Karl Jakob Hirsch
1892 - 1952
Kaiserwetter
1931
Zweiter Teil
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Reisenacht
Die Lokomotive war von der Hannoverschen Maschinenfabrik gebaut, zuverlässig und schnell. Joe stand davor mit Walter Haas. Sie waren in der Bahnhofshalle auf und ab gegangen, hatten geschwätzt; Abreisegerede und sonst nichts. Das sieht doch schön aus... das ist doch eine ganz harmonische Sache... nicht?“Walter lachte: Ich verstehe nichts davon… will auch nicht.“Aber es wird dir nichts anderes übrigbleiben, sicher...“ Doch ich interessiere mich nicht dafür, du übrigens auch nicht, das hat dir nur...“Walter verschluckte den Satz, fast hätte er es ausgesprochen. Er war feige, er war bequem und passiv, er ärgerte sich zwar über Joes Freundschaft mit diesem Schlosserlehrling, aber er war viel zu stolz, um es zu sagen. Nun hatte diese verdammte Lokomotive ihn dazu gebracht. Joe verstand sofort.Ach so, du meinst Bernhard.“ So heißt er wohl...“, sagte Walter spöttisch.Joe brach aus: Davon verstände er auch nichts, gar nichts, er sei eben ein Ästhet, ein Schöngeist und Dichter..., so schimpfte sich Joe in einen Zorn und wußte nur zu gut, daß Walter recht hatte.Joe stand vor der Abreise in das Nordseebad, in das der Vater schon vorausgefahren war. Die Mutter war noch in Hamburg bei ihrem kranken Vater.Walter Haas hatte ihn zum Bahnhof begleitet, da er sonst niemand tat. Sinn des Satzes? Joe war noch acht Tage in Hannover geblieben, da die Ferien erst heute begonnen hatten. In der Wohnung hatte er sich ohne Eltern ganz wohl gefühlt. Die Dienstmädchen sorgten gut für ihn, und das kleine Ding, die Lina, wollte wohl einen kleinen Flirt mit dem Haussohn anfangen. Aber wie Joe eben war, er wollte schon mal das junge Ding in den Arm nehmen, aber er hatte schreckliche Angst. Die kam immer des Morgens ins Zimmer, fragte, ob der junge Herr Kaffee oder Tee oder sonst was wünsche, und ging ganz dicht ans Bett heran. Nun, das war überstanden, dies Problem ist überstanden...Joe redete noch mit Walter hin und her. Ein Ergebnis war nicht zu erzielen. Walter haßte diesen Bernhard, da konnte man nichts machen. Unbegreiflich war es, daß sich Joe von Bernhard tyrannisieren ließ, fast wäre Joe die ganzen Ferien über in Hannover geblieben, nur weil Berni sagte, es sei langweilig, wegzufahren, wo sie doch jetzt alles tun könnten, was sie wollten... Joe aber fuhr an die Nordsee, zu seinen Eltern und zu Edith.Da saß das Kind von siebzehn Jahren in seinem gepolsterten Abteil, der Sohn reicher Eltern, der gute Bürgerssohn und der anständige junge Mann, und las die Briefe Richard Wagners an Mathilde Wesendonck. Die Wirklichkeit erfaßte ihn kaum, er lebte in fremder Leidenschaft, und rings um ihn war alles andere tot.Der Zug fuhr durch die norddeutschen Niederungen und schläferte Joe ein. Er kämpfte dagegen an, er wollte lesen und aus dem Fenster sehen, wie die Lichter auf und ab flogen; er wollte die einsamen nächtlichen Bahnhöfe sehen, den verschlafenen Stationsvorsteher und die schlaftrunkenen Passagiere, die aus dem Zug taumelten. In Nienburg war ein angetrunkener Mann auf dem Bahnsteig, der sang und war sehr fidel. Es war ein Kapitän, der nun wieder auf sein Schiff wollte. Joe hatte Angst, daß der Mann in sein Coupé steigen würde. Es geschah.Der Kellner Fritz Schorling aus dem Hotel Zum Bahnhof“ hatte die undankbare und schwere Aufgabe, den dicken und besoffenen Kapitän Hu?tedt nach Bremen zu bringen, da der alte Seemann es alleine nicht schaffen konnte.Der Kapitän konnte eigentlich weder sitzen noch stehen, man mußte ihn mit dem Kopf nach vorn in den Korridor des D-Zug-Wagens schieben, dabei kommandierte der Kapitän mit unsicherer Stimme: Feste... Fritze“. Endlich taumelte er durch den Korridor, der Schaffner schimpfte und sagte, er würde den Besoffenen nicht mit befördern, aber Käppen Hini drückte dem Beamten ein Fünfmarkstück in die Hand.Is gut so, Herr Feuerwehrmann... is gut so, amüsier dich, min Jung... kannst ok min Dochter heiraten...