Karl Jakob Hirsch
1892 - 1952
Kaiserwetter
1931
Zweiter Teil
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Das vierte Gebot
Gesine machte wieder eine Fahrt nach Hannover. Das tat sie weniger aus Pietät als aus Vergnügungssucht. Mit ihren vierundzwanzig Jahren hatte sie oft das Gefühl, etwas zu verpassen. So war sie, und dagegen konnte auch Hermann Wendelken nichts machen, der nun als Wirt von Klein-Holland“ ziemlich fest saß, denn der Betrieb mußte erst in Gang kommen.Das Verhältnis zwischen Gesine und Hermann war anders geworden als früher. Seit dem Tode von Cohrs und von Frau Wendelken hatte Gesine ein klein bißchen Angst vor Hermann. Zwar ließ sie sich das nicht merken, aber die Idee, ihn zu heiraten, schlug sie sich immer mehr aus dem Kopf. Sie war wieder einmal soweit, daß sie nicht wußte, was werden sollte.So war es mit Cohrs gewesen, und so war es jetzt. Ihre paar tausend Mark waren richtig auf die Mühle, vielmehr auf den Betrieb Klein-Holland“ überschrieben worden; und so war das Geld, das die Mühle des alten Geffken gebracht hatte, wieder zurückgekehrt an seinen Platz.Klein-Holland“ war ein schönes Etablissement geworden, man kannte es kaum wieder, nur die Mühlenflügel an der Front waren der Rest der einstigen Mühle geblieben. Der Architekt Fabarius hatte seine Phantasie spielen lassen und Thalers Geld, denn Thaler war ja der eigentliche Besitzer des Unternehmens. Gesine haßte Thaler mit der ganzen Kraft ihres Herzens. Sie sah in ihm den Verführer und Zerstörer ihrer Heimat, aber sie dachte nicht daran, daß sie es gewesen war, die eigentlich den Anstoß dazu gegeben hatte, daß man den alten Geffken ins Altersheim brachte und die Mühle verkaufte.Sie war vergeßlich und beschränkt, aber aus diesen Eigenschaften wuchs ihre Kraft.In Hannover besuchte sie zuerst Minna Klußmann im Kleinen Pferd“. Die beiden verstanden sich gut, sie waren einer Ansicht über das Leben, das ihnen nach ihrer Meinung sehr viel schuldete.Minna war etwas erfahrener, sie wußte Bescheid in den irdischen Dingen, sie kannte die Bedürfnisse von Gesine so gut wie die eigenen.Gesine... wir beide brauchen was Festes und was Älteres, so 'n richtigen gesetzten Mann...“Tja... Minna, da hab ich ja meinen Hermann, aber dem trau ich nicht.“ Sie machte dazu ein wichtig-albernes Gesicht, ja, sie wußte mehr als alle anderen, sie war eine Hauptperson, sie konnte sie alle in die Tasche stecken!Gesine gehörte zu jenen Menschen, die ein blutiges Geheimnis ruhig bewahren, als sei es ein Scherz oder ein Vielliebchen, die vielsagend schweigen, aber mit halben Worten morden, die immer heiter und unschuldig tun, aber durch ihr bloßes Dasein auf der Welt Menschen zum Selbstmord treiben können...Gesine ging die Georgstraße hinunter, blieb bei den Auslagen stehen, bog in die Packhofstraße ein, guckte hier und dort hin, nein, was es alles gab! Sie kaufte unnützes Zeug, Rüschen und Bänder, ein Hemd bei Bormaß und Stiefel bei Tack. Sie probierte und probierte, bis die Verkäufer die Geduld verloren. Inzwischen war es fast zwölf Uhr geworden.Nun mal schnell in die Elektrische und zum Altersheim fahren!In der Bahn fiel ihr ein, daß sie ihrem Vater doch etwas mitbringen müsse. Warum dachte sie auch nicht früher daran? In einem verstaubten Geschäft am Misburger Damm kaufte sie endlich ein Paket Oldenkott-Tabak für fünfzig Pfennige.Der alte Geffken war nicht erfreut über den Besuch, er hatte immer noch nicht gelernt, sich in sein Schicksal zu fügen. Der Wärter, Herr Determann, sagte zu Gesine: Tscha, er ißt fast gar nichts und ist immer verärgert... die anderen Männer können nichts mit ihm anfangen, da er nur plattdeutsch spricht, aber nicht hannoversches, sondern Bremer Platt. Nur mit Dirk Tegtmeyer aus Lübberstedt kann er sich vertragen.