BIBLIOTHECA AUGUSTANA

 

Karl Jakob Hirsch

1892 - 1952

 

Kaiserwetter

 

1931

 

Zweiter Teil

 

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Amselschlag

 

Joe und Edith gingen die Seufzerallee hinunter. Es war ein heller Tag im März. Beklemmende Wärme um vier Uhr nachmittags, betörendes Schluchzen einer Amsel, über die Marschwiesen her.

Die Weiden schimmerten grün; am Ende der Allee war das Wehr, der Wasserfall, der „Schnelle Graben“; Ziel manches Lebensmüden.

„Was ein Mensch wohl denkt, wenn er zum letzten Mal da geht, zum letzten Mal, Edith, kannst du dir das eigentlich vorstellen?“

„Ja, das kann ich mir vorstellen, das ist mir geläufig, ich stelle es mir eigentlich immer vor, bei jedem Gang, bei jedem Genuß; wenn ich aufstehe und mich anziehe, wenn ich esse, trinke, schlafe, wenn ich Beethoven oder Wagner höre, alles wie zum letzten Mal.“

„Nein, Edith, zum ersten Mal... nicht zum letzten Mal... so ist's richtig, so wurde es geschaffen, und so muß man es hören.“

Joe faßte Ediths Hand.

„Ich will nicht denken, daß ich hier vielleicht zum letzten Mal mit dir gehe. Zum allerersten Mal sehe ich dich, deinen Mund, deine Mandelaugen und höre deinen... Spott.“

Edith sah vor sich hin. Sie wußte, was nun kam. Der Ausbruch, die Verzweiflung, das lang zurückgestaute Leid dieses Jungen. Mein Gott, ja, sie liebte ihn, aber er war doch zu jung. Was verstand ein achtzehnjähriger Bengel von einer zweiundzwanzigjährigen Frau.

„Edith... “ – ,,Ja? Lieber Freund.“

Sie wußte, daß dieser Ton zu mütterlich war. Aber sie konnte es nicht ändern. Sie war eben so. Sie brauchte Joe gewiß, aber nur als Freund, alles andere war undenkbar.

Sie waren dem Wasserfall näher gekommen. Von Frühlingsregen angeschwollen, floß der schmale Fluß durch die Wiesen und stürzte das Wehr hinunter mit Getöse. Es war schwer, sein eigenes Wort zu verstehen. Aber Joe redete und redete; vielleicht wollte er nicht gehört werden. Edith stand neben ihm; ob sie etwas verstand, wußte er nicht.

„Edith, du kannst nicht ohne mich sein. Niemals! Du wirst mit mir kommen, wir wollen glücklich sein. Hörst du, Edith, glücklich! Weißt du, was das ist: Wunschlosigkeit. Komm mit mir, Edith, komm, reise mit mir, du sollst Tag und Nacht bei mir sein. Wenn ich die Musik aus meinem Innern aufs Papier schreibe, wenn ich Mahler und Schubert höre, mußt du bei mir sein. Ich liebe dich doch, Edith; weißt du noch, wie wir am Strand lagen, Bruder und Schwester, deine Hand suchte unter dem Sand die meine; oh, und das Meer! ‚Zwei Menschen am Meer.‘ Kennst du das? ‚Wir Welt... WR Wlt... WR Wlt.‘ Dehmel ist doch ein großer Dichter. Edith... liebe Edith! Ich habe ja keinen andern Menschen als dich. Nur du verstehst mich... nur du, Liebste...“

Joe sprach es in die dröhnenden Wasserfluten, und Edith lächelte, sie verstand nicht, was Joe sagte, aber sie wußte es. Nun lösten sich ihre Lippen, auch sie sprach, und Joe lauschte ihren Worten, er verstand sie nicht, aber er ahnte sie.

