BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Karl Jakob Hirsch

1892 - 1952

 

Kaiserwetter

 

1931

 

Zweiter Teil

 

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Rotes Wetter

 

Der Rechtsanwalt de Vries saß in der kleinen Frühstücksstube von Mußmann am Bahnhof und trank seinen Sherry. Er war verärgert und zerstreut, hatte Pech gehabt in der Verhandlung, denn sein Klient war verurteilt worden.

„Wollen der Herr Doktor noch einen?“

„Jawoll, Fritz“, sagte er zu dem Kellner, „und irgendwas zu essen...“

Schinkensemmeln lockten verführerisch auf der „kalten Platte“ und Krebsschwänzchen. De Vries blickte etwas zur Tür, gewohnheitsmäßig, wenn er hier saß, dann griff er zu. Das schmeckte! Wenn jetzt der alte Lewinsky hereinkäme?

Er erinnerte sich noch an das erste Mal, an dem er „verbotene Speisen“ gegessen hatte, das war auf einer Ferienreise in Tirol gewesen.

Da war er in ein einfaches Bauernwirtshaus gegangen und hatte einen Teller Suppe bestellt. Das war harmlos, man soll nicht gleich mit Schinken und Austern anfangen, dachte er. Die Suppe war eine kräftige Bouillon, und S. de Vries schlürfte sie behaglich. Der Sommer war kalt, und auf den Bergen lag schon Schnee. Als er den zweiten oder dritten Schluck getan hatte, wurde ihm schwindlig, richtig schwarz vor den Augen... er konnte nicht weiteressen...

Ja, so war das gewesen. Aber heute wurde ihm nicht mehr schlecht, o nein, da kannte er sich schon ganz gut aus in den verbotenen Sachen. Er wußte, wie westfälischer Schinken schmeckte, er kannte den Torfgeruch des niedersächsischen, er wußte portugiesische von holländischen Austern zu unterscheiden, und die amerikanischen blue points verschmähte er durchaus. Draußen marschierten Soldaten vorbei mit Musik und Getöse. Fritz stand am Fenster, sagte nach rückwärts: „Heute ist woll Demonstration, die passen aber schon auf...“

„Ach so, Sie meinen wegen dem Krach im Reichstag? Das wird doch nichts... Bülow hat ja erklärt, daß er scharf zugreifen wird.“

Der Oberkellner Fritz sagte bloß: „Ach der...“

Fritz war nämlich ein Feind der Sozis, und ihm gefiel die schlappe und schwache Haltung der Regierung gar nicht. Die Sache mit dem „Daily Telegraph“, mit dem Interview des Kaisers, hatte Staub aufgewirbelt, nun drohten die Sozialisten mit Demonstrationen.

„Tach, Herr Doktor... Tach... Tach...“

„Na... mal 'nen Happenpappen... Fritz...“

„Tjawoll... Herr Momber...“

Matthias Momber war eingetreten und setzte sich zu dem Rechtsanwalt.

„Nun, Herr Doktor... was halten Sie von der Politik?“

„Ich bin nur ein schlichter Rechtsanwalt... Herr Hofschauspieler...“, meinte S. de Vries und nahm aus seinem Zigarrenetui eine kleine schwarze Zigarre, St. Felix Brasil, bezogen von der Firma Carsten Mende in Bremen, „rauchen Sie, Herr Momber?...“

„Danke, ich bin Zigarettenraucher... übrigens mit dem ,Hofschauspieler' dauert es auch nicht mehr lange, nächste Saison oder spätestens übernächste gehe ich fort. Ich will mal Modernes spielen, nicht immer abwechselnd ,Veilchenfresser' und ,Die Quitzows'! Kennen Sie eigentlich den ,Michael Kramer', Herr Doktor?“

„Nein, von Hauptmann... was?“

„Ja, das ist eine Rolle für mich, aber hier haben sie Angst! Überhaupt will ich Ihnen mal sagen, die Zukunft ist bei den Privatbühnen, die können noch Stücke wagen...“

„Sogar Wedekind“, sagte der Rechtsanwalt.

