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- H e i d i ' s L e h r -
u n d W a n d e r j a h r e .
C a p i t e l X I I I .
A m S o m m e r a b e n d
d i e A l m h i n a n .
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[193]
Herr Sesemann stieg in großer Erregtheit die Treppe hinauf und wanderte mit festem Schritt zum Schlafgemach der Dame Rottenmeier. Hier klopfte er so ungewöhnlich kräftig an die Thür, daß die Bewohnerin mit einem Schreckensruf aus dem Schlaf auffuhr. Sie hörte die Stimme des Hausherrn draußen: «Bitte sich zu beeilen und im Eßzimmer zu erscheinen, es muß sofort eine Abreise vorbereitet werden.»
Fräulein Rottenmeier schaute auf ihre Uhr, es war halb fünf des Morgens; zu solcher Stunde war sie in ihrem Leben noch nie aufgestanden. Was konnte nur vorgefallen sein? Vor Neugierde und angstvoller Erwartung nahm sie Alles verkehrt in die Hand und kam durchaus nicht vorwärts, denn was sie einmal auf den Leib gebracht hatte, suchte sie nachher rastlos im Zimmer herum.
Unterdessen ging Herr Sesemann den Corridor entlang [194] und zog mit aller Kraft an jedem Glockenzug, der je für die verschiedenen Glieder der Dienerschaft angebracht war, so daß in jedem der betreffenden Zimmer eine Schreckensgestalt aus dem Bett sprang und verkehrt in die Kleider fuhr, denn Einer wie der Andere dachte sogleich, das Gespenst habe irgendwie den Hausherrn gepackt und dieß sei sein Hülferuf. So kamen sie nach und nach, Einer schauerlicher aussehend als der Andere, herunter und stellten sich mit Erstaunen vor den Hausherrn hin, denn dieser ging frisch und munter im Eßzimmer auf und ab und sah keineswegs aus, als habe ihn ein Gespenst erschreckt. Johann wurde sofort hingeschickt, Pferde und Wagen in Ordnung zu bringen und sie nachher vorzuführen. Tinette erhielt den Auftrag, sogleich Heidi aufzuwecken und es in den Stand zu stellen, eine Reise anzutreten. Sebastian erhielt den Auftrag, nach dem Hause zu eilen, wo Heidi's Base im Dienst stand, und diese herbeizuholen. Fräulein Rottenmeier war unterdessen zurechtgekommen mit ihrem Anzug, und Alles saß, wie es mußte, nur die Haube saß verkehrt auf dem Kopf, so daß es von Weitem aussah, als sitze ihr das Gesicht auf dem Rücken. Herr Sesemann schrieb den räthselhaften Anblick dem frühen Schlafbrechen zu und ging unverweilt an die Geschäftsverhandlungen. Er erklärte der Dame, sie habe ohne Zögern einen Koffer zur Stelle zu schaffen, die sämmtliche Habe des Schweizerkindes hineinzupacken - so nannte Herr Sesemann gewöhnlich das Heidi, [195] dessen Name ihm Etwas ungewohnt war -, dazu noch einen guten Theil von Klara's Zeug, damit das Kind was Rechtes mitbringe; es müsse aber alles schnell und ohne langes Besinnen vor sich gehen.
Fräulein Rottenmeier blieb vor Ueberraschung wie in den Boden eingewurzelt stehen und starrte Herrn Sesemann an. Sie hatte erwartet, er wolle ihr im Vertrauen die Mittheilung einer schauerlichen Geistergeschichte machen, die er in der Nacht erlebt und die sie eben jetzt bei dem hellen Morgenlicht nicht ungern gehört hätte; statt dessen diese völlig prosaischen und dazu noch sehr unbequemen Aufträge. So schnell konnte sie das Unerwartete nicht bewältigen. Sprachlos stand sie immer noch da und erwartete ein Weiteres.
Aber Herr Sesemann hatte keine Erklärungen im Sinn; er ließ die Dame stehen, wo sie stand, und ging nach dem Zimmer seiner Tochter. Wie er vermuthet hatte, war diese durch die ungewöhnliche Bewegung im Hause wach geworden und lauschte nach allen Seiten hin, was wohl vorgehe. Der Vater setzte sich nun an ihr Bett und erzählte ihr den ganzen Verlauf der Geistererscheinung und daß Heidi nach des Doktors Ausspruch sehr angegriffen sei und wohl nach und nach seine nächtlichen Wanderungen ausdehnen, vielleicht gar das Dach besteigen würde, was dann mit den höchsten Gefahren verbunden wäre. Er habe also beschlossen, das Kind sofort heimzuschicken, denn solche Verantwortung [196] könne er nicht auf sich nehmen, und Klara müsse sich dareinfinden, sie sehe ja ein, daß es nicht anders sein könne.
