Luise sah leidend und zart aus. Besorgnis und die Angst der langsam denkenden und lebensunfrohen Menschen lagen in ihrem Blick. Dagegen konnte auch der Hofphotograph Höffert nichts machen. Emanuel sah stattlich aus und zufrieden, das war sein Gesicht, eigentlich aber seine Maske.Als Anni Vater Tölles Bild sah, schrie sie: Nanu, wer ist denn das?“Das ist mein Vater“, sagte Berni.Och ... Mensch ...“, meinte Anni und fing an zu lachen.Es wurde bald gemütlich. Am Weihnachtsbaum, der in der Ecke stand, hing noch einiges Backwerk, Anni fand es sehr gut, Bernhard auch, besonders, da Anni auf seinem Schoß saß und eine sehr dünne Bluse anhatte. Joe starrte auf den Baum, er hatte noch nie vom Weihnachtsbaum gegessen, das war verboten.Berni stand auf: Ich hole Kognak.“Anni legte sich aufs Sofa, sah die Eltern Tölle über sich hängen. Joe ging linkisch in der Stube umher, er fand Anni reizend, aber er hatte Angst, er dachte krampfhaft an Edith.Berni blieb lange draußen, Anni sagte: Na... kleiner Mann... setz dich mal her...“ Joe setzte sich auf die äußerste Ecke des Sofas. Anni lächelte, ihre gesunden, geraden Zähne leuchteten, ihre schlanke Gestalt wälzte sich hin und her. Ihr blondes Haar duftete seltsam, die Hände waren übernatürlich weiß. Anni streichelte Joes Hand, dann zog sie ihn an sich, er spürte ihre feuchten, frischen Lippen und einen Kuß, der ihm den Atem nahm. Aber er küßte noch einmal, er berührte ihre Zunge, die kleine und spitze Zunge...Bernhard stand plötzlich im Zimmer, sagte Pardon“ und entkorkte eine Flasche.Mensch... ich mußte lange suchen, mein Alter hat ja alles ausgesoffen... na, war's schön?“Joe sprang auf: Ich geh jetzt.“Hol lieber ein paar Gläser, Joe, ich hab sie vergessen, du weißt ja, wo sie stehen.“Als Joe aus der Küche zurückkam, war die Tür zum Wohnzimmer abgeschlossen. Moment“, rief Bernhard. Joe war entsetzt.Er war erregt und tief unglücklich. Was sollte er tun? Seinen Hut und Mantel konnte er doch nicht im Stich lassen, die lagen in der Stube. Er setzte sich in die Küche und kam sich vor wie angespuckt.Sein reines, sauberes Leben war vernichtet. Nie mehr würde er Edith wiedersehen können.Joe saß eine Viertelstunde oder noch länger in der Küche und starrte auf den Tisch, wo unter zwei Tellern die Butterbrote für Bernhard bereitlagen. Das Gaslicht flackerte und sang, auf der Straße rasselten die Wagen. Im Stockwerk unter ihm sagte eine Männerstimme: Mensch... das ist doch alles nur provisorisch.“Das Wort provisorisch“ machte der Stimme anscheinend Schwierigkeiten, denn sie wiederholte es sehr artikuliert und deutlich ein- bis zweimal. Joe lachte, er verstand den Witz und den Doppelsinn plötzlich. Ja, dies war provisorisch ... dies alles... dieser Dreck da... diese Gier... das tägliche Sichängsten und Sichquälen, der Triumph Bernhards wie der des Schauspielers Matthias Momber... alles provisorisch. Aber es mußte doch etwas geben, etwas Bleibendes... etwas Ewiges?Die Musik Wagners oder Beethovens oder die unbegreifliche Musik Mahlers... war sie ewig? ... Die Kindertotenlieder“... Nun will die Sonn so hell aufgehen“ ... oder das eine Lied, das Edith so schön sang, obwohl sie es kaum verstand... Ich bin der Welt abhanden gekommen“ ... ja, das war sein Zustand, und ihm kam alles abhanden, auch der Gott seines Großvaters Lewinsky... der jetzt zürnend auf ihn sah, auf den pflichtvergessenen, unverbesserlichen Joe, der in alles glitt, was er nicht wollte... in all den Dreck... pfui... pfui!Joe war in sich versunken, als jemand vor ihm stand, ein großer, starker Mann im dicken Mantel... mit rotem Gesicht und einen leichten Fuselgeruch ausstrahlend.Emanuel Tölle war plötzlich heimgekehrt. Einen Tag früher, als er beabsichtigte. Ihm hatte es bei Wendelken zwar gut gefallen, aber er war sehr beunruhigt um Berni, er konnte zu keiner Freude kommen. Bier und Schnaps gab's reichlich, und auch Gesine war nett und Hermann ... aber ... er hielt das nicht aus. Nun stand er in der Küche, setzte den kleinen Koffer auf den Tisch. Da war doch der kleine de Vries? Nanu ... wo ist Bernhard? Was machst du da...?“ brüllte er plötzlich. Joe stammelte völlig wirres Zeug und stürzte zur Tür hinaus, ohne Hut und Mantel.Tölle ging an die Wohnzimmertür, die war abgeschlossen, da drinnen geschah etwas. Eine Wut packte ihn, er schrie und rüttelte; Bernhard öffnete endlich.Unten auf der Artilleriestraße stand Joe und fror erbärmlich. Wenn er so ohne Hut und Mantel nach Hause käme, was sollten die Eltern denken? Wie spät war es denn? Schon halb acht; jetzt saß man beim Abendessen oder suchte ihn.So konnte er nicht über die Straße. Da kam eine Droschke, hinein! ... Das Portemonnaie steckte zum Glück in der Hosentasche.In der Parkstraße ließ er den Wagen halten, schlich durch den Garten und den Hof ins Haus. Im großen Zimmer unten war Licht, er hörte Stimmen. Er trat leise auf, wie ein Dieb. Da stand Johanna de Vries plötzlich vor ihm. Er konnte kein Wort sagen. |