“Die beiden Alten saßen oft zusammen, redeten unverständliches Zeug, spuckten an die Wand und sagten bei Vorhaltungen langsam und nachdrücklich: Schitambom!“Gesine begrüßte den Vater. Sie sprach natürlich plattdeutsch, aber man merkte ihr an, daß sie es nicht gerne tat. Fine merkwürdige Atmosphäre von Haß und Neid erfüllte die Luft des Altmännerheims. Es war so, als ob bei diesen Greisen die wahre Natur herauskäme. Alle stänkerten sie gegeneinander und schwärzten sich an.Der macht ja immer in die Hose, Herr Determann“ sagte ein zahnloser, mit dem Kopf wackelnder Bettnässer und wendete sich empört ab. Schweinerei verfluchte“, brummte ein anderer, der eine triefende Nase hatte.So waren diese noch nicht Gestorbenen und nicht mehr Lebendigen, so vegetierten sie in den Tag, und nachts röchelten sie und stöhnten zum Gotterbarmen. Immer wurde gefuttert, immer hatte man zu klagen; immer bekam Krischan mehr als Heini: Heinis Bett war weicher als Krischans. Der Leib, der gebrechliche wurde argwöhnisch beobachtet, man verlangte Pillen und Pulver zum Verstopfen und Abführen und für beides auf einmal...Es roch nach Urin und Caritas in dem Hause Misburger Damm hundertsiebenundachtzig.Die Kinder oder Verwandten, die an den Besuchstagen in die freundlichen, aber kalt-praktischen Räume des Altersstiftes kamen, mit Blumen oder Tabak oder Schokolade, wurden meistens von den Insassen wie Verbrecher behandelt. Da saßen sie nun unglücklich und schuldbeladen am Bett oder am Rollstuhl ihres Vaters oder Schwiegervaters und sahen verstohlen auf die Uhr, ob es nicht endlich Zeit wäre, aufzubrechen. Scheinheilig wurden die Wärter und der Arzt ausgefragt, bei den meisten Angehörigen zitterte unbewußt die Hoffnung auf Erlösung von diesen lästigen Angehörigen in der Stimme, wenn man sich nach dem Befinden erkundigte.Hier saßen die Zukurzgekommenen, die Ewigwartenden des Schicksals. Die Belohnung ihres mühseligen Lebens bestand in einem unfreundlich möblierten Zimmer, in schlechtem Essen und argwöhnischer Fürsorge. Nun rächte man sich dadurch, daß man allen Haß und die enttäuschte Hoffnung in Galle verwandelte und damit dem Schicksalsgefährten das Dasein verbitterte.Vater Geffken kam sich vor wie ein Schiffbrüchiger, wie ein Deportierter, der nicht weiß, was er eigentlich verbrochen hat. Seine schöne Mühle klapperte noch immer in seinen Träumen, und er fuhr oft mit lautem Schrei aus dem Schlafe. Er vergaß den häßlichen Morgen nicht, an dem seine Tochter ihn unter scheinheiligen Versprechungen herausgelockt hatte. In seinem Herzen wuchs eine dumpfe Wut, und er hatte noch Körperkräfte genug, um sich zu wehren. Die sollten nur sehen!...Gesine saß im Zimmer des Vaters und wußte nicht, womit sie die Zeit totschlagen sollte. Der Alte saß im Lehnstuhl und sah sie an. Mit kaltem und feindlichem Blick, sagte kein Wort. Er hatte sich geschworen, nicht mehr mit seiner Tochter zu reden. Das Gespräch war sehr einseitig.Brauchst du Wäsche...?“Keine Antwort.Wie geht es deinem Beine?