Klara war sehr schmerzlich überrascht von der Mittheilung und wollte erst allerlei Auswege finden, aber es half Nichts, der Vater blieb fest bei seinem Entschluß, versprach aber, im nächsten Jahre mit Klara nach der Schweiz zu reisen, wenn sie nun recht vernünftig sei und keinen Jammer erhebe. So ergab sich Klara in das Unvermeidliche, begehrte aber zum Ersatz, daß der Koffer für Heidi in ihr Zimmer gebracht und da gepackt werde, damit sie hineinstecken könne, was ihr Freude mache, was der Papa sehr gern bewilligte, ja er ermunterte Klara noch, dem Kinde eine schöne Aussteuer zurechtzumachen. Unterdessen war die Base Dete angelangt und stand in großer Erwartung im Vorzimmer, denn daß sie um diese ungewöhnliche Zeit einberufen worden war, mußte Etwas Außerordentliches bedeuten. Herr Sesemann trat zu ihr heraus und erklärte ihr, wie es mit Heidi stehe und daß er wünsche, sie möchte das Kind sofort, gleich heute noch, nach Hause bringen. Die Base sah sehr enttäuscht aus; diese Nachricht hatte sie nicht erwartet. Sie erinnerte sich auch noch recht wohl der Worte, die ihr der Oehi mit auf den Weg gegeben hatte, daß sie ihm nie mehr vor die Augen kommen solle, und so das Kind dem Alten einmal bringen und dann nehmen und dann wiederbringen, das schien ihr nicht ganz gerathen zu sein. Sie besann sich also nicht lange, sondern [197] sagte mit großer Beredsamkeit, heute wäre es ihr leider völlig unmöglich, die Reise anzutreten, und morgen könnte sie noch weniger daran denken, und die Tage darauf wäre es am allerunmöglichsten, um der darauf folgenden Geschäfte willen, und nachher könnte sie dann gar nicht mehr. Herr Sesemann verstand die Sprache und entließ die Base ohne weiteres. Nun ließ er den Sebastian vortreten und erklärte ihm, er habe sich unverzüglich zur Reise zu rüsten; heute habe er mit dem Kinde bis nach Basel zu fahren, morgen bringe er es heim. Dann könne er sogleich wieder umkehren, zu berichten habe er Nichts, ein Brief an den Großvater werde diesem Alles erklären.
«Nun aber noch eine Hauptsache, Sebastian», schloß Herr Sesemann, «und daß Er mir das pünktlich besorgt! Den Gasthof in Basel, den ich Ihm hier auf meine Karte geschrieben, kenne ich. Er weist meine Karte vor, dann wird Ihm ein gutes Zimmer angewiesen werden für das Kind; für sich selbst wird Er schon sorgen. Dann geht Er erst in des Kindes Zimmer hinein und verrammelt alle Fenster so vollständig, daß nur große Gewalt sie aufzubringen vermöchte. Ist das Kind zu Bett, so geht Er und schließt von außen die Thür ab, denn das Kind wandert herum in der Nacht und könnte Gefahr laufen in dem fremden Haus, wenn es etwa hinausginge und die Hausthür aufmachen wollte; versteht Er das?»
«Ah! Ah! Ah! das war's? so war's?», stieß Se[198]bastian jetzt in größter Verwunderung aus, denn es war ihm eben ein großes Licht aufgegangen über die Geistererscheinung.
«Ja, so war's! das war's! und Er ist ein Hasenfuß, und dem Johann kann Er sagen, er sei desgleichen und Alle mit einander eine lächerliche Mannschaft.» Damit ging Herr Sesemann nach seiner Stube, setzte sich hin und schrieb einen Brief an den Alm=Oehi.
Sebastian war verdutzt mitten im Zimmer stehen geblieben und wiederholte jetzt zu öftern Malen in seinem Innern: «Hätt' ich mich doch von dem Feigling von einem Johann nicht in die Wachtstube hineinreißen lassen, sondern wäre dem weißen Figürchen nachgegangen, was ich doch jetzt unzweifelhaft thun würde!», denn jetzt beleuchtete die helle Sonne jeden Winkel der hellgrauen Stube mit voller Klarheit.
Unterdessen stand Heidi völlig ahnungslos in seinem Sonntagsröckchen und wartete ab, was geschehen sollte, denn die Tinette hatte es nur aus dem Schlafe aufgerüttelt, die Kleider aus dem Schrank genommen und das Anziehen befördert, ohne ein Wort zu sagen. Sie sprach niemals mit dem ungebildeten Heidi, denn das war ihr zu gering.
Herr Sesemann trat mit seinem Brief in's Eßzimmer ein, wo das Frühstück bereitstand, und rief: «Wo ist das Kind?»
Heidi wurde gerufen. Als es zu Herrn Sesemann [199] herantrat, um ihm guten Morgen zu sagen, schaute er ihm fragend in's Gesicht: «Nun, was sagst du denn dazu, Kleine?»
Heidi blickte verwundert zu ihm auf.
«Du weißt am Ende noch gar nichts», lachte Herr Sesemann. «Nun, heut' gehst du heim, jetzt gleich.»
«Heim?», wiederholte Heidi tonlos und wurde schneeweiß, und eine kleine Weile konnte es gar keinen Athem mehr holen, so stark wurde sein Herz von dem Eindruck gepackt.
«Nun, willst du etwa Nichts wissen davon?», fragte Herr Sesemann lächelnd.
«O ja, ich will schon», kam jetzt heraus, und nun war Heidi dunkelroth geworden.