„Joe, lieber kleiner Freund, ich bin doch eine Frau, eine alte weise Frau gegen dich. Ich habe dich einmal geküßt, verzeih, ich habe mit dir Musik gehört, sei nicht böse, aber ich liebe dich nicht, ich hab dich nur lieb. Wenn du wüßtest, wie viel das ist! Wenn wir zusammenbleiben, dann wirst du mich wegwerfen eines Tages. Ich bin zu alt. Ich stehe vor meinem Leben als alte Frau, aber ich muß durch vieles hindurch, Nächte und Tage, einsame und gemeinsame, es ist dasselbe. Ich will dich nicht unglücklich machen, kleiner Joe, ich muß allein sein und dir aus der Ferne zusehen. Leb wohl, kleiner Joe, wenn du gehst, dann nimmst du meine Jugend mit, das ist sehr viel, Joe, sehr viel! Wenn du fortgehst, wirst du weinen, aber dich trösten. Aber ich werde genommen werden und weggeworfen von rohen und geliebten Menschen, ich weiß es. Aber es ist mein Schicksal. Glaubst du, daß ich Momber mehr liebe als dich, nein, aber er ist ein Mann, ein dummer Mann. Er wird mich nicht heiraten. Joe, nein, hab keine Angst, er hat schon eine Frau, aber er wird mich eines Tages verlassen, und dann will ich hier wieder stehen, hinuntergehen und zu Ende gehen diese Seufzerallee... ohne dich, aber an dich denken will ich... Leb wohl, Joe... sei tapfer... behalt mich lieb.“

Sie streckte die Hand nach Joe aus, der faßte sie, er zog sie an sich, er stöhnte und schrie in das Wasser: „Nein, Edith, ich will nicht gehen“, er fiel an ihr nieder, er küßte ihre Hände, er weinte. Edith streichelte sein Haar, sie neigte sich zu ihm, küßte ihn ganz warm und zärtlich auf den Mund: „Leb wohl, kleiner Freund.“ Das verstand Joe, das begriff er, er schrie in das Tosen: „Nein... nein... ich bleibe, oder du gehst mit... ich stürze mich hinunter ins Wasser... wenn du mich alleine läßt.“

Edith faßte mit einem raschen Entschluß Joes Arm und zog ihn die Allee hinunter. Sie ging schnell. Sie hatte plötzlich Angst vor dem Wasser, vor Joe, vor sich.

Die Sonne war schon fast verschwunden. Es begann kühl zu werden. Joe ging neben ihr her, er redete fortwährend, aber sie hörte kaum hin. Sie fürchtete sich vor dem Abschied.

Sie sagte: „Nimm dich zusammen, die Leute sehen uns.“

Er biß die Zähne aufeinander. Vor ihrem Hause sah er sie lange an, war ganz blaß. Als sie die Treppe hinaufging, wurde sie traurig, fühlte sich alt wie eine Hundertjährige...

Joe erstarrte vor Schmerz und Elend. Sein Gang vom Hause Ediths, die Georgstraße hinunter bis zu Cafe Kröpcke, war ein traumhaftes Schweben. Nichts berührte ihn an diesem Frühlingsabend, nichts kam ihm nahe, da sein Schmerz ihn versteinerte.

Was tönte die Musik in ihm süße Betörung, klagendes Englischhorn, „Tristan“-Akkord und nie gestillte Sehnsucht. Er fühlte sich ohnmächtig und wußte nichts anderes, als daß Edith verloren sei, zerschmolzen in diesem niedrigen Leben, dem sinnlos dunklen Geschick ....

Joe stand vor dem Cafe Kröpcke. Es war halb sieben Uhr auf der Normaluhr. Da waren die jungen Herren und die kleinen Mädchen, abwartend und bummelnd.

Joe ging ins Cafe. Als er einen Augenblick zögerte, sah er den Schauspieler Momber. Der hatte ihm gerade noch gefehlt; Schicksal und Bestimmung!

Momber saß alleine, las die Zeitung. Joe wollte vorbeigehen, da sah der Schauspieler auf: „Hallo... wie geht's? Setzen Sie sich doch.“

Nein, wollte Joe sagen, nein, zu Ihnen setze ich mich nicht; da saß er schon.