“Schließlich konnte man den Kapitän nicht an die Luft setzen. Aber daß die beiden gerade in Joes Coupé kamen, war boshafte Tücke. Nun war es aus mit Richard Wagner und Mathilde.Kiek mal...en Doktor...“, sagte der Käppen, als er Joe de Vries bemerkte. Joe lachte etwas geschmeichelt, der Doktor bezog sich wohl auf seine Brille. Aber er hörte bald auf zu lachen, denn der Kapitän beschäftigte sich mit der Hartnäckigkeit eines Betrunkenen immer wieder mit ihm.Kiek... mal, Doktor... kiek mal...!“Laß doch, Hini“, sagte der Kellner, der ganz nüchtern war, laß doch den jungen Mann in Ruhe.“Nee, nee, wieso denn... wie soll ich denn? Wo das doch 'n Doktor is... und ich 'ne Blinddarmentzündung hatte... in Scherrburg, in Scherrburg... tjawoll... da haben se mich operiert... tschawoll, haben se das.“Ja, ja doch Käppen, das glaub ich dir aufs Wort...“Nichts haste zu glauben... hier... is se... hier.“ Der Kapitän begann auf einmal seine Hose aufzuknöpfen und den Bauch bloßzulegen; dagegen konnte selbst Fritz Schorling nichts ausrichten, der kriegte einen Schlag von der Kapitänstatze...Weg da, seg ick, weg da... an Backbord alle Mann...Hoi...!“ brüllte der Biedere und hatte schon seinen behaarten Bauch frei gemacht; man sah richtig eine feuerrote frische Narbe.Joe stürzte zur Tür hinaus. Er war angewidert und unglücklich. Er fühlte sich so elend der Gemeinheit gegenüber. Da stand er am Fenster, der kleine unglückliche Joe! Krampfhaft kommandierte er sich, Musik zu hören, aber er hörte immer nur das Brüllen und Lachen des Kapitäns.Er haßte alles, was die Menschen so Leben“ nannten; er leugnete die Wichtigkeit des gemeinen Alltags, er kannte nur Musik und große, einmalige Menschen an und sonst nichts. Auch die Religion war ihm entglitten, sein rührender Kinderglaube war tot und konnte nicht mehr auferstehen. Er hatte jahrelang gebetet, heimlich oft, in unwürdigen Räumen, weil er den leichten Spott des aufgeklärten Vaters fürchtete, aber eines Tages hatte er dies alles aufgegeben.Der Zug war auf Bahnsteig 2 eingefahren, es war über eine halbe Stunde Aufenthalt. Joe erlebte mit schauderndem Vergnügen, daß der betrunkene Kapitän und der Kellner ausstiegen. Kapitän Hini Hu?tedt sagte, als er an Joe vorbeikam: Klei mi an Backbord“, ein Satz, den Joe kaum verstand, auch wußte man nicht, ob er für Joe bestimmt war. Sicher hatte Kapitän Hini nur seine persönliche Auffassung von den Landratten im allgemeinen und ihren Einrichtungen im besonderen damit ausdrücken wollen.Der Kaffee, den Joe unten im Wartesaal einnahm, gab Lebensfreude. Eine junge Dame an seinem Tisch war ganz aufgeregt und sagte immer wieder zum Kellner, sie hätte doch lemon squash bestellt... ausdrücklich lemon squash... und nicht Zitronenwasser. Der Kellner murmelte was in seinen Schnauzbart, was ungefähr bedeutete: Haste Worte...“ oder so etwas Ähnliches.Die junge Dame war ungefähr zwanzig oder einundzwanzig Jahre alt, ein zartes Gesicht, die Wangenknochen slawisch. Sie war sehr einfach angezogen, mit einem Stich ins Reformkleid, das damals bei den Studentinnen Mode war. Ihre sanfte Stupsnase hatte etwas Sympathisches, die schönen blauen Augen belebten das Gesicht. Die junge Dame sah Joe sehr genau an, ihr gefiel wohl etwas an seinem nachdenklichen und frühreifen Gesicht, sie sagte: Wissen Sie... ob der Zug nach Norddeich auch dritter Klasse hat?