«Gut, gut», sagte Herr Sesemann ermunternd, indem er sich setzte und Heidi winkte, dasselbe zu thun. «Und nun tüchtig frühstücken und hernach in den Wagen und fort.»
Aber Heidi konnte keinen Bissen herunterbringen, wie es sich auch zwingen wollte aus Gehorsam; es war in einem Zustand von Aufregung, daß es gar nicht wußte, ob es wache oder träume und ob es vielleicht wieder auf einmal erwachen und im Nachthemdchen an der Hausthür stehen werde.
«Sebastian soll reichlich Proviant mitnehmen», rief Herr Sesemann Fräulein Rottenmeier zu, die eben eintrat; «das [200] Kind kann nicht essen, begreiflicherweise. Geh' hinüber zu Klara, bis der Wagen vorfährt», setzte er freundlich, zu Heidi gewandt, hinzu.
Das war Heidi's Wunsch: Es sprang hinüber. Mitten in Klara's Zimmer war ein ungeheurer Koffer zu sehen, noch stand dessen Deckel weit offen.
«Komm', Heidi, komm'», rief ihm Klara entgegen. «sieh', was ich dir habe einpacken lassen, komm', freut's dich?»
Und sie nannte ihm eine ganze Menge von Dingen, Kleider und Schürzen, Tücher und Nähgeräth, «und sieh' hier, Heidi», und Klara hob triumphirend einen Korb in die Höhe. Heidi guckte hinein und sprang hoch auf vor Freude, denn drinnen lagen wohl zwölf schöne, weiße, runde Brödchen, alle für die Großmutter. Die Kinder vergaßen in ihrem Jubel ganz, daß nun der Augenblick komme, da sie sich trennen mußten, und als mit einem Mal der Ruf erschallte: «Der Wagen ist bereit!» - da war keine Zeit mehr zum Traurigwerden. Heidi lief in sein Zimmer, da mußte noch ein schönes Buch von der Großmama liegen, Niemand konnte es eingepackt haben, denn es lag unter dem Kopfkissen, weil Heidi Tag und Nacht sich nicht davon trennen konnte. Das wurde in den Korb auf die Brödchen gelegt. Dann machte es seinen Schrank auf; noch suchte es nach einem Gute, das man vielleicht auch nicht eingepackt hatte. Richtig - auch das alte rothe Tuch [201] lag noch da, Fräulein Rottenmeier hatte es zu gering erachtet, um noch eingepackt zu werden. Heidi wickelte es um einen andern Gegenstand und legte es zu oberst auf den Korb, so daß das rothe Packet sehr sichtbar zur Erscheinung kam. Dann setzte es sein schönes Hütchen auf und verließ sein Zimmer.
Die beiden Kinder mußten sich schnell Lebewohl sagen, denn Herr Sesemann stand schon da, um Heidi nach dem Wagen zu bringen. Fräulein Rottenmeier stand oben an der Treppe, um hier Heidi zu verabschieden. Als sie das seltsame rothe Bündelchen erblickte, nahm sie es schnell aus dem Korb heraus und warf es auf den Boden.
«Nein, Adelheid», sagte sie tadelnd, «so kannst du nicht reisen von diesem Hause aus; solches Zeug brauchst du überhaupt nicht mitzuschleppen. Nun lebe wohl.»
Auf dieses Verbot hin durfte Heidi sein Bündelchen nicht wieder aufnehmen, aber es schaute mit einem flehentlichen Blick zu dem Hausherrn auf, so, als wollte man ihm seinen größten Schatz nehmen.
«Nein, nein», sagte Herr Sesemann in sehr bestimmtem Ton, «das Kind soll mit heimtragen, was ihm Freude macht, und sollte es auch junge Katzen oder Schildkröten mit fortschleppen, so wollen wir uns darüber nicht aufregen, Fräulein Rottenmeier.»
Heidi hob eilig sein Bündelchen wieder vom Boden auf, und Dank und Freude leuchteten ihm aus den Augen. [202] Unten am Wagen reichte Herr Sesemann dem Kinde die Hand und sagte ihm mit freundlichen Worten, sie würden seiner gedenken, er und seine Tochter Klara; er wünschte ihm alles Gute auf den Weg, und Heidi dankte recht schön für alle Gutthaten, die ihm zu Theil geworden waren, und zum Schluß sagte es: «Und den Herrn Doktor lasse ich tausendmal grüßen und ihm auch vielmals danken.» Denn es hatte sich wohl gemerkt, wie er gestern Abend gesagt hatte: «Und morgen wird Alles gut.» Nun war es so gekommen, und Heidi dachte, er habe dazu geholfen.
Jetzt wurde das Kind in den Wagen gehoben und der Korb und die Provianttasche und der Sebastian kamen nach. Herr Sesemann rief noch einmal freundlich: «Glückliche Reise!», und der Wagen rollte davon.