„Ja, sogar Wedekind... das ist übrigens ein Kerl.“

„So?“ meinte de Vries ungläubig, „so, jetzt sind wir aber nah an der Politik... na prost.“

De Vries trank seinen dritten Sherry, Momber Wermut mit Soda. Es war gleich zwölf Uhr. Die Frühstücksstube füllte sich. Amtsgerichtsrat Kannemacher ging schnell ans Büfett: „Schnell, Fritz... einen Kognak und ein Brötchen“, dann setzte er sich an den Tisch zu dem Rechtsanwalt: „Morgen... Morgen...“

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Kauend sagte er mit wichtiger Betonung: „Heute gibt's Krach, die Sozis wollen's nicht anders.“

De Vries sog an seiner Brasil, nickte nur. Momber schwieg.

„Und, meine Herren“, Kannemacher flüsterte, „der Kaiser hat sich die Sache sehr zu Herzen genommen, soll krank sein, erledigt. Ist das nicht ein Skandal? Wo er doch das Beste will.“

Momber suchte nach einem Zitat, fand aber keines; schließlich sagte er, er hätte da auf der Probe gehört, der Kronprinz solle die Stellvertretung des Kaisers übernehmen, für einige Zeit, aber das sei wohl nur ein Gerücht. Kannemacher erregte sich: „Das kommt von der Nachgiebigkeit... das habe ich immer gesagt... der einzige ist der Oldenburg-Januschau, der hat wenigstens Seine Majestät verteidigt... Bülow war man schwach... noch ein Brötchen, Fritz... nee, mit Wurst... was... na diese Jagdwurst... ich esse erst um vier heute... muß wieder aufs Gericht“, sagte er wie zur Entschuldigung. De Vries schwieg dazu. Seit jenem Tage, an dem er der Majestät vorgestellt wurde, war eine Wandlung in ihm vorgegangen.

De Vries war mit sich uneins, sein Leben war erfolgreich, und er hatte Geld verdient, aber es fehlte irgend etwas, was, konnte er nicht sagen. Was soll man tun? Was soll man glauben? Seit einiger Zeit interessierte ihn der Monismus, aber er hatte Bedenken, so einfach war das doch nicht, wie die guten Leutedachten, so einfach nicht!

Kannemacher wischte sich seinen Schnurrbart, erhob sich: „Ja, meine Herren... wir gehen ernsten Zeiten entgegen.“

De Vries glaubte, das schon einmal gehört zu haben. Er lächelte, als er die kleine und gewichtige Figur des Amtsgerichtsrats verschwinden sah.

„Na ja“, sagte Momber, „es gibt sone und sone...“

Matthias Momber war aufsässig, aber nur anfallsweise. Er lebte in seiner Kunst, liebte das Theater und hatte dafür viel Entbehrungen durchgemacht. Er hatte sich an kleinen Schmieren herumgedrückt und das Elend der Komödianten genau kennengelernt. Ihm konnte man nichts mehr vormachen. Eigentlich war er ein verschütteter Musikant, er spielte Klavier, besonders Wagner, aus dessen Klavierauszügen er meisterlich vortragen konnte. Er gab sogar öffentliche Konzerte damit. Er hatte großen Zulauf, besonders von Damen. Es war auch zu interessant: ein Schauspieler und ein Pianist in einem. Er hatte vor zwei Jahren geheiratet. Eine kleine Schauspielerin im Sommerengagement. In Hannover wußte es niemand. Seine Frau war augenblicklich in Kattowitz engagiert, das war weit weg. Seine Ehe war ebenso geheim wie seine Abstammung, denn Mombers Vater war ein kleiner jüdischer Lehrer in Passau und hieß Levisohn.

Auf der Straße wurde es plötzlich auffallend lebendig. Man hörte Pferdegetrappel und rhythmische Schritte. Fritz, der wieder am Fenster stand, sagte: „Polizei.“

Momber sah auf die Uhr, sagte, er müsse nun gehen, aber als er aufstand, hörte man plötzlich Geschrei auf der Straße, es war ein dumpfes, brandendes Geräusch, dazwischen einige Pfiffe.