“Keine Antwort.Als Gesine in schwarzer Kleidung erschien, wegen der Frau Wendelken, sagte Geffken hämisch: Is hei dot...?“Er meinte Cohrs, der damals noch frisch und lebendig war und in seiner roten Mütze die Züge abfertigte, an Gesine und eheliches Glück dachte, und nicht an den Tod.Nun war Cohrs tot, und Gesines Schwarz hatte doppelte Bedeutung. Aber sie sagte nichts davon und nichts von Klein-Holland“.Um zwei Uhr ging Gesine fort, atmete erleichtert auf, als sie wieder auf der Straße war. Ihr Zug ging erst um sechs Uhr zweiunddreißig.Da ging sie in die Artilleriestraße zu Emanuel Tölle. Er war nicht zu Hause, er hatte Dienst. Frau Schmidt sah sie sehr mißtrauisch und eifersüchtig an, schmiß ihr die Tür vor der Nase zu, als sie fragen wollte, wann der Briefträger wieder nach Hause käme.Als sie die Straße hinunterging, traf sie Tölle. Die Freude beiderseitig war groß. Zwar war Emanuel etwas gealtert und sah überhaupt nicht gut aus, aber Gesines mütterlicher Instinkt erwachte sofort. Sie ging mit ihm nach Hause und kochte ihm Kaffee. Währenddessen horchte Elise Schmidt, schlich die Treppen hinauf und kam gerade ins Zimmer, als Gesine auf Tölles Schoß saß. Da gab es nun den lang erwarteten Krach; Elise hatte trotz ihres Fundes noch immer gezögert, dem Briefträger zu entsagen, aber hier erwischte sie ihn ja geradezu in flagranti. Sie stellte sich in Positur und machte ihrem Herzen Luft. So was ginge sie ja nichts an, aber sie wüßte, was für ein Mensch der Briefträger sei, und überhaupt hätte sie genug, und er solle sich man 'ne andere Putzfrau besorgen...Gesine zog es vor zu schweigen, und Tölle kam gar nicht zu Worte. Das war nun eine schöne Geschichte! Gesine wußte auch keinen Rat. Sie meinte, er solle sich doch versetzen lassen, aber davon wollte Tölle nichts wissen, nein, solange sein Junge hier sei, ginge das keinesfalls. Gesine redete ihm zu, sich um eine Stelle in ihrer Nähe zu bewerben, der alte Briefträger sei krank und krüppelig, und vielleicht würde es glücken. Er könnte dann in der Nähe von Freunden leben, hier wär das ja kein Leben. So redete Gesine, sie hatte Mitleid und auch etwas mehr. Sie wollte Tölle gern in ihrer Nähe haben. Sie empfand keine Liebe zu ihm, aber sie wollte ihn als Beschützer.Ja, das war es. Beschützt wollte sie werden, vor sich und vor Hermann und vor etwas Unbekanntem, das bald kommen würde und sie bedrohen.Tölle brachte Gesine an den Bahnhof. Ihm war der Gedanke, von Hannover wegzugehen, fremd und unheimlich. Aber Gesine erzählte so viel Schönes von Klein-Holland“ und von Freundschaft und Fürsorge, daß er schwankend wurde.Vom Bahnhof ging er ins Kleine Pferd“, von dort zu Schmidtchen. Die freute sich sehr. Aber Tölle nahm das alles hin, gleichgültig und zerstreut. Bei Schmidtchen war auch noch ein Herr, der sehr befreundet schien. Er hieß Gottlob Rilling, ein komischer Name. Der Herr war Reisender für eine Firma in Hamburg, Zigarrenreisender. Er bot Tölle gute und preiswerte Zigarren an, aber Tölle dankte. Da Gottlob Rilling nicht ging, machte sich Emanuel davon, Schmidtchen begleitete ihn an die Tür, gab ihm einen Kuß und sagte, er solle doch morgen abend kommen, da sei sie ganz allein.Tölle sagte unbestimmt zu, wußte aber, daß er nicht mehr hingehen würde. Niemals mehr, dachte er, denn er hatte nun beschlossen, morgen mit dem Vorsteher wegen der Versetzung zu sprechen. |