Bald nachher saß Heidi in der Eisenbahn und hielt unbeweglich seinen Korb auf dem Schooße fest, denn es wollte ihn nicht einen Augenblick aus den Händen lassen, seine kostbaren Brödchen für die Großmutter waren ja darin, die mußte es sorgfältig hüten und von Zeit zu Zeit einmal wieder ansehen und sich freuen darüber. Heidi saß mäuschenstille während mehrerer Stunden, denn erst jetzt kam es recht zum Bewußtsein, daß es auf dem Wege sei heim zum Großvater, auf die Alm, zur Großmutter, zum Gaißen=Peter, und nun kam ihm Alles vor Augen, Eins nach dem Andern, was es wiedersehen werde und wie Alles aussehen werde daheim, und dabei stiegen ihm wieder neue [203] Gedanken auf, und auf einmal sagte es ängstlich: «Sebastian, ist auch sicher die Großmutter auf der Alm nicht gestorben?»
«Nein, nein», beruhigte dieser, «wollen's nicht hoffen, wird schon noch am Leben sein.»
Dann fiel Heidi wieder in sein Sinnen zurück; nur hie und da guckte es einmal in seinen Korb hinein, denn alle die Brödchen der Großmutter auf den Tisch legen, war sein Hauptgedanke. Nach längerer Zeit sagte es wieder: «Sebastian, wenn man nur auch ganz sicher wissen könnte, daß die Großmutter noch am Leben ist.»
«Ja wohl! Ja wohl!», entgegnete der Begleiter halb schlafend; «wird schon noch leben, wüßte auch gar nicht, warum nicht.»
Nach einiger Zeit drückte der Schlaf auch Heidi's Augen zu, und nach der vergangenen unruhigen Nacht und dem frühen Aufstehen war es so schlafbedürftig, daß es erst wieder erwachte, als Sebastian es tüchtig am Arm schüttelte und ihm zurief: «Erwachen! Erwachen! Gleich aussteigen, in Basel angekommen!»
Am folgenden Morgen ging's weiter, viele Stunden lang. Heidi saß wieder mit seinem Korb auf dem Schooß, den es um keinen Preis dem Sebastian übergeben wollte; aber heute sagte es gar Nichts mehr, denn nun wurde mit jeder Stunde die Erwartung gespannter. Dann auf einmal, als Heidi gar nicht daran dachte, ertönte laut der [204] Ruf: «Mayenfeld!» Es sprang von seinem Sitz auf, und dasselbe that Sebastian, der auch überrascht worden war. Jetzt standen sie draußen, der Koffer mit ihnen, und der Bahnzug pfiff weiter in's Thal hinein. Sebastian sah ihm wehmüthig nach, denn er wäre viel lieber so sicher und ohne Mühe weitergereist, als daß er nun eine Fußpartie unternehmen sollte, die dazu noch mit einer Bergbesteigung enden mußte, die sehr beschwerlich und dazu gefahrvoll sein konnte in diesem Lande, wo doch Alles noch halb wild war, wie Sebastian annahm. Er schaute daher sehr vorsichtig um sich, wen er etwa berathen könnte über den sichersten Weg nach dem «Dörfli». Unweit des kleinen Stationsgebäudes stand ein kleiner Leiterwagen mit einem magern Rößlein davor; auf diesen wurden von einem breitschultrigen Manne ein paar große Säcke aufgeladen, die mit der Bahn hergebracht worden waren. Sebastian trat zu ihm heran und brachte seine Frage nach dem sichersten Weg zum Dörfli vor.
«Hier sind alle Wege sicher», war die kurze Antwort.
Jetzt fragte Sebastian nach dem besten Wege, auf dem man gehen könne, ohne in die Abgründe zu stürzen, und auch wie man einen Koffer nach dem betreffenden Dörfli befördern könnte. Der Mann schaute nach dem Koffer hin und maß ihn ein wenig mit den Augen; dann erklärte er, wenn das Ding nicht zu schwer sei, so wolle er es auf seinen Wagen nehmen, da er selbst nach dem Dörfli fahre, [205] und so gab noch ein Wort das andere, und endlich kamen die Beiden überein, der Mann solle Kind und Koffer mit auf seinen Wagen nehmen, und nachher vom Dörfli aus könne das Kind am Abend mit irgend Jemand auf die Alm geschickt werden.
«Ich kann allein gehen, ich weiß schon den Weg vom Dörfli auf die Alm», sagte hier Heidi, das mit Aufmerksamkeit der Verhandlung zugehört hatte. Dem Sebastian fiel eine schwere Last vom Herzen, als er sich so auf einmal seiner Aussicht auf das Bergklettern entledigt sah. Er winkte nun Heidi geheimnißvoll auf die Seite und überreichte ihm hier eine schwere Rolle und einen Brief an den Großvater und erklärte ihm, die Rolle sei ein Geschenk von Herrn Sesemann, die müsse aber zu unterst in den Korb gesteckt werden, noch unter die Brödchen, und darauf müsse genau Acht gegeben werden, daß sie nicht verloren gehe, denn darüber würde Herr Sesemann ganz fürchterlich böse und sein Leben lang nie mehr gut werden; das sollte das Mamsellchen nur ja bedenken.