„Na, junger Freund... warum so pessimistische Mundfalten?“ versuchte Momber zu scherzen, aber Joe mißverstand ihn.

Er vergaß seine Erziehung und Haltung: „Lieben Sie Edith?“

„Aber bester junger Mann, was berechtigt Sie?“

Momber wurde wütend. Wie kam er dazu, sich hier vor diesem Jüngling zu verantworten. Er spielte nun den erzürnten Jupiter, runzelte die Stirn und befahl mit gemäßigter Befehlsstimme dem Kellner, zwei Chartreuse zu bringen.

„Lieber junger Freund... was Sie mich fragen, ist wahrlich erstaunlich. Sind Sie der Bruder der jungen Dame oder der Bräutigam, haben Sie sonst irgendwelche Rechte? Mich dünkt, Sie betreten da fremdes Gebiet, absolut geheiligtes Privateigentum, so... danke, Herr Matzke, stellen Sie ruhig hin... und nun wollen wir einmal diesen Fall restlos klären. Sie fragen mich hier so mir nichts, dir nichts, ob ich die oder die liebe... ja, da muß ich sagen, daß ich erstaunt bin...“

Es war nicht abzusehen, wann der Schauspieler zur Sache kommen würde. Ernstlich wollte er es auch gar nicht, er dachte nicht daran, er wollte nur aus dieser lächerlichen Situation herauskommen. Der kaum erwachsene Joe de Vries als Ankläger oder Aufpasser, das war ja noch schöner!...

„Herr Momber, verstehen Sie mich nicht falsch, ich rede hier nicht für mich, ich stehe zu der jungen Dame rein freundschaftlich, ich will wissen, ob Sie es ernst meinen, so ernst, wie es Edith verdient, verstehen Sie mich? Ich bin nur ein kleiner Junge, aber Sie sind ein Mann, und ich weiß, daß Sie Ediths Freund sind, ihr Geliebter... und ich kann nichts machen. Aber wenn ich könnte, würde ich Sie erschießen, Herr Momber.“

„So, Herr de Vries, jetzt könnte ich den Schutzmann holen und Sie verhaften lassen, ich könnte auch zu Ihrem Vater gehen, aber das tue ich nicht... ich will Ihnen mal was sagen. Es geht Sie gar nichts an, absolut nichts, was ich tue und treibe, Sie sind ein Jüngling und ich ein alter Mann. Das ist wesentlich. Über Edith mit Ihnen zu reden verbietet mir meine Erziehung, nur so viel, Sie irren sich, wenn Sie glauben, daß ich mit der jungen Dame vertraulicher stehe als Sie, Sie irren sich absolut.“

„Herr Momber‘, Joe atmete erregt, „ist das wahr, wirklich wahr, verzeihen Sie... die Leute reden doch, und warum ist Edith so merkwürdig, so unerreichbar... so...?“

Joe konnte nicht weitersprechen, Hoffnung zog in sein verwirrtes Herz, süße Hoffnung, daß alles nicht wahr sei, daß Edith niemandem gehöre, weder ihm noch Momber, ach, er faßte wieder Mut. Er gab dem verlegenen Schauspieler die Hand: ‚Verzeihen Sie bitte, vergessen Sie das, was ich da vorhin sagte, ich bin etwas verwirrt, und tragen Sie es mir nicht nach... und sagen Sie Edith nichts davon... bitte.“

Momber versprach es.

„Also Schwamm drüber... nicht wahr, und besuchen Sie mich doch mal... wird mich sehr freuen, telefonieren Sie doch mal, ich kann Ihnen neue Bücher zeigen, interessiert Sie doch, was...?“

Joe dankte verwirrt. Er beeilte sich fortzukommen, nach Hause, es war höchste Zeit. Momber erlaubte nicht, daß er seinen Likör bezahlte, nein, absolut nicht.

Als Joe gegangen war, nahm Momber seine Zeitung zur Hand. Verfluchter Bengel, dachte er und nahm sich vor, heute abend noch, wenn Edith zu ihm kommen würde, alles zu erzählen.