“ Ja, Joe wußte es genau, er fuhr selbst zweiter Klasse, aber er hatte es genau gesehen, gewiß doch, ja. Ob er auch mit dem Zug fahre? Ja, er fahre auch. Nun, dann würde er wohl auch rechtzeitig wieder nach oben gehen.Joe las angestrengt die Reklametafeln in dem Wartesaal, von Hillmanns Hotel und vom Norddeutschen Lloyd, sah den Bahnhofsplatz vor den verräucherten Fenstern heller werden, sah auf die lesende junge Dame, die so freundlich mit ihm gesprochen hatte, überlegte, ob er nun nicht einfach auch dritter Klasse weiterfahren sollte. Ihn lockte es, mit dem Mädchen zu sprechen, ihn lockte das Abenteuer, und er wollte auch noch etwas anderes: von Edith loskommen, deren spöttisch-zärtliche Freundschaft ihn in der letzten Zeit mehr bedrückte als erfreute.Einsteigen, in der Richtung... Oldenburg... Leer... Norddeich... .!“ rief ein Mann in den Wartesaal. Man fuhr hoch, man gähnte laut und übermüdet; es herrschte eine trübselige Stimmung.Joe sagte: Erlauben Sie?“ und nahm das kleine Köfferchen der jungen Dame. Er war sehr stolz darüber. An der Sperre zeigte er seine grüne Zweiterklassekarte vor, die junge Dame sah es, nahm ihm dann den Koffer ab, sagte: Danke schön, Sie fahren ja vornehmer als ich“, und ehe er Zeit hatte zu versichern, daß er sehr gern auch Dritter führe, war das Fräulein mit der Handtasche verschwunden...Joe war wütend, ja, so machte er es immer, ohne Geistesgegenwart, ohne Schwung. Berni hätte es anders gemacht, aber die Dame hätte Bernhard Tölle wohl gar nicht beachtet, die war viel zu fein dazu.Es war schon hell, als Joe in sehr schlechter Laune in sein Coupe stieg. Eine alte Dame saß in der Ecke und schlief. Was hätte Joe darum gegeben, wenn es das schöne Fräulein gewesen wäre, aber er wollte sie nachher suchen, tröstete er sich und wußte genau, daß er sich nachher ebenso tölpelhaft und unklug benehmen würde wie eben an der Bahnsteigsperre. Ich hätte ihr gar nicht zeigen sollen, daß ich Zweiter fahre, sagte er sich vorwurfsvoll. Nun war nichts mehr zu ändern.Joe schlief ein, sein Kopf lehnte auf einem kleinen Lederkissen. Er schlief, als der Zug durch die Wiesen und über die Gräben fuhr, in denen der junge Tag sich spiegelte. Er sah nicht die Tiere auf der Weide, die atmenden, kauenden Kühe, er hörte nicht den süßen Gesang der Lerchen, das ewige Trillern des zärtlichen Weltgeistes, sah nicht den Triumphgesang des Lichts über die Finsternis, er schlief...Als er erwachte, näherte der Zug sich schon dem Meere; es war heller Tag, die Sonne schien auf die bunten Wiesen. Joe atmete mit einem Male eine würzige Luft ein, die frisch war und doch etwas merkwürdig Süßes und Herbes zugleich hatte. Geruch von Tang und Muscheln, Geruch von Weite und unendlicher Freiheit.Joe kannte das Meer seit der Kindheit, aber immer wieder wurde er überwältigt und mitgerissen. In Norddeich funkelte die weite unendliche Fläche des Wattenmeeres; das war noch nicht das richtige Meer, aber schon war Joe beglückt und gepackt vom Abenteuer- und Kolumbusgesang des ewigen Rauschens.An der Spitze des kleinen Dampfers stand er und achtete nicht auf seinen Fahrschein, der ihn in die vornehme Klasse am Hinterdeck verwies. Er war zwischen Tauen und allerlei Seegerät versteckt und stammelte Verse und Klänge in den starken und entschlossenen Wind, der durch die flatternden und struppigen schwarzen Haare des Joe de Vries wehte. Und so geschah es, daß er gar nicht mehr darauf achtete, daß dicht hinter ihm die zarte und energische Person stand, das schöne Mädchen, die junge Dame aus dem Bremer Wartesaal, er bemerkte nicht ihren aufmerksamen und freundlichen Blick, er sah nur Wasser und Himmel und hörte Klänge, die von seinem Herzen aufstiegen in den Himmel, die getränkt waren von Schmerz und kindlichem Kummer und jung waren und ungeschickt; klagende Violinen und täppische Bässe, Trauermarsch und Totentanz, Mollklänge aus dem Herzen des Siebzehnjährigen, der noch nichts wußte von der gütigen, zärtlichen Heiterkeit des Lichtes, des ewigen Sieges von Dur über Moll...Auf der Insel erwartete Vater de Vries seinen Jungen; auch Edith war da und rief Joe auf die Erde zurück mit ihrer spöttischen Stimme. |
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