«Ich verliere sie schon nicht», sagte Heidi zuversichtlich und steckte die Rolle sammt dem Brief zu allerunterst in den Korb hinein. Nun wurde der Koffer aufgeladen, und nachher hob Sebastian Heidi sammt seinem Korb auf den hohen Sitz empor, reichte ihm seine Hand hinauf zum Abschied und ermahnte es noch einmal mit allerlei Zeichen, auf den Inhalt des Korbes ein Auge zu haben; denn der [206] Führer war noch in der Nähe, und Sebastian war vorsichtig, besonders jetzt, da er wußte, er hätte eigentlich selbst das Kind an Ort und Stelle bringen sollen. Der Führer schwang sich jetzt neben Heidi auf den Sitz hinauf, und der Wagen rollte den Bergen zu, während Sebastian, froh über seine Befreiung von der gefürchteten Bergreise, sich am Stationshäuschen niedersetzte, um den zurückkehrenden Bahnzug abzuwarten.
Der Mann auf dem Wagen war der Bäcker vom Dörfli, der seine Mehlsäcke nach Hause fuhr. Er hatte Heidi nie gesehen, aber wie Jedermann im Dörfli wußte er von dem Kinde, das man dem Alm=Oehi gebracht hatte; auch hatte er Heidi's Eltern gekannt und sich gleich vorgestellt, er werde es mit dem viel besprochenen Kinde hier zu thun haben. Es wunderte ihn nun ein wenig, warum das Kind schon wieder heimkomme, und während der Fahrt fing er nun mit Heidi ein Gespräch an: «Du wirst das Kind sein, das oben beim Alm=Oehi war, beim Großvater?»
«Ja.»
«So ist es dir schlecht gegangen, daß du schon wieder von so weit her heimkommst?»
«Nein, das ist es mir nicht; kein Mensch kann es so gut haben, wie man es in Frankfurt hat.»
«Warum läufst du denn heim?»
«Nur weil es mir der Herr Sesemann erlaubt hat, sonst wär ich nicht heimgelaufen.»
[207] «Pah, warum bist du denn aber nicht lieber dort geblieben, wenn man dir's erlaubt hat, heimzugehen?»
«Weil ich tausendmal lieber heim will zum Großvater auf die Alm, als sonst Alles auf der Welt.»
«Denkst vielleicht anders, wenn du hinaufkommst», brummte der Bäcker; «nimmt mich aber doch wunder», sagte er dann zu sich selbst, «es kann wissen, wie's ist.»
Nun fing er an zu pfeifen und sagte Nichts mehr, und Heidi schaute um sich und fing an innerlich zu zittern vor Erregung, denn es erkannte die Bäume am Wege, und drüben standen die hohen Zacken des Falkniß-Berges und schauten zu ihm herüber, so als grüßten sie es wie gute alte Freunde; und Heidi grüßte wieder, und mit jedem Schritt vorwärts wurde Heidi's Erwartung gespannter, und es meinte, es müsse vom Wagen herunterspringen und aus allen Kräften laufen, bis es ganz oben wäre. Aber es blieb doch still sitzen und rührte sich nicht, aber Alles zitterte an ihm. Jetzt fuhren sie im Dörfli ein, eben schlug die Glocke fünf Uhr. Augenblicklich sammelte sich eine Gesellschaft von Kindern und Frauen um den Wagen herum, und ein paar Nachbarn traten auch noch herzu, denn der Koffer und das Kind auf des Bäckers Wagen hatten die Aufmerksamkeit aller Umwohnenden auf sich gezogen, und jeder wollte wissen, woher und wohin und wem Beide zugehören. Als der Bäcker Heidi heruntergehoben hatte, sagte es eilig: «Danke, der Großvater holt dann schon den Koffer», [208] und wollte davonrennen. Aber von allen Seiten wurde es festgehalten, und eine Menge von Stimmen fragten alle auf einmal, jede etwas Eigenes. Heidi drängte sich mit einer solchen Angst auf dem Gesichte durch die Leute, daß man ihm unwillkürlich Platz machte und es laufen ließ, und Einer sagte zum Andern: «Du siehst ja, wie es sich fürchtet, es hat auch alle Ursache.» Und dann fingen sie noch an, sich zu erzählen, wie der Alm=Oehi seit einem Jahr noch viel ärger geworden sei, als vorher, und mit keinem Menschen mehr ein Wort rede, und ein Gesicht mache, als wolle er am liebsten Jeden umbringen, der ihm in den Weg komme, und wenn das Kind auf der ganzen Welt noch wüßte wohin, so liefe es nicht in das alte Drachennest hinauf. Aber hier fiel der Bäcker in das Gespräch ein und sagte, er werde wohl mehr wissen als sie Alle, und erzählte dann sehr geheimnißvoll, wie ein Herr das Kind bis nach Mayenfeld gebracht und es ganz freundlich entlassen habe und auch gleich ohne Markten ihm den geforderten Fahrpreis und dazu noch ein Trinkgeld gegeben habe, und überhaupt könne er sicher sagen, daß es dem Kind wohl genug gewesen sei, wo es war, und es selbst begehrt habe, zum Großvater zurückzugehen. Diese Nachricht brachte eine große Verwunderung hervor und wurde nun gleich im ganzen Dörfli so verbreitet, daß noch am gleichen Abend kein Haus daselbst war, in dem man nicht davon redete, daß das Heidi aus allem Wohlleben zum Großvater zurückbegehrt habe.