Die Herren sahen sich an. Nun wurde es Ernst. Der Wirt kam persönlich aus dem Hinterzimmer gerannt, sagte etwas zu dem Kellner, der mit einer Stange die Schaufensterjalousie zumachen wollte. Zu diesem Zweck mußte er die Tür aufmachen, und in diesem Augenblick brach ein Geheul los, ein Singen und Schreien. De Vries stand auf. „Sie können jetzt nicht gehen, meine Herren“, sagte der Wirt, „die Demonstration kommt die Straße herunter.“

Und wirklich, mit einem Male hörte man Gesang.

„Der Bahn, der kühnen, folgen wir, die uns geführt Lassalle. “

Der Ernst-August-Platz war wie reingefegt von Menschen, nur eine Kette Schutzleute, den Helmriemen um das Kinn, stand am Eingang der Bahnhofstraße. Es waren bleiche, entschlossene Männer, bereit, ihr Leben für den Kaiser hinzugeben, Familienväter und Söhne. Der Gesang wurde stärker und stärker, er brach plötzlich ab und ging in Johlen über. Der Wirt, der Kellner und die beiden Gäste sahen durchs Fenster, wie eine Abteilung berittener Schutzleute in die Bahnhofstraße sprengte. Schreie ertönten, furchtbar und eindeutig.

„Um Gottes willen“, sagte de Vries, „daß so was möglich ist!“

Der Wirt knurrte was von Revolution und Bankerott. Momber rezitierte hämisch: „'In Staub mit allen Feinden Brandenburgs...'“, aber wohl war allen nicht zumute.

Der Zusammenstoß mußte genau bei Cafe Kröpcke erfolgt sein, denn nun sah man verängstigte, verstörte Menschen die Straße herunterjagen. Ein Mann wurde von einem berittenen Schutzmann mit dem Säbel niedergeschlagen. Der Schutzmann ritt hinter ihm her und gab ihm so von oben herab eins auf den Kopf. Da waren auch Frauen, die schrien, aus den gegenüberliegenden Häusern sahen Menschen, die Läden waren schon alle geschlossen. Die friedliche Bahnhofstraße war zum Kampfplatz und Schlachtfeld geworden. Die Polizei griff durch und zersprengte die Demonstranten.

De Vries konnte es nicht fassen. Der Schauspieler kam sich vor wie im Theater, vermißte nur das Stichwort, das ihn zum Auftreten bestimmen sollte.

„Schrecklich... schrecklich“, sagte der Rechtsanwalt.

Der Wirt aber war zufrieden, er sagte, das sei richtig, man müsse den Kerlen zeigen, was es bedeutet, Umsturz zu machen.

Man sah, wie einige Menschen sich bemühten, den auf der gegenüberliegenden Seite der Straße liegenden Mann aufzuheben; schließlich kamen zwei Polizisten und trugen ihn fort, sie kamen über die Straße, dicht an der Frühstücksstube vorbei. Sie trugen einen älteren Mann, der einen Säbelhieb über den Kopf bekommen hatte. Das Blut tropfte dunkel auf den Boden.

De Vries sah das Gesicht, es war blaß und etwas gedunsen. Der Schnurrbart hing über die Lippen. Ihm kam der Mann bekannt vor.

Es war der Briefträger Emanuel Tölle, der an diesem Tage, ohne zu wollen und zu wissen, mitten in die Demonstration geraten war. Er hatte dienstfrei und ging in Zivil aus, war im „Kleinen Pferd“ gewesen und wollte die Georgstraße hinuntergehen. Er war etwas angeheitert und konnte wohl nicht mehr recht unterscheiden; so kam es, daß der königlich preußische Beamte als Revolutionär und Aufrührer niedergeschlagen wurde.

Man brachte ihn zur Bahnhofswache. Er wurde verbunden, aber man ließ ihn ohne weiteres laufen, als er seinen Briefträgerausweis vorzeigte.

Denn das konnte es nicht geben, einen königlich preußischen Sergeanten der Landwehr, zwölf Jahre treu gedient für Kaiser und Reich, als Sozialdemokraten, das war unmöglich!