[209] Heidi lief vom Dörfli bergan, so schnell es nur konnte; von Zeit zu Zeit mußte es aber plötzlich stille stehen, denn es hatte ganz den Athem verloren; sein Korb am Arm war doch ziemlich schwer, und dazu ging es nun immer steiler, je höher hinauf es ging. Heidi hatte nur noch einen Gedanken: «Wird auch die Großmutter noch auf ihrem Plätzchen sitzen am Spinnrad in der Ecke, ist sie auch nicht gestorben unterdessen?» Jetzt erblickte Heidi die Hütte oben in der Vertiefung an der Alm, sein Herz fing an zu klopfen, Heidi rannte noch mehr, immer mehr und immer lauter schlug ihm das Herz. - Jetzt war es oben - vor Zittern konnte es fast die Thür nicht aufmachen - doch jetzt - es sprang hinein bis mitten in die kleine Stube und stand da, völlig außer Athem, und brachte keinen Ton hervor.
«Ach du mein Gott», tönte es aus der Ecke hervor, «so sprang unser Heidi herein, ach, wenn ich es noch Ein Mal im Leben bei mir haben könnte! Wer ist hereingekommen?»
«Da bin ich ja, Großmutter, da bin ich ja», rief Heidi jetzt und stürzte nach der Ecke und gleich auf seine Kniee zu der Großmutter heran, faßte ihren Arm und ihre Hände, und legte sich an sie und konnte vor Freude gar Nichts mehr sagen. Erst war die Großmutter so überrascht, daß auch sie kein Wort hervorbringen konnte; dann fuhr sie mit der Hand streichelnd über Heidi's Kraushaare hin, und nun sagte sie ein Mal über das andere: «Ja, ja, das sind [210] seine Haare und es ist ja seine Stimme, ach du lieber Gott, daß du mich das noch erleben lässest!» Und aus den blinden Augen fielen ein paar große Freudenthränen auf Heidi's Hand nieder. «Bist du's auch, Heidi, bist du auch sicher wieder da?»
«Ja, ja, sicher, Großmutter», rief Heidi nun mit aller Zuversicht, «weine nur nicht, ich bin ganz gewiß wieder da und komme alle Tage zu dir und gehe nie wieder fort, und du mußt auch manchen Tag kein hartes Brod mehr essen, siehst du, Großmutter, siehst du?»
Und Heidi packte nun aus seinem Korb ein Brödchen nach dem andern aus, bis es alle zwölfe auf dem Schooß der Großmutter aufgehäuft hatte.
«Ach Kind! Ach Kind! Was bringst du denn für einen Segen mit!», rief die Großmutter aus, als es nicht enden wollte mit den Brödchen und immer noch eines folgte. «Aber der größte Segen bist du mir doch selber, Kind!» Dann griff sie wieder in Heidi's krause Haare und strich über seine heißen Wangen und sagte wieder: «Sag noch ein Wort, Kind, sag noch Etwas, daß ich dich hören kann.»
Heidi erzählte nun der Großmutter, welche große Angst es habe ausstehen müssen, sie sei vielleicht gestorben unterdessen und habe nun gar nie die weißen Brödchen bekommen, und es könne nie, nie mehr zu ihr gehen.
Jetzt trat Peter's Mutter herein und blieb einen Augenblick unbeweglich stehen vor Erstaunen. Dann rief [211] sie: «Sicher, es ist das Heidi, wie kann auch das sein!»
Heidi stand auf und gab ihr die Hand und die Brigitte konnte sich gar nicht genug verwundern darüber, wie Heidi aussehe, und ging um das Kind herum und sagte: «Großmutter, wenn du doch nur sehen könntest, was für ein schönes Röcklein das Heidi hat und wie es aussieht; man kennt es fast nicht mehr. Und das Federnhütlein auf dem Tisch gehört dir auch noch? Setz es doch einmal auf, so kann ich sehen, wie du drin aussiehst.»
«Nein, ich will nicht», erklärte Heidi, «du kannst es haben, ich brauche es nicht mehr, ich habe schon noch mein eigenes.» Damit machte Heidi sein rothes Bündelchen auf und nahm sein altes Hütchen daraus hervor, das auf der Reise zu den Knicken, die es schon vorher gehabt, noch einige bekommen hatte. Aber das kümmerte das Heidi wenig; es hatte ja nicht vergessen, wie der Großvater beim Abschied nachgerufen hatte, in einem Federnhut wolle er es niemals sehen; darum hatte Heidi sein Hütchen so sorgfältig aufgehoben, denn es dachte ja immer an's Heimgehen zum Großvater. Aber die Brigitte sagte, so einfältig müsse es nicht sein, es sei ja ein prächtiges Hütchen, das nehme sie nicht; man könnte es ja etwa dem Töchterlein vom Lehrer im Dörfli verkaufen und noch viel Geld bekommen, wenn es das Hütlein nicht tragen wolle. Aber Heidi blieb bei seinem Vorhaben und legte das Hütchen [212] leise hinter die Großmutter in den Winkel, wo es ganz verborgen war. Dann zog Heidi auf einmal sein schönes Röcklein aus, und über das Unterröckchen, in dem es nun mit bloßen Armen dastand, band es das rothe Halstuch, und nun faßte es die Hand der Großmutter und sagte: «Jetzt muß ich heim zum Großvater, aber morgen komm ich wieder zu dir; gute Nacht, Großmutter.»
«Ja, komm' auch wieder, Heidi, komm' auch morgen wieder», bat die Großmutter und drückte seine Hand zwischen den ihrigen und konnte das Kind fast nicht loslassen.
«Warum hast du denn dein schönes Röcklein ausgezogen?», fragte die Brigitte.
«Weil ich lieber so zum Großvater will, sonst kennt er mich vielleicht nicht mehr, du hast mich ja auch fast nicht gekannt darin.»
Die Brigitte ging noch mit Heidi vor die Thür hinaus, und hier sagte sie ein wenig geheimnißvoll zu ihm: «Den Rock hättest du schon anbehalten können, er hätte dich doch gekannt; aber sonst mußt du dich in Acht nehmen; der Peterli sagt, der Alm=Oehi sei jetzt immer bös und rede kein Wort mehr.»
Heidi sagte gute Nacht und stieg die Alm hinan mit seinem Korb am Arm. Die Abendsonne leuchtete ringsum auf die grüne Alm, und jetzt war auch drüben das große Schneefeld an der Cäsaplana sichtbar geworden und strahlte [213] herüber. Heidi mußte alle paar Schritte wieder stille stehen und sich umkehren, denn die hohen Berge hatte es im Rücken beim Hinaufsteigen. Jetzt fiel ein rother Schimmer vor seinen Füßen auf das Gras, es kehrte sich um, da - so hatte es die Herrlichkeit nicht mehr im Sinn gehabt und auch nie so im Traum gesehen - die Felshörner am Falkniß flammten zum Himmel auf, das weite Schneefeld glühte und rosenrothe Wolken zogen darüber hin; das Gras rings auf der Alm war golden, von allen Felsen flimmerte und leuchtete es nieder und unten schwamm weithin das ganze Thal in Duft und Gold. Heidi stand mitten in der Herrlichkeit, und vor Freude und Wonne liefen ihm die hellen Thränen die Wangen herunter, und es mußte die Hände falten und in den Himmel hinaufschauen und ganz laut dem lieben Gott danken, daß er es wieder heimgebracht hatte und daß Alles, Alles noch so schön sei und noch viel schöner, als es gewußt hatte, und daß Alles wieder ihm gehöre; und Heidi war so glücklich und so reich in all der großen Herrlichkeit, daß es gar nicht Worte fand, dem lieben Gott genug zu danken. Erst als das Licht ringsum verglühte, konnte Heidi wieder von der Stelle weg; nun rannte es aber so den Berg hinan, daß es gar nicht lange dauerte, so erblickte es oben die Tannenwipfel über dem Dache und jetzt das Dach und die ganze Hütte, und auf der Bank an der Hütte saß der Großvater und rauchte sein Pfeifchen, und über die Hütte her wogten die alten [214] Tannenwipfel und raschelten im Abendwind. Jetzt rannte das Heidi noch mehr, und bevor der Alm=Oehi nur recht sehen konnte, was da herankam, stürzte das Kind schon auf ihn hin, warf seinen Korb auf den Boden und umklammerte den Alten, und vor Aufregung des Wiedersehens konnte es Nichts sagen, als nur immer ausrufen: «Großvater! Großvater! Großvater!»
Der Großvater sagte auch Nichts. Seit vielen Jahren waren ihm zum ersten Mal wieder die Augen naß geworden, und er mußte mit der Hand darüber fahren. Dann löste er Heidi's Arme von seinem Hals, setzte das Kind auf seine Kniee und betrachtete es einen Augenblick. «So, bist du wieder heimgekommen, Heidi», sagte er dann; «wie ist das? Besonders hoffärtig siehst du nicht aus, haben sie dich fortgeschickt?»
«O nein, Großvater», fing Heidi nun mit Eifer an, «das mußt du nicht glauben, sie waren alle so gut, die Klara und die Großmama und der Herr Sesemann; aber siehst du, Großvater, ich konnte es fast gar nicht mehr aushalten, bis ich wieder bei dir daheim sein könnte, und ich habe manchmal gemeint, ich müsse ganz ersticken, so hat es mich gewürgt; aber ich habe gewiß Nichts gesagt, weil es undankbar war. Aber dann auf einmal an einem Morgen rief mich der Herr Sesemann ganz früh - aber ich glaube, der Herr Doktor war schuld daran - aber es steht vielleicht Alles in dem Brief» - damit sprang Heidi auf den [215] Boden und holte seinen Brief und seine Rolle aus dem Korb herbei und legte Beide in die Hand des Großvaters.
«Das gehört dir», sagte dieser und legte die Rolle neben sich auf die Bank. Dann nahm er den Brief und las ihn durch: Ohne ein Wort zu sagen, steckte er dann das Blatt in die Tasche.
«Meinst, du könnest auch noch Milch trinken mit mir, Heidi?», fragte er nun, indem er das Kind bei der Hand nahm, um in die Hütte einzutreten. «Aber nimm dort dein Geld mit dir, da kannst du ein ganzes Bett daraus kaufen und Kleider für ein paar Jahre.»
«Ich brauch' es gewiß nicht, Großvater», versicherte Heidi; «ein Bett hab' ich schon, und Kleider hat mir Klara so viele eingepackt, daß ich gewiß nie mehr andere brauche.»
«Nimm's, nimm's, und leg's in den Schrank, du wirst's schon einmal brauchen können.»
Heidi gehorchte und hüpfte nun dem Großvater nach in die Hütte hinein, wo es vor Freude über das Wiedersehen in alle Winkel sprang und die Leiter hinauf - aber da stand es plötzlich still und rief in Betroffenheit von oben herunter: «O, Großvater, ich habe kein Bett mehr!»
«Kommt schon wieder», tönte es von unten herauf, «wußte ja nicht, daß du wieder heimkommst; jetzt komm' zur Milch!»
[216] Heidi kam herunter und setzte sich auf seinen hohen Stuhl am alten Platze und nun erfaßte es sein Schüsselchen und trank mit einer Begierde, als wäre etwas so Köstliches noch nie in sein Bereich gekommen, und als es mit einem tiefen Athemzug das Schüsselchen hinstellte, sagte es: «So gut wie unsere Milch ist doch gar Nichts auf der Welt, Großvater.»
Jetzt ertönte draußen ein schriller Pfiff; wie der Blitz schoß Heidi zur Thür hinaus. Da kam die ganze Schaar der Gaißen hüpfend, springend, Sätze machend von der Höhe herunter, mitten drin der Peter. Als er Heidi's ansichtig wurde, blieb er auf der Stelle völlig wie angewurzelt stehen und starrte es sprachlos an. Heidi rief: «Guten Abend, Peter!», und stürzte mitten in die Gaißen hinein: «Schwänli! Bärli! Kennt ihr mich noch?», und die Gaißlein mußten seine Stimme gleich erkannt haben, denn sie rieben ihre Köpfe an Heidi und fingen leidenschaftlich zu meckern an vor Freude, und Heidi rief alle nach einander beim Namen, und alle rannten wie wild durcheinander und drängten sich zu ihm heran; der ungeduldige Distelfink sprang hoch auf und über zwei Gaißen weg, um gleich in die Nähe zu kommen, und sogar das schüchterne Schneehöppli drängte mit einem ziemlich eigensinnigen Bohren den großen Türk auf die Seite, der nun ganz verwundert über die Frechheit dastand und seinen Bart in die Luft hob, um zu zeigen, daß er es sei.
[217] Heidi war außer sich vor Freude, alle die alten Gefährten wieder zu haben; es umarmte das kleine, zärtliche Schneehöppli wieder und wieder und streichelte den stürmischen Distelfink und wurde vor großer Liebe und Zutraulichkeit der Gaißen hin= und hergedrängt und geschoben, bis es nun ganz in Peter's Nähe kam, der noch immer auf demselben Platze stand.
«Komm' herunter, Peter, und sag' mir einmal guten Abend!», rief ihm Heidi jetzt zu.
«Bist denn wieder da?», brachte er nun endlich in seinem Erstaunen heraus, und nun kam er herzu und nahm Heidi's Hand, die dieses ihm schon lange hingehalten hatte, und nun fragte er, so wie er immer gethan hatte bei der Heimkehr am Abend: «Kommst morgen wieder mit?»
«Nein, morgen nicht, aber übermorgen vielleicht, denn morgen muß ich zur Großmutter.»
«Es ist recht, daß du wieder da bist», sagte der Peter und verzog sein Gesicht auf alle Seiten vor ungeheuerem Vergnügen, dann schickte er sich zur Heimfahrt an; aber heute wurde es ihm so schwer wie noch nie mit seinen Gaißen, denn als er sie endlich mit Locken und Drohen so weit gebracht hatte, daß sie sich um ihn sammelten, und Heidi, den einen Arm um Schwänli's, und den andern um Bärli's Kopf gelegt, davonspazierte, da kehrten mit einem Mal alle wieder um und liefen den dreien nach. Heidi mußte mit seinen zwei Gaißen in den Stall eintreten und [218] die Thüre zumachen, sonst wäre der Peter niemals mit seiner Heerde fortgekommen. Als das Kind dann in die Hütte zurückkam, da sah es sein Bett schon wieder aufgerichtet, prächtig hoch und duftend, denn das Heu war noch nicht lange hereingeholt, und darüber hatte der Großvater ganz sorgfältig die sauberen Leintücher gebreitet. Heidi legte sich mit großer Lust hinein und schlief so herrlich, wie es ein ganzes Jahr lang nicht geschlafen hatte. Während der Nacht verließ der Großvater wohl zehnmal sein Lager und stieg die Leiter hinauf und lauschte sorgsam, ob Heidi auch schlafe und nicht unruhig werde, und suchte am Loch nach, wo sonst der Mond hereinkam auf Heidi's Lager, ob auch das Heu noch fest drinnen sitze, das er hineingestopft hatte, denn von nun an durfte der Mondschein nicht mehr hereinkommen. Aber Heidi schlief in Einem Zuge fort und wanderte keinen Schritt herum, denn sein großes, brennendes Verlangen war gestillt worden: es hatte alle Berge und Felsen wieder im Abendglühen gesehen, es hatte die Tannen rauschen gehört, es war wieder daheim auf der Alm.
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